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Das verschwundene Kamel

Wie Ali der Barbier mit Hilfe diophantischer Gleichungen das letzte große Rätsel im Leben des Beduinenscheiches Mustafa zu dessen Zufriedenheit lösen konnte.

Der Beduinenfürst Mustafa Ibn Muchta hatte seinen kleinen Stamm – Allah sei Dank – erfolgreich gegen den brutalen Überfall eines Nachbarstamms verteidigt. Aber im Kampf war er auf den Tod verwundet worden und hatte das Bewußtsein verloren. Ali der Barbier, sein Freund aus Kindertagen, pflegte seine Wunden und trug ihn durch die Wüste zurück ins Lager.

Mustafa erwachte, umgeben von seinen Frauen, Söhnen, Töchtern und Enkeln. „Gelobt sei Allah, ich lebe noch. Aber ich muß zurück in den Kampf.“ Er konnte kaum seinen Kopf heben.

„Bitte ruhe dich aus, großer Muchta“, bat ihn seine erste Frau inständig und reichte ihm Wasser aus einem Ziegenlederbeutel. „Du hast deinen Stamm zum Sieg geführt. Wie fühlst du dich?“

„Als wären tausend Kamele über mich hinweggetrampelt“, stöhnte Mustafa. „Wer hat mich errettet?“

„Ali der Barbier.“

„So bringt ihn schnell zu mir.“

Sein erster Sohn machte sich auf, Ali zu holen. Der schnitt emsig wie immer die Bärte genau derjenigen Beduinen, die das nicht selber erledigten, und verbrachte Stunden um Stunden grübelnd über der Frage, wer wohl seine eigene Haarpracht pflegen müßte: er selbst oder der Barbier. Als er hörte, daß Mustafa sein Bewußtsein wiedererlangt hatte, eilte er, ihn aufzusuchen.

Er betrat Mustafas Zelt. „Salaam aleikum. Du siehst schon viel besser aus.“

„Aleikum salaam. Dank deiner und Allahs Hilfe konnte ich meine Familie noch einmal sehen. Doch bin ich tödlich verwundet und liege im Sterben.“ Er winkte seinem protestierenden Freund ab. „Du brauchst mir nichts vorzuheucheln. Ich will mit dir besprechen, wie ich meinen Reichtum unter meine drei Söhne aufteilen soll. Ich liebe sie alle sehr, aber sie sind manchmal schwer von Begriff. Bevor sie etwas erben, sollten sie deshalb ihre geistigen Fähigkeiten unter Beweis stellen.“

Ali schaute ziemlich ratlos drein.

„In meinem Besitz ist eine arithmetische Abhandlung, die angeblich von dem großen Al-Hwarizmi selbst über die Generationen auf mich gekommen ist.“

„Was, von dem großen Gelehrten, der im 9. Jahrhundert am Hofe des Kalifen von Bagdad jene berühmten Schriften über Algebra, Arithmetik und Astronomie verfaßte...“

„...von denen die ungebildeten Ungläubigen noch jahrhundertelang zehrten“, ergänzte Mustafa ungeduldig. „Die Schrift berichtet von einem reichen Kaufmann, der 17 Kamele besaß. Er verfügte, daß nach seinem Tod sein ältester Sohn die Hälfte, sein zweiter ein Drittel und sein dritter Sohn ein Neuntel von ihnen erhalten sollte.“

„Ich entsinne mich an so ein Scherz-rätsel. Natürlich ist es Unfug, dem Ältesten achteinhalb Kamele zu vermachen.“

„Und dem Jüngsten eines und acht Neuntel. Aber es gibt eine geniale Lösung des Problems“, versetzte Mustafa.

„Ich erinnere mich. Ein weiser Mann stellt sein eigenes Kamel dazu, so daß es nun 18 sind. Von diesen nimmt der älteste Sohn die Hälfte, das sind neun Kamele, der zweite ein Drittel, also sechs, und der jüngste ein Neuntel, also zwei Kamele. Das macht zusammen 17 Kamele. Der Weise nimmt sein Kamel wieder mit, und alle sind zufrieden.“

„Wenigstens denkt das jeder. Die Psychologie dieses Rätsels ist fast so interessant wie seine Mathematik.“

„Und du glaubst, deine hoffnungsvollen Söhne finden die Lösung des Rätsels, ohne Weisen und ohne Zusatzkamel?“

„Ach, der Weise ist nicht unbedingt erforderlich. Und meine Söhne sind habgierig. Wenn es darauf ankommt, laufen sie meilenweit für ein Kamel.“

„Aber du besitzt mehr als 17 Kamele.“

„In der Tat. Allah hat mich mit 39 Kamelen gesegnet. Und ich habe meinem Vater am Totenbett versprochen, niemals eines zu verkaufen. Es ist also nicht möglich, ihre Zahl auf 17 zu verkleinern. Aber es wäre nicht schwer, bei Bedarf noch einige weitere Kamele zu kaufen. Ich habe dich rufen lassen, weil ich deinen Rat suche. Ich weiß nicht, ob es überhaupt drei andere Zahlen gibt, mit denen man ein solches Rätsel stellen könnte.“

„Du könntest alles mit drei malnehmen“, sagte Ali. „Das wären 51 Kamele und dieselbe Aufteilung.“

Mustafa nickte und verzog das Gesicht vor Schmerzen. „Daran habe ich auch schon gedacht, Ali. Aber dann müßte der Weise drei Kamele mitbringen. Das ist nicht elegant. Ich hatte vor, jedem Sohn einen gewissen Bruchteil vom Ganzen zuzuweisen, so daß sich die Teilung durch Hinzufügen und anschließendes Wegnehmen von nur einem zusätzlichen Kamel lösen läßt.“

Ali lehnte sich zurück und lächelte. „Mit Zahlen, Mustafa, habe ich mich schon immer gern beschäftigt. Ich frage mich...“ Er starrte eine Weile ins Leere. „Es gibt vielleicht eine Möglichkeit. Aber erst müssen wir verstehen, wie der ursprüngliche Trick funktioniert.“

„Ich gebe zu, ich stehe vor einem Rätsel“, erwiderte Mustafa. „Das verflixte Kamel taucht auf und verschwindet wie ein Geist aus einer defekten Wunderlampe.“

Ägyptische Brüche

„Es muß mit einer besonderen Eigenschaft dieser Brüche zu tun haben“, sagte Ali. „Wären es zum Beispiel nur 12 Kamele gewesen und hätte der Vater seinen Söhnen die Hälfte, ein Drittel und ein Sechstel zugesagt, dann hätte der älteste Sohn sechs Kamele, der zweite vier und der jüngste zwei bekommen. Dann hätte man kein zusätzliches Kamel gebraucht... Aha! Die drei Brüche dürfen sich nicht zu 1 addieren. Denn sonst ließen sich alle Kamele glatt verteilen und keines bliebe übrig. Mal sehen. Was ist die Summe von 1/2, 1/3 und 1/9 ?“

„Ah, 17/18", sagte Mustafa. „Natürlich! Die Söhne erben nur 17/18 der Gesamtzahl aller Kamele. Wenn es zusammen 17 Kamele sind, dann geht die Teilung der Herde nicht auf. Aber wenn es zusammen 18 sind, dann kann jeder seinen Anteil an den 18 Kamelen bekommen, und eines bleibt übrig.“ Plötzlich kam ihm ein Gedanke. „So weise war der Weise wohl doch nicht. Er hat niemanden darauf hingewiesen, daß die Brüche sich nicht zu eins addieren.“

„In diesem Schweigen lag seine tiefste Weisheit“, erwiderte Ali. „Der Trick funktioniert, weil die Summe der drei Anteile einen Bruch ergibt, dessen Nenner um 1 größer ist als sein Zähler. Der Zähler ist hier 17 und der Nenner 18.“ Er grinste breit. „Es gibt viele solche Brüche. Nimm (d–1)/d mit irgendeiner natürlichen Zahl d... Ich hab’s! Du hast 39 Kamele, nicht wahr?“

„Ja.“

„Dann müssen wir nur Brüche wählen, deren Summe 39/40 ergibt“, sagte Ali. „Vielleicht 1/2, 1/4 und 9/40...“

Sein Triumph erstarb unter Mustafas mißbilligendem Blick. „Das ist nicht einfach genug, Ali. Jeder Bruch sollte ein Irgendwastel sein. Ein Drittel, oder ein Neunzehntel. Nicht so etwas Krummes wie neun Vierzigstel.“

„Aha. Du verlangst...“

„...daß die Zähler gleich 1 sind.“

„Kurz, du suchst eine Lösung der Gleichung 1/a+1/b+1/c=(d–1)/d in natürlichen Zahlen. Das heißt, die Zahl (d–1)/d soll sich als Summe dreier Stammbrüche ausdrücken lassen. Die Ägypter pflegten häufig Brüche als Summen von Stammbrüchen niederzuschreiben. Deshalb nennt man die Summe von 1/a, 1/b und 1/c auch einen dreigliedrigen ägyptischen Bruch.“

„Man kann deine Gleichung noch etwas schöner schreiben“, sagte der Beduinenfürst und malte in den Sand:

1/a+1/b+1/c+1/d=1



„Sehr schön“, rief Ali begeistert. „Wenn also a gleich 2, b gleich 3 und c gleich 9 ist, dann muß d gleich 18 sein, denn 1/2+1/3+1/9+1/18 ist gleich 1. Wir müssen jetzt nur noch ein paar andere Lösungen zu deiner viergliedrigen ägyptischen Gleichung finden, das heißt vier Zahlen mit der Eigenschaft, daß die Summe ihrer Kehrwerte 1 ist.“

Mustafa runzelte die Stirn. „Ich kann sofort eine andere Lösung angeben“, sagte er. „1/4+1/4+1/4+1/4=1. Was nun?“

„Wir werden alle Lösungen deiner Gleichung finden.“ Ali langte nach einem Blatt Papier. „Das ist eine heikle Angelegenheit, denn wir haben es hier mit einer diophantischen Gleichung zu tun, einer Gleichung, die in ganzen Zahlen zu lösen ist – in diesem Falle sogar positiven ganzen Zahlen. Solche Gleichungen hat Diophant von Alexandria im 3. Jahrhundert untersucht.“

„Nach der Zeitrechnung der Ungläubigen.“ Mustafa wälzte sich stöhnend in eine weniger schmerzhafte Körperlage. „Ali, ist das nicht ein bißchen übertrieben, alle Lösungen bestimmen zu wollen? Es könnte doch sehr viele geben.“

„Diophantische Gleichungen haben meist nicht sehr viele Lösungen“, erwiderte Ali. „Es gibt allerdings auch Ausnahmen. Und in diesem Falle...“

Abschätzungen und Fallunterscheidungen

Er begann auf dem Papier zu rechnen. „Ich glaube, wir können beweisen, daß es nur endlich viele Lösungen gibt, und sie auch noch alle der Reihe nach finden. Darunter sind vielleicht welche, die dir zusagen. Nehmen wir an, die Zahlen seien in aufsteigender Reihenfolge geordnet, also a*b (a ist kleiner oder gleich b) und b*c*d. Dann kann a höchstens gleich 4 sein. Denn wenn a gleich 5 oder größer wäre, müßten b, c und d mindestens so groß sein, und die Summe ihrer Kehrwerte wäre kleiner oder gleich 1/5+1/5+1/5+1/5=4/5, also niemals gleich 1.“

Mustafa starrte ihn an. „Und das hilft uns weiter?“

„Ja. Schau, wir wissen auch, daß alle vier Zahlen mindestens gleich 2 sein müssen. Andernfalls begänne die Summe mit 1/1 und wäre auf jeden Fall zu groß. Wir brauchen also nur drei Fälle zu betrachten: a gleich 2, 3 oder 4. Wenn a gleich 2 ist, wird unsere Gleichung zu 1/2+1/b+1/c+1/d=1.“ Er vereinfachte die Gleichung ein bißchen und schrieb auch die anderen beiden Fälle nieder. Für den Fall a=2 ergab sich 1/b+1/c+1/d=1/2 und in den anderen Fällen fast dieselbe Gleichung, nur lautete die rechte Seite 2/3 für a=3 und 3/4 für a=4.

Mustafa blickte verwirrt drein. „Was soll das? Jetzt hast du drei Gleichungen statt einer.“

„Ja, Mustafa, aber jede hat jetzt nur noch drei Unbekannte statt vier wie die vorige. Außerdem kann ich diesen Trick jetzt für jede der drei Gleichungen wiederholen. Nimm zum Beispiel die erste unter ihnen: 1/b+1/c+1/d=1/2. Offenbar darf die zweitkleinste Zahl b nicht größer als 6 sein; sonst wäre die Summe kleiner oder gleich 1/7+1/7+1/7=3/7, und das ist kleiner als 1/2. Entsprechend ergibt sich im zweiten Fall, wo sich drei Stammbrüche zu 2/3 addieren sollen, daß b höchstens gleich 4 sein kann. Ein gleiches gilt für die Summe 3/4. Also gibt es für jeden der drei möglichen Werte von a nur endlich viele Unterfälle für die Wahl von b.“

Mustafa hatte ein Aha-Erlebnis. „Und dann wendest du den gleichen Trick noch einmal an!“

„Das habe ich vor. Wie ich schon sagte, wenn 1/b+1/c+1/d=1/2 ist, kann b höchstens gleich 6 sein. Und da a in diesem Fall gleich 2 ist, muß b mindestens gleich 3 sein. Angenommen, b sei genau gleich 3. Daraus ergibt sich 1/2+1/3+1/c+1/d=1 und daraus wiederum 1/c+1/d=1/6...“

„Und daraus“, fuhr Mustafa fort, „schließen wir, daß c höchstens gleich 12 sein kann, weil 1/13+1/13 gleich 2/13 ist, und das ist kleiner als 1/6.“

„Genau. Es gibt also nur endlich viele Unter-Unterfälle für c, und in jedem von ihnen hat d dann einen eindeutig bestimmten Wert. Nehmen wir den Fall a=2, b=3 und c=11. Dann muß d die Gleichung 1/2+1/3+1/11+1/d=1 erfüllen, und daraus folgt d=66/55. Aber das ist keine natürliche Zahl, also gibt es keine Lösung mit a=2, b=3 und c=11. Wenn andererseits a=2, b=3 und c=10 ist, dann erhalten wir durch Anwendung desselben Verfahrens die Gleichung 1/2+1/3+1/10+1/d=1, und daraus ergibt sich d=15. Diesmal haben wir eine Lösung. Allgemein haben wir eine Lösung dann – und nur dann – gefunden, wenn sich für d eine natürliche Zahl ergibt.

Genau dieselbe Argumentation läßt sich übrigens auf jede Gleichung der Form 1/a+1/b+...+1/z=p/q anwenden, in der die Unbekannten sämtlich positive ganze Zahlen sein sollen. Stets gibt es nur endlich viele Möglichkeiten, einen gegebenen Bruch als ägyptischen Bruch mit einer festen Anzahl von Summanden zu schreiben. Alle Lösungen kann man durch eine Folge einfacher Schlüsse finden.“

Mustafa hustete und spuckte Blut. „Du scheinst einen sehr allgemeinen Satz bewiesen zu haben, Ali.“

„So ist es. Und jetzt gib mir ein paar Minuten Zeit, damit ich alle Lösungen deiner Gleichung berechnen kann.“ Ali kritzelte in fieberhafter Eile.

„Ich habe genau 14 verschiedene Lösungen gefunden“, erklärte er wenig später (Bild 2). „Und nun sehen wir, wie dein Wunsch erfüllt werden kann. Die erste Lösung in meiner Tabelle lautet 1/2+1/3+1/7+1/42=1. Wenn du 41 Kamele hättest, verehrter Freund, dann könntest du verfügen, daß dein ältester Sohn die Hälfte der Herde erben soll, dein zweiter Sohn ein Drittel und dein dritter ein Siebentel. Wenn du dann stirbst – was Allah verhüten möge –, müssen sie ein zweiundvierzigstes Kamel finden, damit die Teilung aufgeht. Der älteste Sohn wird dann 21, der zweite 14 und der dritte 6 Kamele erhalten.“

Der sterbene Mann drückte dem Barbier die Hand. „Allah hat meine Gebete erhört. Ich muß nur noch zwei weitere Kamele beschaffen. Laß sofort das Testament aufsetzen...“

Draußen vor dem Zelt war ein Tumult entstanden, und plötzlich stürmte ein kleiner Junge herein. Der Fürst blickte ihn mit festem, aber freundlichem Blick an. „Hamid, mein Sohn? Näherst du dich dem Oberhaupt deiner Familie immer so respektlos?“

„Ich bitte um Vergebung, großer Mustafa Ibn Muchta. Aber es gibt eine freudige Nachricht zu vermelden. Deine dritte Frau Fatima hat dir soeben einen Sohn geboren! Deinen vierten Sohn!“


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1993, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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