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Wissenschaft in Bildern: Der Beginn moderner Bildaufklärung

In den fünfziger und sechziger Jahren machten militärische Aufklärungssatelliten und -flugzeuge selbst entlegene Gebiete auf gegnerischem Territorium zumindest per Kamera zugänglich. Bildauswerter lernten, wie man die Informationen, die in den aus großer Höhe aufgenommenen Photos enthalten sind, erkennt und zu interpretieren hat. Oftmals wirkten sich die Erkenntnisse gravierend auf die internationalen Beziehungen aus.

Seit 35 Jahren betritt jeden Morgen ein Offizier der obersten Geheim- dienstbehörde der Vereinigten Staaten, der Central Intelligence Agency (CIA), das Weiße Haus in Washington. Dort legt er dem Präsidenten und Vertretern des Nationalen Sicherheitsrates den Tagesbericht der Nachrichtendienste vor. Darunter befinden sich auch vielleicht fünf bis zehn der mehrere tausend am Vortage gewonnenen Luft- und Satellitenaufnahmen, die aktuelle Brennpunkte der Weltpolitik zeigen und mit Erläuterungen versehen sind. Ähnliche Mappen gehen an die amerikanischen Außen- und Verteidigungsminister sowie an ausgewählte Kongreßabgeordnete und andere Amtspersonen. Die politischen Entscheidungen der US-Regierung wurden in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich von solchem Bildmaterial beeinflußt.

Aufklärungsphotos dienen seit der Amtszeit von Dwight D. Eisenhower (1890 bis 1969, Präsident von 1953 bis 1961) allen Regierungen der USA dazu, über im Ausland stationierte amerikanische Truppen zu wachen, Abrüstungsvereinbarungen zu kontrollieren, gegnerische Streitkräfte einzuschätzen und Rüstungsprogramme zu planen. Gerade Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre lieferte die mit modernen technischen Mitteln betriebene Bildaufklärung mehrfach zur rechten Zeit wichtige Informationen für die Vorbereitung politischer Entscheidungen und trug mitunter sogar dazu bei, eine Konfrontation zwischen den Weltmächten zu entschärfen. In der Mehrzahl der Fälle bewahrten diese Aufnahmen die USA vor unliebsamen Überraschungen und zeigten, daß die Waffenarsenale des Gegners weniger bedrohlich und dessen Absichten weniger finster waren als zunächst angenommen.

Diejenigen von uns, die täglich mit solchen Photos umgingen, wurden unmittelbar Zeugen der wechselhaften und spannenden Vorgänge, welche die Weltgeschichte bestimmen. Gegenwärtig werden fast eine Million derartiger Aufnahmen aus einer entscheidenden Phase der Aufklärungsphotographie auch der Öffentlichkeit zugänglich: Gemäß einer Verfügung von Präsident Bill Clinton vom 23. Februar 1995 gab die US-Regierung bis zum August dieses Jahres mehr als 800000 Aufnahmen der amerikanischen Spionagesatelliten von 1960 bis 1972, also aus den ersten zwölf Jahren ihres Einsatzes, frei.

In diesen Zeitraum fielen bedeutende Ereignisse: Die Sowjetunion errichtete ihre ersten Abschußbasen für Interkontinentalraketen, der Vietnamkrieg wurde ausgetragen, die Anzahl der Staaten mit Kernwaffen stieg von vier auf mindestens sechs, und die USA führten mit der UdSSR die Verhandlungen zur Begrenzung strategischer Waffen (Strategic Arms Limitation Talks, SALT). Gegen Anfang dieser Periode baute Israel Anlagen zur Plutoniumaufbereitung, später folgten die Krise um die sowjetischen Mittelstreckenraketen in Kuba, die Zündung der ersten chinesischen Atombombe, das amerikanisch-sowjetische Wettrennen um die Vorherrschaft im Weltraum und der Sechs-Tage-Krieg im Nahen Osten. All diese Vorgänge wurden von den amerikanischen Aufklärungssatelliten ausgespäht.


Aufbau der Bildaufklärung

Arthur C. Lundahl, der erste Direktor des für die Bildauswertung zuständigen National Photographic Interpretation Center der USA, schätzte einmal, daß die Nachrichtendienste nur von etwa 15 Prozent der so gewonnenen Informationen Gebrauch gemacht haben. Das nun freigegebene Bildmaterial wird deshalb – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – neue Einblicke in die politische Geschichte der Mitte des 20. Jahrhunderts sowie in Feldforschungsgebiete vieler Wissenschaftszweige von der Archäologie bis zur Zoologie ermöglichen.

All diese Photos stammen aus dem wegweisenden Projekt der USA zur Satellitenaufklärung, das die CIA unter dem Codenamen Corona betrieb. (Die amerikanische Luftwaffe führte von 1958 bis 1963 ein kleineres Konkurrenzprogramm namens Samos durch.) Die Corona- und Samos-Satelliten hatten von dem gesamten Instrumentarium, das die moderne Fernaufklärung in den USA begründete, die größte Bedeutung. Andere Beobachtungsmittel waren Luftbildkameras an Ballons (in einem bald wieder eingestellten Programm namens Genetrix) und die schnellen, hoch fliegenden U-2- und SR-71-Flugzeuge.

Präsident Eisenhower, der die Bildaufklärung stark förderte, wurde über die Ergebnisse jeder U-2- und Satellitenmission informiert. In dieser Technologie sah er ein geeignetes Mittel, um künftig solch traumatische Erfahrungen wie die von 1942 zu vermeiden, als der japanische Überraschungsangriff auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbor auf Oahu (Hawaii) die USA zum Eintritt in den Zweiten Weltkrieg zwang. Er setzte auch darauf, um die strategischen Fähigkeiten der Sowjetunion und Chinas besser einschätzen zu können.

Gegen Ende seiner Amtszeit erkannte Eisenhower zudem, daß die Photoaufklärung eine der wenigen Möglichkeiten bot, den eigenen, stets nach neuen Rüstungsprojekten strebenden militärisch-industriellen Komplex zu zügeln, der aus eigenem Interesse die Kampfkraft der Sowjets stark übertrieben darstellte. Wenngleich die USA im Laufe der Jahre viele Milliarden Dollar für die Photoaufklärung ausgaben, zahlten sich letztlich die zusammengetragenen Informationen mehr als aus, denn durch Ausspähen der tatsächlichen Stärke der Gegner ließen sich Gegenmaßnahmen effizienter planen; wäre das nicht möglich gewesen, hätte ein Mehrfaches dieser Kosten für den Verteidigungssektor aufgewendet werden müssen.

Offiziell begann das Corona-Programm im Januar 1958; doch erst der dreizehnte Satellit dieser Serie, der am 18. August 1960 gestartet wurde, war erfolgreich – als erster von insgesamt 94, die Aufnahmen lieferten. Verschiedene weiterentwickelte Versionen dieser Späher wurden eingesetzt, bezeichnet mit den recht einfallslosen Codenamen KH-1, -2, -3 und -4 (die Abkürzung steht für keyhole, Schlüsselloch). Ihnen folgten die sieben KH-5-Satelliten des Lanyard-Programms und ein KH-6-Satellit des Programms Argon.

Wenn alles funktionierte, umrundeten die Aufklärungskameras die Erde auf elliptischen Bahnen zwischen 160 und 800 Kilometern Höhe und machten im Laufe von 16 oder mehr Umkreisungen von jeweils 90 Minuten Dauer Tausende von Aufnahmen. (Nach 1962 wurden Stereokameras eingesetzt.) Zu einem bestimmten Zeitpunkt wurde die Filmkapsel ausgestoßen; noch während sie an einem Fallschirm abwärts schwebte, fing ein Flugzeug der Luftwaffe sie auf.

Erkennen bedeutsamer Signaturen

Die Beschaffung eines Satellitenphotos – so aufwendig sie auch sein mag – ist jedoch erst der Anfang. Bildanalytiker müssen die erfaßten Objekte und Strukturen begutachten, identifizieren, beschreiben und bewerten. Dies erfordert große Sorgfalt, manchmal Ausdauer und häufig gute Intuition. Die Auswerter suchen nach auffälligen Merkmalen oder Mustern, sogenannten Signaturen. Der Standort einer Panzereinheit beispielsweise ist eindeutig an nahegelegenen Schießständen zu erkennen, die von oben betrachtet einer Reihe überdimensionaler Kegelbahnen ähneln.

Solche Signaturen mit den zugehörigen Bedeutungen sind sorgfältig in einem Katalog zusammengefaßt. Jeder Band befaßt sich mit einem bestimmten Thema und Land, zum Beispiel mit der Raketenstationierung in China. Die Bildauswerter nutzen diese fortwährend aktualisierten Bücher sowohl in den Hauptquartieren als auch im Feldeinsatz.

Die Bildinterpretation hatte bereits im Zweiten Weltkrieg sozusagen ihre Feuertaufe erlebt. Die Auswerter der Alliierten entwickelten damals ein dreistufiges System der Informationsweitergabe. Zunächst wurden nach einer ersten Durchmusterung der Luftbilder diejenigen Informationen, die als entscheidend für den Schlachtverlauf angesehen wurden, eiligst an die Befehlshaber im Feld geschickt. In einer zweiten Phase wurden die Bilder genauer untersucht und die Erkenntnisse in einem Bericht festgehalten. Die dritte Phase war ähnlich, jedoch mit einer sehr detaillierten Analyse. Dieses System gibt es – von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – noch heute. Seit 1961 sind die amerikanischen Aktivitäten am National Photographic Interpretation Center zusammengefaßt, das diese Aufgabe für alle Nachrichtendienste der USA übernommen hat.

Seit der Einführung digitaler Techniken haben sich die Methoden und die Möglichkeiten der Bildauswertung erheblich erweitert. Die neuen Speichermedien erfordern weit weniger Platz in den Archiven und erlauben einen schnelleren und leichter kontrollierbaren Zugriff auf das gesamte Bildmaterial. Mit Bildbearbeitungsverfahren lassen sich interessante Objekte und Muster leichter erkennen, und zum Vergleich kann eine Vielzahl früherer Aufnahmen desselben Ortes oder ähnlicher Anlagen mit möglicherweise anderer Nutzung herangezogen werden. Mittels photogrammetrischer Methoden lassen sich anhand der Satelliten- und Kameradaten (etwa Höhe und Position des Satelliten zum Zeitpunkt der Aufnahme sowie Blickrichtung und Brennweite der Kamera) die Ausmaße eines jeden abgebildeten Objektes oder jeder Anlage im Bild mit einem sogenannten Komparator – einem rechnergesteuerten Gerät – bestimmen.

Des weiteren machen sich die Bildauswerter menschliche Eigenheiten sowie mitunter die speziellen klimatischen und meteorologischen Bedingungen zunutze. Menschen im allgemeinen und Soldaten im besonderen leben nach festen Gewohnheiten, Regeln und Bräuchen. Wollen Sie zum Beispiel wissen, welche Gebäude auf einem militärischen Gelände die wichtigsten sind? Warten Sie auf Schneefall. Nach meiner Erfahrung werden die Wege zur Kommandantur und zu den Latrinen zuerst gefegt. Bewohnt sind diejenigen Gebäude, die beheizt werden – und auf deren Dächern folglich der Schnee schmilzt.

Fast überall auf der Welt ist der Sonntag dienstfrei. Somit ist Sonntagmorgen (und feiertags) die günstigste Zeit, die militärische Ausrüstung eines Gegners zu inventarisieren, weil sie dann am Standort geparkt oder abgestellt ist. Die Fähigkeiten von Bodentruppen lassen sich am ehesten während Manövern einschätzen, die üblicherweise im Frühjahr und Sommer stattfinden, wenn der Boden fest ist und die Soldaten nicht durch schwere Kleidung oder schlechtes Wetter behindert werden.

Die hier vorgestellten Aufnahmen zeigen nur einen kleinen Ausschnitt aus der breiten Palette an Ereignissen, die durch Aufklärungsphotos dokumentiert wurden. Viele hundert weitere der sicherheitspolitisch brisanten Geschehnisse wurden ausgespäht – so etwa das erste gravierende Unglück in der Kerntechnik 1957 im russischen Kischtim, das weite Gebiete im Südural radioaktiv verseuchte, der chinesisch-indische Grenzkrieg 1962, die Wirkungen der israelischen Luftangriffe auf die ägyptischen, jordanischen und syrischen Luftstreitkräfte während des Sechs-Tage-Krieges, die Kämpfe in Vietnam, die indisch-pakistanischen Scharmützel 1965 und 1971, die sowjetische Invasion der Tschechoslowakei 1968 und der Truppenaufmarsch an der russisch-chinesischen Grenze 1970. Im Verlauf des Corona-Programms wurden zudem entlegene und zuvor im Westen kaum bekannte Gebiete großflächig aufgenommen wie die Inselgruppe Nowaja Semlja, wo die Sowjetunion Kernwaffen testete, sowie das 1950 von China annektierte Tibet und die Kalahari-Wüste in Südafrika.


Wissenschaftliche Anwendungen

Von unserer einzigartigen Beobachtungswarte aus wurde meinen Kollegen und mir die außerordentliche Empfindlichkeit unseres Planeten bewußt. Wir sahen immer wieder kaum bewachsene Gebiete, geplündert auf der Suche nach Feuerholz, verfolgten das großflächige Abholzen und Abbrennen der Tropenwälder, erkannten die Folgen von Industrie- und Naturkatastrophen und bemerkten die zunehmende Verschmutzung der Luft und der Gewässer. Winter für Winter beobachteten wir, wie sich der Schnee um Magnitogorsk, einer Industriestadt im Südural mit der größten Stahlproduktion in Rußland, im Umkreis von 150 Kilometern schwarz färbte. Was wir sahen, hätte jeden zum Nachdenken veranlaßt, der noch immer der Illusion anhing, die Erde könne alles verkraften, was der Mensch ihr antut.

Mit der Veröffentlichung hunderttausender Corona-Aufnahmen bietet sich die seltene Gelegenheit, die komplexen Vorgänge auf unserem Planeten und das Verhalten seiner Bewohner besser zu verstehen. Ich habe zum Beispiel anhand von Photos, die Ende der sechziger Jahre regelmäßig aufgenommen wurden, die stete Ausbreitung der Sahara nach Norden verfolgen können. Auf denselben Aufnahmen vermochte ich auch Spuren antiker römischer Befestigungsanlagen auszumachen und deren Lage mit den Forts der französischen Fremdenlegion zu vergleichen.

An einem Dezembermorgen Ende der sechziger Jahre wählte ich eine Reihe von Bildern aus, die während des Überflugs von einem KH-4-Satelliten über Nazareth und Bethlehem aufgenommen worden waren. Während ich sie durch ein Stereoskop betrachtete, folgte ich im Geiste dem Weg, den Maria und Josef vor 2000 Jahren beschritten, über jeden Hügel und durch jedes Tal.

Angeregt durch das Gedicht "The Charge of the Light Brigade" des englischen Dichters Alfred Lord Tennyson (1809 bis 1892) erforschte ich das Terrain auf der Halbinsel Krim, in dem der britische General James T. B. Cardigan (1797 bis 1868) am 25. Oktober 1854 seine Kavallerie-Einheit in die Schlacht von Balaklawa gegen die Russen führte (diese für den Verlauf des Krim-Krieges unbedeutende Attacke, bei der Cardigan 40 Prozent seiner Leute verlor, brachte ihm in der britischen Öffentlichkeit hohes Ansehen ein). Bei einer weiteren Gelegenheit folgte ich den mutmaßlichen Routen des venezianischen Asienreisenden Marco Polo (1254 bis 1324) und stellte zu meiner Überraschung fest, daß viele seiner Beschreibungen noch heute zutreffen.

Lundahl hatte mit seiner damaligen Bemerkung, wir würden viele der Aufklärungsphotos nur flüchtig ansehen, nur allzu recht. Diesen riesigen Fundus können erst künftige Forscher gründlich erschließen – aber auch der erste Blick war in vielen Fällen bereits ein besonderes Erlebnis.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 68
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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