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Terrorismus: Defizite in der Wahrnehmung

Erst langsam erkennt die westliche Forschung, was Selbstmordattentäter zu ihren entsetzlichen Taten treibt. Insbesondere die Politik müsste daraus die richtigen Konsequenzen ziehen.


Die besonderen Umstände unserer Zeit erfordern leider verstärkt die Auseinandersetzung mit einem Phänomen, das sich spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 zu einer internationalen Bedrohung entwickelt hat: dem Terrorismus. Die Forschung weist hier noch große Defizite auf. Erst seit etwa drei Jahrzehnten wird der Terrorismus systematisch erforscht. Und bis vor kurzem waren auf diesem Gebiet nur sehr wenige Wissenschaftler tätig.

Bis heute gibt es keine allgemein anerkannte Definition des Terrorismus. Die wissenschaftliche Forschung hat zwar einige Ansätze hierzu geliefert, doch scheiterte ein Konsens an einer Reihe von Schwierigkeiten. Zunächst einmal sind terroristische Aktivitäten in verschiedenen Ländern oder Kulturen unterschiedlich ausgeprägt. Zudem können sich die Motive, Ideologien, Ziele und Strategien im Laufe der Zeit wandeln. Vollends problematisch wird es bei einer politischen oder juristischen Bewertung des Terrorismus: Nicht jede Gewaltanwendung – zum Beispiel einer Oppositionsgruppe gegen die herrschende Regierung – kann als Terrorakt eingestuft werden. Kämpft eine Minderheitengruppe gewaltsam gegen eine Regierung, welche die Menschenrechte systematisch und eklatant verletzt und jede Form der Selbstbestimmung verhindert, so lassen sich legitime und illegitime Handlungen nicht immer deutlich voneinander abgrenzen. Nicht umsonst heißt es plakativ: "Die Terroristen des einen sind die Freiheitskämpfer des anderen."

Wenngleich derartige Schwierigkeiten einen internationalen Konsens über die Terrorismusdefinition verhindert haben, so gibt es doch inzwischen einige allgemein akzeptierte Vorstellungen. Und die Wissenschaft konnte einige Missverständnisse ausräumen. So sind Terroristen generell nicht als Guerillakämpfer einzustufen, obwohl beide Gruppierungen ideologische Zielsetzungen verfolgen und die Übergänge zwischen ihnen fließend sein können. Und Terrorismus ist keine Ideologie, die an eine bestimmte politische Richtung gebunden ist, wie man noch in den 1970er Jahren glaubte. Er ist vielmehr eine Strategie, derer sich die extreme Linke ebenso bedienen kann wie die extreme Rechte oder religiös-fundamentalistische Gruppierungen.

Einige andere Vorstellungen scheinen sich aber recht hartnäckig zu halten. So ist zum Beispiel immer wieder zu hören, dass Selbstmordattentäter verwirrte Einzeltäter seien oder aus einem sozialen Umfeld stammten, das durch Armut, Verzweiflung und mangelnde Bildung geprägt ist. Die Politik müsse deshalb darauf abzielen, dem Terrorismus den Boden zu entziehen, indem sie den Bevölkerungsgruppen, aus denen sich die Selbstmordattentäter rekrutieren, durch Verbesserung der wirtschaftlichen und kulturellen Lebensumstände wieder eine Perspektive verschaffen. Dass die Attentäter des 11. September 2001 mit ihrer Herkunft und ihrer natur- und ingenieurwissenschaftlichen Ausbildung so gar nicht in dieses Schema passten, vergrößerte nur den Schock und die Ratlosigkeit in der Öffentlichkeit.

Die Mär vom ungebildeten, psychisch gestörten Attentäter

Doch auch hier beginnt die Terrorismusforschung, etablierte Vorstellungen zu revidieren. So hat der Sozialwissenschaftler Scott Atran, der am Institut Jean Nicod in Paris und am Institut für Sozialforschung an der Universität von Michigan in Ann Arbor forscht, kürzlich untersucht, welche Faktoren es sind, die im "Werdegang" eines typischen Selbstmordattentäters eine Rolle spielen ("Genesis of Suicide Terrorism" in: Science, Bd. 299, S. 1534). Atran hält es zwar für den besten Ansatz, dafür Sorge zu tragen, dass terroristische Gruppierungen weniger Zulauf bekommen. Doch warnt er ausdrücklich davor, die soziale Basis der Selbstmordattentäter und deren Beweggründe zu missdeuten. Insbesondere dürften keine Erklärungsmodelle herangezogen werden, wie sie in der Kriminalistik üblich seien.

Bei Eigentumsdelikten zum Beispiel gebe es durchaus einen Zusammenhang mit Armut und Bildungsniveau. Diese Täter würden weitgehend rational handeln und eine Art wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Abwägung treffen: Wenn der potenzielle Gewinn größer sei als das Risiko, gefasst und verurteilt zu werden, falle die Wahl auf die kriminelle Tat. Aber schon auf Kapitalverbrechen wie Mord und Totschlag seien solche rationalen Überlegungen, die auf den eigenen Vorteil abzielen, kaum noch anzuwenden. Und für Selbstmordattentäter träfen derlei Modelle überhaupt nicht mehr zu.

Einen Zusammenhang mit dem Bildungsniveau scheint es Atran zufolge dennoch zu geben – allerdings in Form einer positiven Korrelation: Eine im Dezember 2001 durchgeführte Umfrage unter Palästinensern über 18 Jahre in der West Bank und im Gazastreifen ergab: Die Zustimmung zu bewaffneten Anschlägen steigt mit dem Bildungsniveau. Eine frühere Untersuchung zeigte, dass ökonomische Faktoren ebenfalls eine Rolle spielen können: Die Gebildeten unterstützen den Terrorismus verstärkt, wenn sie – zum Beispiel durch Arbeitslosigkeit – von sozialem Abstieg bedroht sind. Insgesamt lässt sich sagen, dass palästinensische Selbstmordattentäter aus einem ganz normalen sozialen Umfeld kommen, nicht verhaltensauffällig und auch keine religiösen Eiferer sind.

In der Regel wird aber niemand von alleine auf die Idee kommen, als menschliche Bombe zu fungieren. Hinter den Anschlägen stecken Organisationen oder Bewegungen, die meist junge, unverheiratete Männer nach Charakter und Geschick auswählen, sie rekrutieren und über längere Zeit auf ihre Aufgabe vorbereiten. Bewegungen wie die palästinensische Hamas verstehen es dabei geschickt, religiöse mit politischen Motiven zu verbinden, und die späteren Attentäter für ihre Zwecke zu nutzen. Für solche Bewegungen kommen durchaus wieder rationale Gründe zum Tragen: Selbstmordattentäter zählen für sie als gut verzinste Aktivposten, deren Einsatz (und Verlust) weitere Aktivposten generiert, weil die Unterstützung in der mit der Bewegung sympathisierenden Gruppe mit jedem Anschlag steigt.

Dies trifft nicht nur für die Palästinenser zu: Kurz nach dem 11. September zeigte eine Umfrage unter gebildeten Saudis zwischen 25 und 41 Jahren, dass 95 Prozent von ihnen El-Kaida unterstützten. Die Sympathien äußern sich mitunter auch in beachtlichen Geldzuwendungen: Nachdem eine 18-jährige Palästinenserin sich in einem Jerusalemer Supermarkt in die Luft gesprengt hatte, brachte eine Mammutsendung im saudischen Fernsehen mehr als hundert Millionen Dollar für die Intifada zusammen, wie Atran berichtet.

Letztlich ist die große Herausforderung also die, das Netzwerk aus Sympathie sowie aus aktiver Unterstützung und Förderung des Terrorismus zu beseitigen. Hier ist zunächst die Forschung gefragt: Sie muss untersuchen, welche psychologischen und kulturellen Beziehungen in diesem Netzwerk eine Rolle spielen, wie sich Terrororganisationen bilden, welche Organisationsstrukturen sie haben und wie die Rekrutierungspraktiken aussehen. Zudem muss Ursachenforschung betrieben werden. Dazu gehört auch die Frage, in welchem Maße die westliche Politik und das westliche Handeln (beziehungsweise Nichthandeln) eine Katalysatorrolle für den Terrorismus spielt. Solche Untersuchungen mögen unbequem sein und natürlich Geld kosten. Aber das Geld für diese Forschungen wäre vermutlich besser investiert als jenes, das derzeit für den verstärkten physischen Schutz von potenziell gefährdeten Einrichtungen aufgewendet wird. Um eine Krankheit zu kurieren, muss man ihre Ursache behandeln und nicht ihre Symptome.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2003, Seite 111
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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