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Geschichte: Das ungelöste Welträtsel

Frida von Uslar-Gleichen und Ernst Haeckel Briefe und Tagebücher 1900-1903
Wallstein, Göttingen 2000. 3 Bände, insgesamt 1341 Seiten, DM 98,-


Der Zoologe und Naturphilosoph Ernst Haeckel (1834-1919) hat die Namen zweier geliebter Frauen in den wissenschaftlichen Namen von ihm klassifizierter Quallen verewigt. Eine Schirmqualle heißt Desmonema Annasethe nach seiner ersten Frau Anna Sethe und eine Scheibenqualle Rhopilema Frida nach seiner Geliebten Frida von Uslar-Gleichen.

Hinter dem zweiten Namen verbirgt sich eine spannende Episode der Wissenschaftsgeschichte. Um 1900 verlieben sich der umstrittene weltberühmte Forscher, der an der Universität Jena lehrt und in der Villa Medusa mit seiner zweiten Frau Agnes Huschke verheiratet lebt, und die dreißig Jahre jüngere Adelige Frida von Uslar-Gleichen (1864-1903) aus einem verarmten Geschlecht, das in der Nähe von Göttingen ansässig ist. Für Haeckel belebt Frida aufs Neue die Erinnerung an seine 1864 früh gestorbene erste Frau.

Eine verstümmelte Ausgabe des vorliegenden Briefwechsels war bereits in der Zwischenkriegszeit eine Sensation. Aus den mehr als 400 Briefen, die sich die Liebenden sendeten, versuchten die Erben des Forschers Kapital zu schlagen, indem sie einzelne Dokumente in dem Briefroman "Franziska von Altenhausen" publizierten und so das tragische Ende dieser Beziehung publizistisch ausschlachteten. Denn Frida von Uslar-Gleichen nahm sich im Dezember 1903 mit einer Überdosis Morphium das Leben, während sich Haeckel mit seiner Ehefrau an der Riviera aufhielt.

Der Wert der intimen Schriftstücke liegt jedoch nicht in dem Skandalgeruch, sondern in den Einblicken, die er in eine konfliktreiche Debatte unter den Liebenden gewährt: Muss die menschliche Seele ein Rätsel bleiben, oder ist sie als ein Produkt der Evolution erklärbar? Daran anknüpfend bedenken sie, ob die Entwicklung ihrer Empfindungen auch einen Plan bereit hält, um die Symbiose ihrer Seelen zu fördern.

Doch die unterschiedlichen sozialen Kräfte im Leben des Forschers und der Autodidaktin stehen dagegen: Haeckel ist dem Klerus sowie dem Adel, dem Frida von Uslar-Gleichen angehörte, als "Monist" verhasst. Der Biologe spricht nicht nur dem Menschen eine Seele zu, sondern vertritt die Auffassung, dass sogar Kristalle und Badeschwämme damit begabt seien. Er hält eine harmonische "Durchseelung" der Evolution und eine Übereinstimmung von Goethes Naturphilosophie und Darwins Evolutionstheorie für möglich. Haeckels Eintreten für den Monismus macht ihn zu einer Art Heiligen in den Augen seiner Anhänger, die ihn sogar 1904 in Rom zum Gegen-Papst ausrufen.

Während Haeckel 1898 im Alter von 64 Jahren das Tafelwerk "Kunstformen der Natur" und die populäre Schrift "Die Welträthsel" vorbereitet, bittet ihn die Dame im Alter von 34 Jahren um Hilfe beim Selbststudium der Biologie und insbesondere beim Verständnis der Abstammungslehre. Haeckel schickt ihr daraufhin großzügig Bücher und anschauliche Tafeln, die er bereitwillig erklärt. Nach ersten persönlichen Treffen im Juni des darauf folgenden Jahres beginnt Frida von Uslar-Gleichen, die Korrekturbögen der "Welträthsel" zu lesen, und macht Verbesserungsvorschläge, die auch ihr Zusammensein betreffen. Haeckel beansprucht, mit diesem Buch die Entstehung des Bewusstseins erklären zu können, und glaubt auch, dass sich seine Regungen für die Geliebte in den Bahnen der Evolutionstheorie bewegen. Er schreibt am 19. Juli 1899: "Ist es nicht seltsam, wie oft in den sechs glücklichen Tagen unseres Beisammenseins in Jena (noch mehr in den 4 letzten, als den 2 ersten) unsere Gedanken gleichzeitig sich im Denkorgan entwickelten, und gleichzeitig in derselben Form ausgesprochen wurden?"

Frida von Uslar-Gleichen prüft als verständige Leserin Haeckels Theorie des Gemüts, die er im 7. Kapitel der "Welträthsel" formuliert, und überträgt sie auf das gemeinsame Erleben in einem Brief vom 1. Oktober 1899: "Wenn Sie behaupten, dass ,alle die zahlreichen Äußerungen des Gefühlslebens, welche wir beim Menschen finden, auch bei den höheren Tieren vorkommen?, so will mir das etwas rätselhaft erscheinen u. nur sehr bedingt anzunehmen ? Die Leidenschaft, die in ?den Ganglienzellen der Grosshirnrinde ihren Sitz hat? – macht mich herzlich lachen ? Unsere bösen! Ganglienzellen – Was haben sie uns alles angethan! Sollten sie nicht auf operative Weise zu entfernen sein?" Haeckels Antwort darauf ist nicht erhalten.

Während sie auf dem Gut der Familie bleibt, versucht er, durch ein ungeheures Arbeits- und Reisepensum seine Regungen für sie zu bändigen. Zunächst hat er eine gemeinsame Flucht in die Südsee in Aussicht gestellt, dann auf den baldigen Tod seiner zweiten Frau gehofft, der ihm gestattet hätte, seine Geliebte zu ehelichen; schließlich findet er sich mit der dauernden Trennung ab.

In den Briefen wird die gewaltige Lebensleistung Haeckels als Huldigung an die "Mutter Natur" lesbar, die Disziplin und Leidenschaft fordert. Haeckel war davon überzeugt, dass sich eine wissenschaftliche Betrachtung der Natur mit einem ehrfürchtigen Empfinden und Bewahren ihrer Schönheit vereinbaren lasse. Diese Überzeugung bewunderte Frida von Uslar-Gleichen, und das vereinte auch beide in ihrem Gedankenaustausch. Unvereinbar waren hingegen die Sprache des Gefühls und der Alltag des Forschers, der in einem Netz von wissenschaftspolitischen Beziehungen gefangen war und deshalb die geliebte Frida von Uslar-Gleichen nicht aus dem Geflecht von literarischen Bezügen befreien konnte, in dem sie verzweifelt Halt in ihrem ohnmächtigen Verlangen suchte.

Anfangs lenkt sie souverän die Gefühlsausbrüche des Geliebten, der sie nach dem ersten persönlichen Treffen bestürmt. So beschwichtigt sie ihn, indem sie Goethe als sittsames Vorbild darstellt, der ebenfalls eine adelige Dame liebte, mit der er nicht vereint leben konnte. Doch die Anspruchnahme dieses und anderer literarischer Vorbilder erweist sich als tückisch. Denn sie verstärkt die ohnehin vorhandene Trennung des Alltags von der Welt der Zeichen, die beide in den Briefen gestalten und die auch die wenigen Momente ihres Zusammenseins überformt.

Ihre persönlichen Treffen wirken inszeniert. Haeckel arrangiert ihr Zusammensein nach literarischen und künstlerischen Vorbildern. Weite Passagen ihrer Briefe sind mit Zitaten aus Briefwechseln und Liebesgeschichten gestaltet. Zuweilen unterschreibt Haeckel als "Wolfgang" von Goethe Briefe, in denen er Frida als Charlotte von Stein anspricht. Diese Stilisierungen nimmt sie auf und überbietet sie im Laufe der Monate.

Haeckel ist ein für seine Zeit sehr moderner Wissenschaftler. Er nutzt beispielsweise ausgiebig die neuen technischen Mittel wie die Eisenbahn zur Überwindung von Entfernungen oder das Mikroskop zur Überbrückung von Größenunterschieden. Aber die Diskrepanz von Gefühl und sozialer Vernunft kann er nicht überwinden; das ist unter den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen unmöglich.

Norbert Elsners Edition ist vorbildlich, da er die Briefe in zwei Bänden gut lesbar präsentiert und dabei wissenschaftliche und historische Bezüge herstellt. Im dritten Band publiziert er neben weiteren Dokumenten einen Anhang, der das Umfeld und den Wirkungskreis Haeckels einsichtig werden lässt. So findet sich dort eine Kritik an Haeckels Eintreten für die Euthanasie, und zwar durch Georg II., Herzog von Thüringen-Meiningen. Im kommentierten Personenregister wird auch eine ergänzende Perspektive auf die zweite Ehefrau Haeckels entwickelt. Während Haeckel sie in den Briefen stets als kränklich und nur bedingt zurechnungsfähig darstellt, erscheint sie hier als liebenswerte Mutter der gemeinsamen Kinder. Die Edition füllt auch die Lücke, die durch die längst vergriffene Biografie Haeckels von Erika Krauße entstanden ist.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2001, Seite 103
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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