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Das Zentrum für extrem abstrakte Skulptur

Sätze aus der Zahlentheorie verhelfen zur Klarheit darüber, ob ein regelmäßiges Vieleck oder ein weniger regelmäßiges Dreieck in ein Gitter mit ganzzahligen Koordinaten paßt.

Der dreieckige Brief, den ich morgens im Kasten fand, war erstaunlicherweise heil durch die Sortiermaschinen der Post gegangen. Der Briefkopf erstaunte mich noch mehr. Das Logo bestand aus einem Loch in Form eines Kreisrings, und ich versuchte einige Zeit vergeblich zu ergründen, wie das kreisförmige Nicht-Loch in der Mitte festgehalten wurde.

In dem Schreiben bat mich ein neugegründetes „Zentrum für extrem abstrakte Skulptur“ in gewundenen Worten um Unterstützung beim schwierigen Geschäft des Aufbaus. Ich schickte ein zusagendes Fax und machte mich auf den Weg zum Bahnhof.

Scrimshaw Whittler, der Direktor des Zentrums, war ein gutmütiger, rotbärtiger Riese. Kaum daß er mich begrüßt hatte, begann er seine Probleme mit einem Schwall unverständlicher Fremdwörter zu schildern, bis ich ihn unterbrach. „Was ist denn eigentlich extrem abstrakte Skulptur?“

„Ach so, ja. Vielleicht sollte ich Ihnen zunächst einen Eindruck vom Zweck dieses Gebäudes geben.“ Er führte mich durch einige Flure und blieb an einer großen Tür mit der Aufschrift „1“ stehen. „Die nicht“, murmelte er dann und ging weiter. „Zu trivial. Ich denke, Sie werden mehr verstehen, wenn Sie die Räume 2 und 3 sehen.“

Raum 2 enthielt ein großes Durcheinander gerahmter Bilder – auf dem Boden liegend, an die Wände genagelt, an die Decke geklebt und wie Spielkarten in Stapeln gegeneinandergelehnt. Jede der Bildflächen war durch dünne schwarze Linien in Quadrate eingeteilt und mit großen farbigen Punkten bemalt. Das erste Bild, das ich mir näher ansah, trug vier rote Punkte in den Ecken eines der Quadrate und war betitelt: „Quadrat 1, Alexander Tripe, 1973.“ Das danebenliegende hieß „Quadrat 2, Alexander Tripe, 1973“ und enthielt vier Punkte an den Ecken eines Quadrats mit doppelter Seitenlänge. Ich verfolgte die Reihe weiter bis zu „Quadrat 22, Alexander Tripe, 1973“. Die Wandfläche daneben war ganz offensichtlich eigens freigehalten worden.

„Ich sehe, Sie sind von unserer Tripe-Sammlung fasziniert“, kommentierte Whittler. „Es ist die größte in Europa. Leider verdoppelt sich mit jeder Nummer der Preis, und für ,Quadrat 23‘ hatten wir nicht mehr genug Geld. Das Werk ging an einen japanischen Elektronik-Magnaten.“

„Welch unersetzlicher Verlust“, sagte ich. „Haben Sie auch noch Werke anderer Künstler?“

„Oh ja! Wir haben eine große Kollektion von Bilge und einiges von Shenanigan. Ich finde dieses hier besonders begeisternd. Sie nicht auch?“

Das Bild trug den Titel „Fast gleichseitiges Dreieck, Seamus Shenanigan, 1988“ und bestand aus drei roten Punkten, die annähernd gleich weit voneinander entfernt an Kreuzungspunkten von Gitterlinien saßen, wie schon Tripe sie verwendet hatte.

„Was ist aus seinem gleichseitigen Dreieck geworden?“ fragte ich und gedachte damit eigentlich einen Witz zu machen.

„Folgen Sie mir“, bat mich Whittler und geleitete mich in Raum 3.

Ein ranziger Duft erfüllte den Raum. Meine Augen folgten meiner Nase bis in die hinterste Ecke; die war sorgfältig mit Margarine ausgespachelt. Das Fett erstreckte sich gleich weit entlang den drei Kanten zwischen den Wänden und dem Fußboden, ungefähr 30 Zentimeter. Von einer zarten Schimmelschicht abgesehen, war die sichtbare Oberfläche der Fettecke eben und hatte die Gestalt eines gleichseitigen Dreiecks.

„Ach, diese Replik einer Fettecke von Joseph Beuys gehört eigentlich längst nicht mehr hierher. Reelle Koordinaten, die Ungenauigkeit der Dezimaldarstellung, diese geradezu spürbare Weichheit… Außerdem ist die Authentizität nicht gesichert.“

Whittler war sichtlich bemüht, meine Aufmerksamkeit auf härtere, exaktere Kunstwerke zu lenken. Der Raum war wie der vorige vollgestopft mit Gittern, allerdings nicht gemalten. Hier waren schwarzlackierte Metallstäbe zu kubischen Gittern zusammengelötet. Ich fühlte mich an den Kletterturm auf dem Kinderspielplatz erinnert und an das Gitter mit den roten und weißen Kugeln, das unser Chemielehrer immer einen Kochsalzkristall genannt hatte. Hier saßen rote Kugeln nur in einigen Schnittpunkten von Gitterlinien. Bald hatten wir Shenanigans „gleichseitiges Dreieck“ gefunden (Bild 1 links).

„Es kann nirgendwo anders stehen als in Raum 3“, erklärte der Direktor. „Der französische Mathematiklehrer Édouard Lucas bewies bereits 1878, daß man unmöglich ein gleichseitiges Dreieck in Raum 2 haben kann. Und das ist eigentlich wirklich merkwürdig, wenn Sie bedenken, daß es ein gleichseitiges Tetraeder in Raum 3 gibt.“ Er zeigte mir stolz „Tetraeder, Thomas Rot, 1985“ (Bild 1 rechts).

Übergang zum Abstrakten

Langsam erahnte ich einen Sinn hinter seinen Sprüchen. „Zeigen Sie mir Raum 4“, bat ich. Ich hatte keine klare Vorstellung, was mich dort erwarten würde – vielleicht Computer-Bildschirme, die bewegte Formen zeigten…

Es sah aus wie im Altpapiercontainer. „Von Raum 4 an wird es extrem abstrakt“, sagte Whittler entschuldigend. Ich nahm ein Blatt in die Hand. Es war mit Vierergruppen von Zahlen bedeckt:

(1, 0, –1, 2)

oder, etwas bombastischer:

(243, –9975, 42, 100000001).

„Gitterpolyeder!“ rief ich aus. „Eine extrem abstrakte Skulptur ist nichts anderes als ein Gitterpolyeder! Und die Nummer der Raumes ist die Dimension!“

Er nickte. „Sie sehen nun, warum wir von Raum 4 an sehr abstrakt werden müssen. Ein Punkt in der Ebene hat zwei reelle Koordinaten, ein Punkt im Raum drei. Schreibt man n reelle Zahlen hintereinander – ein n-Tupel –, so sind das die Koordinaten eines Punktes im n-dimensionalen Raum.

Wenn Sie jetzt darauf bestehen, daß alle Koordinaten ganze Zahlen sein sollen, bleiben nur die Schnittpunkte der Gitterlinien übrig. Man kann sich ein n-dimensionales Gitter als die Menge aller n-Tupel von ganzen Zahlen denken, positiven und negativen. Ein Gitterpolyeder ist ein Gebilde, dessen Ecken sämtlich in Gitterpunkten liegen. Nur in zwei und drei Dimensionen – also in den Räumen 2 und 3 – kann man wirklich physische Modelle davon herstellen“ (Bild 2).

„Und in Raum 1?“

„Da geht es auch“, erwiderte er. „Aber der Raum ist nicht sehr interessant, es sei denn, Sie lieben Minimalskulpturen. Extrem abstrakte Skulptur (conceptual sculpture) ist eine Idee von Alexander Tripe aus den sechziger Jahren. Er wollte vierdimensionale Skulpturen herstellen, hatte aber Schwierigkeiten bei der Materialbeschaffung. Eine Zeitlang produzierte er Serien dreidimensionaler Skulpturen, die sich systematisch von einer zur anderen veränderten – so wie wenn man, statt einen Film zu zeigen, eine Folge von Einzelbildern an die Wand hängt. Aber damit war er nicht zufrieden. Dann kam ihm die Idee, die Skulpturen abstrakt, als eine Menge von Koordinatenangaben, darzustellen. Da die Dezimaldarstellung reeller Zahlen nie unendlich genau sein kann, beschränkte er sich auf ganzzahlige Koordinaten. Hier ist das Glanzstück unserer Sammlung, seine erste echt vierdimensionale extrem abstrakte Skulptur.“

An der Rückwand einer großen Vitrine war eine Korkplatte befestigt. Nicht weniger als fünf Überwachungskameras waren darauf gerichtet. Temperatur und Luftfeuchtigkeit innerhalb der Vitrine wurden automatisch geregelt. An der Korkplatte hing ein Fetzen von einer Zeitschriftenseite; darauf stand in krakeliger Handschrift:



(1,0,0,0)

(0,1,0,0)

(0,0,1,0)

(0,0,0,1)



Der Titel lautete „Tetraeder im vierdimensionalen Raum, Alexander Tripe, 1967“. „Ein Meisterwerk“, hauchte Whittler andächtig.

In welches Gitter passen die Vielecke?

„Ich glaube, ich habe verstanden, was Sie wollen“, sagte ich. „Jetzt können Sie mir Ihr Problem erklären.“ Er bat mich in sein äußerst gediegen ausgestattetes Büro. Als ich die vergoldeten Türklinken anstarrte, bemerkte er: „Die Würde großer Kunst duldet keinen Mangel. Das gilt auch für deren Diener.“ „Aha. Womit kann ich dienen?“ fragte ich und machte es mir in einem tiefen, weichen Ledersessel bequem. „Hier ist eines unserer Probleme“, seufzte er und reichte mir einen flachen, harten Gegenstand. „In welchen Raum gehört das?“ „Es ist ein regelmäßiges Fünfeck, nicht wahr? Alle Seiten sind genau gleich lang, alle Winkel genau gleich?“ „Ja.“ „Sie wollen wissen, welche Dimension ein Gitter haben muß, damit es fünf Punkte enthält, die ein regelmäßiges Fünfeck bilden.“ „Genau. Uns ist bekannt, daß man ein Quadrat in Raum 2 unterbringen kann und gleichseitige Dreiecke sowie regelmäßige Sechsecke in Raum 3. Aber über diese bescheidene Tatsache hinaus wissen wir noch nichts.“ (Überlegen Sie, wie man ein regelmäßiges Sechseck in Raum 3 unterbringt. Die Lösung finden Sie notfalls in Bild 5 links.) „Kristallographische Beschränkungen“, sagte ich. „Wie bitte?“ „Die Atome eines Kristalls bilden ein regelmäßiges Gitter. Rotationssymmetrien von Kristallen entsprechen regelmäßige Polygone in diesen Gittern.“ „Was heißt das?“ „Nehmen Sie das gleichseitige Dreieck von Shenanigan und drehen Sie es um 120 Grad um seinen Mittelpunkt.“ „Dann sieht es ebenso aus wie zuvor.“ „Nicht nur das. Wenn Sie das ganze Gitter, in das dieses Dreieck eingebettet ist, mitdrehen, kommt es ebenfalls mit sich selbst zur Deckung.“ „Warum?“ „Es geht nicht anders. Sie haben zwei kongruente Gitter – das ursprüngliche und das gedrehte – und wissen, daß beide in drei Punkten übereinstimmen. Dann müssen sie insgesamt zusammenfallen.“ „Ach so. Wenn also ein regelmäßiges n-Eck in ein Gitter passen soll, dann muß dieses Gitter eine n-zählige Rotationssymmetrie haben.“ „Richtig. Nun hat aber der englische Kristallograph William Barlow vor mehr als hundert Jahren bewiesen, daß ein Kristall keine fünfzählige Symmetrieachse haben kann – mehr noch, keine n-zählige Symmetrieachse für andere n als 1, 2, 3, 4 und 6. Sein ursprünglicher Beweis bezieht sich auf dreidimensionale Gitter, aber sehr ähnliche Methoden funktionieren auch in jeder anderen Dimension. Im Jahre 1937 bewies Isaac Schoenberg, daß die einzigen Polygone, die überhaupt in ein Gitter irgendeiner Dimension einbettbar sind, eine, zwei, drei, vier oder sechs Seiten haben. Die Fälle n=1 und 2 sind selbstverständlich keine Polygone im gewöhnlichen Sinne. Ein Eineck ist ein Punkt und ein Zweieck einfach eine Strecke.“ „Wollen Sie damit sagen, daß das Fünfeck in keinen Raum paßt?“ „Genau das.“ „Aber das ist ja entsetzlich! Unter den abstrakten Skulpturen kommt kein Pentagon vor? Wie soll ich da die Militärs als Sponsoren gewinnen? Die Amerikaner werden indigniert sein!“ „Das tut mir sehr leid, aber es ist die reine Wahrheit.“ „Davon müssen Sie mich erst überzeugen“, sagte er nachdrücklich. „Der Berner Mathematiker Willy Scherrer hat 1946 einen schönen Beweis gefunden. Angenommen, es gäbe ein regelmäßiges n-Eck in einem Gitter. Betrachten Sie die Gittervektoren, die von den n Seiten des Polygons gebildet werden. Verschieben Sie sie so, daß ihre Anfangspunkte sämtlich im Ursprung liegen. Dann bilden die Spitzen wieder ein n-Eck, dessen Eckpunkte sämtlich im Gitter liegen. Aber wenn n*7 ist, dann ist das neue n-Eck kleiner als das alte“ (Bild 3 oben). „Na und?“ „Diesen Prozeß kann man beliebig oft wiederholen. Man erhält eine unendliche Folge von immer kleiner werdenden Gitter-n-Ecken. Aber das ist unmöglich, denn die Gitterpunkte haben einen Minimalabstand.“ „Hm. Und was ist mit dem Fünfeck?“ „Da muß man ein wenig anders argumentieren. Numerieren Sie die Seiten der Reihe nach mit 1, 2, 3, 4, 5. Setzen Sie sie dann in der Reihenfolge 1, 3, 5, 2, 4 aneinander. Das ergibt einen Fünfstern, dessen Ecken ein Gitterfünfeck bilden, und das ist kleiner als das ursprüngliche. Daraus ergibt sich dann der gleiche Widerspruch wie im vorigen Fall“ (Bild 3 unten). Der Direktor des Zentrums für extrem abstrakte Skulptur sank verzweifelt in sich zusammen. „Nur Mut“, sagte ich. „Vielleicht können Sie den israelischen Geheimdienst als Sponsor gewinnen. Der Davidstern ist ein Gitterpolygon.“ (Wollen Sie selbst herausfinden, wie? Lösung in Bild 5 rechts.) Die Andeutung eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht. „Genaugenommen“, fuhr ich fort, „handelte Schoenbergs Arbeit von 1937 gar nicht von Polygonen, sondern von Simplices. Ein zweidimensionales Simplex ist ein gleichseitiges Dreieck. Ein dreidimensionales Simplex ist ein Tetraeder; allgemein besteht ein n-dimensionales Simplex aus n+1 Punkten im n-dimensionalen Raum, die alle gleich weit voneinander entfernt sind. Jedes n-Simplex läßt sich leicht in ein (n+1)-dimensionales Gitter einbetten – ähnlich wie Tripes ,Tetraeder im vierdimensionalen Raum‘. Schoenberg fragte sich, wann man ein n-Simplex in ein n-dimensionales Gitter einbetten kann – also eine Dimension kleiner. Das gleichseitige Dreieck läßt sich nicht in ein ebenes Gitter einbetten – ich werde gleich erklären, warum –, aber das Tetraeder paßt in ein 3-dimensionales Gitter, wie Rots ,Tetraeder‘ zeigt. Die Antwort für allgemeine n ist sehr merkwürdig, wie Schoenberg zeigen konnte. Für sind die Dimensionen, in denen die Einbettung möglich ist, n=1, 3, 7, 8, 9, 11, 15, 17, 19, 23, 24 und 25.“ (Wer in dieser Zahlenfolge nicht auf Anhieb ein Bildungsgesetz erkennt, muß nicht an seinem Verstand zweifeln. Schoenberg zeigte, daß ein n-Simplex genau dann in ein n-Gitter einbettbar ist, wenn eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist: – n ist gerade und n+1 eine Quadratzahl; – n ist von der Form 4m+3; – n ist von der Form 4m+1, und n+1 ist Summe zweier Quadratzahlen.)

Gitterdreiecke

Scrimshaw Whittler schüttelte vor Verblüffung seinen Kopf. „Ich sehe ein, es ist eine schwierige Frage, in welchen Raum wir ein gegebenes Polygon stecken sollten. Ich hatte mir das einfacher vorgestellt.“ Er suchte im Zimmer herum und fand eine große Pappschachtel. „Was soll ich mit diesen machen?“ Die Schachtel war voll von Dreiecken jeglicher Gestalt. „Sie sollen in einem neuen Gebäudeflügel aufgestellt werden, für den wir gerade Spenden einwerben, die Dreiecksgalerie. Aber wo dort?“ Er reichte mir eines herüber (Bild 4 links). Es war ein gleichschenkliges Dreieck mit Grundseite 2 und Höhe . „Sie suchen drei Gitterpunkte, die ein Dreieck dieser Größe und Form bilden?“ „Form. Die Größe ist irrelevant.“ „Aha. Sie suchen ein Dreieck, das diesem ähnlich ist und dessen Ecken in Gitterpunkten liegen. Und Sie wollen wissen, in welcher Gitterdimension das möglich ist.“ „Genau.“ Ich dachte darüber nach. „Definieren wir ein n-Gitterdreieck als ein Dreieck, das zu einem Dreieck mit Eckpunkten in einem n-Gitter ähnlich ist. Wir suchen eine Charakterisierung der n-Gitterdreiecke für jedes n. Hmm. Wenn ein Dreieck in ein Gitter paßt, dann auch in jedes mit höherer Dimension. Das kleinstmögliche n ist also das interessante. Und da es uns nur auf Ähnlichkeit ankommt, genügt es, die Winkel zu betrachten. Denken wir zunächst über die Ebene nach: 2-Gitterdreiecke. Hmm… die Tangentes der Winkel…“ „Whittler stutzte. „Ich weiß, daß Kurven Tangenten haben, aber Winkel?“ „Trigonometrie. Der Tangens eines Winkels ist das Verhältnis der gegenüberliegenden Kathete zur anliegenden, wenn der Winkel in einem rechtwinkligen Dreieck liegt. Wenn die Eckpunkte des rechtwinkligen Dreiecks Gitterpunkte sind, dann muß der Tangens eine rationale Zahl sein, ein Verhältnis zweier ganzer Zahlen, denn die Seitenlängen sind ganzzahlig“ (Bild 4 Mitte). „Das gilt aber nur für rechtwinklige Dreiecke, bei denen die Seiten, die dem rechten Winkel anliegen, achsenparallel sind.“ „Schon richtig. Aber auch bei allgemeinen Gitterdreiecken kann jeder Winkel in zwei aufgeteilt werden, deren Tangentes rational sein müssen“ (Bild 4 rechts). „Und für den Tangens einer Summe von zwei Winkeln gibt es eine Formel: Daraus folgt, daß rational ist, wenn und rational sind. Also ist der Tangens eines jeden Winkels in einem 2-Gitterdreieck rational. Und vor kurzem hat John McCarthy gezeigt, daß auch das Umgekehrte gilt, daß also jedes Dreieck mit dieser Eigenschaft in ein 2-Gitter paßt. Zum Beweis fällt man ein Lot, so daß zwei rechtwinklige Dreiecke entstehen, und wendet dann das Tangens-Argument rückwärts an. Kurz gesagt, 2-Gitterdreiecke sind genau diejenigen, deren Winkel rationale Tangentes haben.“ Whittler seufzte. „Und das hilft?“ „Aber sicher. Das gleichseitige Dreieck beispielsweise hat Winkel von 60 Grad. Da ist, also irrational, ist das gleichseitige Dreieck kein 2-Gitterdreieck. Andererseits ist es ein 3-Gitterdreieck, wie Shenanigan entdeckt hat. Und dieses“ – ich wedelte mit dem Ding aus der Pappschachtel – „gleichschenklige Dreieck mit Grundseite 2 und Höhe hat Basiswinkel, deren Tangens ist, also irrational. Es ist also auch kein 2-Gitterdreieck.“ Scrimshaw Whittler lächelte gequält. „Ich muß eigentlich noch mehr wissen. Ich muß genau wissen, in ein Gitter welcher Dimension ein gegebenes Dreieck paßt.“ „Nur Geduld. Michael Beeson von der Staatsuniversität in San José (Kalifornien) hat das ganze Problem vor kurzem gelöst. Er fand sehr merkwürdige Antworten. Obwohl es unendlich viele denkbare Gitterdimensionen n gibt, braucht man doch nur drei Fälle zu behandeln: n=2, n=3 oder 4 und . – Ein Dreieck ist genau dann ein 2-Gitterdreieck, wenn die Tangentes aller seiner Winkel rational sind. – Ein Dreieck ist genau dann ein 3-Gitterdreieck, wenn die Tangentes aller seiner Winkel rationale Vielfache von sind, wobei k eine Summe von drei Quadratzahlen ist. Für 4-Gitterdreiecke gilt dieselbe Bedingung. – Ein Dreieck ist genau dann ein 5-Gitterdreieck, wenn die Quadrate der Tangentes seiner Winkel alle rational sind. Gleiches gilt für alle höherdimensionalen Gitter. Beeson fand seine Resultate zunächst durch Computerexperimente; aber dann gelang ihm doch ein richtiger Beweis, für den er zahlentheoretische Hilfsmittel verwendete. Daß man alle Gitterdreiecke in ein 5-Gitter einbetten kann, ist eine Folge des Satzes, daß jede natürliche Zahl sich als Summe von vier Quadratzahlen schreiben läßt. Die Zahl k, die in der Bedingung für n=3 und n=4 auftaucht, hängt mit der Fläche des Dreiecks zusammen.“ Scrimshaw Whittler sah verzweifelt drein. „Erklären Sie mir das bitte noch einmal.“ „Alles hängt von den Tangentes der Winkel ab, und es gibt drei Fälle. Wenn ein Dreieck sich überhaupt in irgendein n-Gitter einbetten läßt, dann paßt es bereits in ein 5-Gitter. Es gibt einige 5-Gitterdreiecke, die keine 4-Gitterdreiecke sind, aber jedes 4-Gitterdreieck ist auch ein 3-Gitterdreieck. Schließlich gibt es noch einige 3-Gitterdreiecke, die in kein 2-Gitter passen. Durch Berechnung der Tangentes der Winkel und ein bißchen Zahlentheorie können Sie genau herausfinden, welcher Fall jeweils vorliegt. Beispielsweise hat Ihr gleichschenkliges Dreieck Winkel, deren Tangentes alle rationale Vielfache von sind. Die Quadrate der Tangentes sind also alle rational, und darum ist dies ein 5-Gitterdreieck. Da sich aber 7 nicht als Summe von drei Quadratzahlen schreiben läßt, ist es kein 4-Gitterdreieck. Es gehört also in Raum 5, Herr Direktor.“ (Will man drei Punkte im 5-Gitter angeben, die ein solches Dreieck bilden, greift man zweckmäßig auf die Zerlegung von 7 in vier Quadratzahlen zurück: . Aus dieser gewinnt man die Punkte (0,1,1,1,2), (1,0,0,0,0) und (–1,0,0,0,0), die das gewünschte Dreieck bilden.) Scrimshaw Whittler sprang auf und schüttelte mir überschwenglich die Hand. „Ich danke Ihnen von Herzen! Meine Probleme sind gelöst, und der Aufbau der Dreiecksgalerie kann mit Raum 5 beendet werden!“ „Gratulieren Sie nicht mir“, sagte ich. „Michael Beeson hat das alles herausgefunden. Ist Ihnen klar, daß Raum 3 und Raum 4 das gleiche enthalten, soweit Dreiecke betroffen sind? Sie könnten zwei Türen für denselben Raum verwenden und mit ,3‘ und ,4‘ beschriften.“ „Ja! Das spart uns Millionen!“ Er blickte auf seine Pappschachtel mit den Dreiecken. „Ich kann für jedes einzelne Dreieck einen Raum in der Dreiecksgalerie finden!“ „Äh – Herr Direktor?“ „Ja bitte?“ „Meinten Sie wirklich jedes beliebige Dreieck?“ „Ja, natürlich. Schauen Sie hier. Das hat der große Archimedes uns hinterlassen. Er benutzte es, um seine Formel für die Fläche eines Kreises zu beweisen. Es ist ein rechtwinkliges Dreieck mit den Kathetenlängen 1 und . Es wird der Stolz und Höhepunkt der Dreiecksgalerie sein!“ Ich hüstelte verlegen. „Es tut mir leid, aber das wird es wohl nicht werden.“ „Aber warum denn nicht?“ „Es hat einen Winkel, dessen quadrierter Tangens gleich ist. Und das ist irrational. Das Dreieck des Archimedes paßt in überhaupt kein n-Gitter – für kein n. Wenn ein Dreieck ein Gitterdreieck ist, dann ist es ein 5-Gitterdreieck. Das ist die Aussage des Satzes von Beeson. Aber das heißt nicht, daß alle Dreiecke n-Gitterdreiecke sind.“ Einen Moment lang blickte Direktor Whittler wehmütig auf das Modell. „Na gut“, sagte er schließlich und warf es in den Papierkorb. „Niemand wird dieses kleine Dreieck vermissen.“ „Schon recht. Aber dieses ist nicht das einzige“, wandte ich ein. „Ziemlich viele Dreiecke haben Winkel, deren quadrierter Tangens irrational ist.“ „Wie viele?“ fragte er besorgt. „Fast alle.“ Er starrte mich an. „Wissen Sie, was ich glaube?“ fragte er. „Nein.“ „Wir müssen wohl einen anderen Berater engagieren.“ Der riesige Mann machte einen Schritt auf mich zu. Sein roter Bart bebte vor Zorn. Ich bewegte mich möglichst unauffällig in Richtung Ausgang. „Auch das kann die Wahrheit nicht ändern“, sagte ich noch. „Das nicht“, erwiderte er. „Aber es kommt darauf an, wieviel davon öffentlich bekannt wird.“ Ich zog es vor, eilends die Tür hinter mir zu schließen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1993, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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