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Der "Betende Knabe" - Original und Experiment

Archäologische Befunde und moderne Simulationsverfahren erlaubten, am Beispiel einer hellenistischen Bronzestatue Details der in der Antike angewandten Gießtechnik zu ermitteln. Das Originalkunstwerk und die Forschungsergebnisse sind in einer Ausstellung zunächst in Bonn und später in Berlin zu sehen.

Die Altertumswissenschaftler haben in den vergangenen Jahren großen Gewinn aus der Zusammenarbeit mit Naturwissenschaftlern und Ingenieuren gezogen. Dies läßt sich besonders gut am Beispiel der antiken Bronzekunst belegen, zu deren Erforschung die Metallanalyse, der Einsatz von Ultraschallmessung, Endoskopie und Tomographie, aber vor allem auch die fortgeschrittene Durchstrahlungstechnik unerläßlich geworden sind. Nur selten freilich ging dabei der erste Anstoß von naturwissenschaftlichen Disziplinen aus.

Nun wurde am Gießerei-Institut der RWTH Aachen ein Simulationsverfahren entwickelt, mit dem sich Fließ- und Erstarrungsverhalten von Metallschmelzen detailliert berechnen und auf diese Weise die idealen Bedingungen für die fehlerfreie Fertigung von Gußbauteilen ermitteln lassen. Dieses Verfahren erspart aufwendige Vorversuchsreihen und damit Kosten bei der Fertigung im industriellen Bereich. Es läßt sich jedoch nicht nur zukunftsorientiert einsetzen: Durch das Nachsimulieren von Gußprozessen, für die zumindest ein Teil der Prozeßdaten bekannt sind, und durch anschließenden Vergleich mit Hinweisen am Gußstück – beispielsweise in Form von Gußfehlern – kann man auch im nachhinein die Fertigungstechnik ermitteln. Gerade bei antiken Fundstücken verspricht diese Methode neuen Erkenntnisgewinn.

Ihr Potential wurde zunächst in einem Vorprojekt erprobt. Wegen der vergleichsweise einfachen räumlichen Modellierung wählten wir als Simulationsobjekt etruskische Spiegel – Scheiben aus Zinnbronze, die meist mit einem Handgriff versehen und nach dem Wachsausschmelzverfahren in verlorener Form hergestellt wurden. Es zeigte sich, daß diese Geräte im Verlauf von zwei Jahrhunderten, von 500 bis 300 vor Christus, Veränderungen durchmachten, die zumindest zum Teil auf Modifikation und Verbesserung der Gußtechnik zurückzuführen sind; bisher rein formalästhetisch gedeutete Entwicklungsreihen ließen sich also durch technologische Änderungen erklären.

Diese Resultate rechtfertigten ein Projekt, das sich als richtungsweisend für die Erforschung der Fertigungstechnik antiker Großbronzen erweisen sollte. Die Griechen der Antike verwendeten für ihre Statuen das Wachsausschmelzverfahren: Sie füllten die Wachsform mit einem Tonkern aus und ummantelten sie mit Lehm, erhitzten das Ganze, bis das Wachs ausfloß, und füllten in die Hohlräume die Metallschmelze. In der Regel wurde dabei die Statue in Einzelteilen gegossen und durch Gußschweißen zusammengesetzt.

Weil auch heute noch Bronzeplastiken nach diesem Prinzip gefertigt werden, meinten Ingenieure und Archäologen lange Zeit, die Technik dieses Kunsthandwerks habe sich seit dem Altertum bis an die Schwelle des industriellen Zeitalters kaum verändert. Dabei übersahen sie völlig, daß zum Beispiel bereits das Überhitzen der Schmelze in Graphittiegeln oder das Verwenden von Formsand grundlegende Änderungen in der Verfahrenstechnik nach sich zieht. Erst in den letzten Jahren haben sich die Hinweise verdichtet, daß bereits an der Schwelle von der archaischen zur klassischen Zeit und im Hellenismus technologische Verbesserungen bedeutende Änderungen in der Formgebung ermöglichten. Diese Fortschritte aufzuspüren war eines unserer Ziele.


Untersuchung der Statue

Im Mittelpunkt stand der sogenannte "Betende Knabe", eines der wenigen erhaltenen Bronzewerke der Antike (Bild 1). In der griechischen Stadt Rhodos ausgegraben, wurde die Statue 1503 nach Venedig gebracht und als Pretiose hoch geschätzt. Sie wanderte durch viele berühmte Kunstsammlungen in Europa und gelangte schließlich 1747 in den Besitz von Friedrich dem Großen, der ihr einen Ehrenplatz auf der Terrasse von Schloß Sanssouci in Potsdam verschaffte. Heute befindet sie sich in der Berliner Antikensammlung.

Eine Untersuchung der Statue 1994 erbrachte Hinweise auf die antike Herstellungstechnik, aber auch die Erkenntnis, daß eine Restaurierung und eine Neusockelung vonnöten waren. Vor etwa 100 Jahren hatte man die barock ergänzten Arme mit großen Mengen von Blei befestigt, was die dünnwandige Bronze stark belastete. Die erneute Restaurierung ermöglichte nun nach Abnahme der Arme den ungehinderten Blick in das Innere. Zusammen mit der mikroskopischen Untersuchung der Oberfläche ließen sich so Hinweise auf das Gußverfahren erkennen: Stellen, an denen die Zuleitungen ansaßen, und die Größe der Teilgüsse konnten ermittelt werden, aber auch fehlerhafte Partien, die durch eine große Anzahl von Poren gekennzeichnet waren. Durch Einsatz des Wirbelstrommeßverfahrens und durch gezielte Probennahme hatten sich bereits zuvor die seit der Renaissance ergänzten Teile eindeutig bestimmen lassen. Damit waren erstmals alle gießtechnisch relevanten Daten einer Statue verfügbar, die nun als Basis für die Simulation eines antiken Großbronzegusses dienen konnten.


Archäologische Befunde

Eine Analyse von Resten des Kerntonmaterials im Kopf der Statue ergab, daß der "Betende Knabe" im antiken Rhodos gegossen worden sein mußte. Diese Erkenntnis erschloß nun eine weitere Informationsquelle zur Herstellungstechnik: Bei Notgrabungen im Stadtgebiet von Rhodos waren nämlich seit 1975 Überreste von Werkstätten für den statuarischen Bronzeguß freigelegt worden. Zentrale Arbeitseinrichtungen solcher Anlagen waren in den Fels gemeißelte Gruben, die mit Lehmziegeln verkleidet und mit Zwischenwänden zu einem ofenartigen Gebilde gestaltet wurden. In ihnen wurde die Form aus Wachs hergestellt, mit Lehm ummantelt und zur Gußform ausgebrannt.

Die Werkstätten dienten jeweils nur dem Guß einer einzigen Statue, danach wurden sie aufgelassen. Deshalb liefert die Ausgrabung einer einzelnen Werkstätte nur spärliche Informationen. Durch den Fund von insgesamt acht derartigen Anlagen in Rhodos ist jedoch die Technologie, die für den statuarischen Bronzeguß angewandt wurde, gut bekannt. Die Werkstätte auf dem Grundstück Mylonas wies in einer Grube mit einer rekonstruierten Gesamttiefe von 3,60 Meter die größte Einrichtung dieser Art auf, die wir aus der Antike bislang kennen. In einer anderen Werkstätte auf dem Grundstück Tzedakis fanden sich Fragmente von Tiegeln und knieförmigen Blasebalgdüsen, die zum Erschmelzen der Bronze dienten.

Die Rekonstruktion der Werkstätten lieferte die Rahmenbedingungen, innerhalb derer wir die technischen Parameter für die numerische Simulation verändern konnten. So erbrachte die Analyse des Formtones Hinweise über die Wärmeleitfähigkeit der Formen und den damit verbundenen Wärmeverlust. Formmantelfragmente mit den Resten von Kanälen wiesen auf ein entwickeltes System von Metallzuläufen und Entlüftungskanälen hin. Zudem fanden wir heraus, daß der Lehm keine höheren Schmelztemperaturen als 1100 Grad Celsius für die Gußvorbereitung erlaubte, da er sonst verglasen würde und nicht mehr formstabil wäre.


Rechnersimulationen

Um ein digitales Modell des "Betenden Knaben" zu erstellen, ließen wir seine Körperoberfläche mit einer Punktkoordinatenmeßmaschine automatisch vermessen; wir verwendeten dazu nur den Torso, wie er in der Antike in einem Stück gegossen wurde, also den Körper ohne die Arme, den Kopf und die vordere Hälfte des Fußes mit den Zehen. Mittels Computers wurde anschließend aus den einzelnen Meßpunkten eine geschlossene Oberfläche des Knaben generiert. Das Anschnittsystem, das wir aus den Hinweisen auf der Oberfläche des "Betenden Knaben" rekonstruierten, verlief im wesentlichen in zwei Strängen an der Vorder- und Rückseite des Körpers.

Unseren Rechnungen zufolge waren für eine gleichmäßige Füllung der Form die Anzahl und Positionierung der Anschnitte, die Geometrie der Zulaufkanäle und die Gießgeschwindigkeit maßgeblich. Des weiteren zeigte sich, daß für einen fehlerfreien Guß die Gießtemperatur hoch genug sein mußte; nur so konnte das Metall lange genug schmelzflüssig bleiben und alle Bereiche der Gußform ausfüllen (Bild 2).

Weil sich jedoch durch die Verwendung von Tontiegeln die Schmelze im Vergleich zu den heutigen Möglichkeiten nur wenig überhitzen ließ, mußte die Form unbedingt auf mehrere hundert Grad Celsius vorgewärmt werden. Trotzdem blieb die geringe Spanne zwischen Gieß- und Liquidustemperatur der Schmelze für die Gießer der Antike ein Problem, das sie nur durch sorgfältiges Koordinieren der Arbeitsgänge zu lösen vermochten. Des weiteren mußte die starke Gasaufnahme des Metalls während des Aufschmelzens für den Guß hinderlich gewesen sein. Während des Erstarrens in der Form werden diese Gase nämlich wieder frei und ergeben eine starke Porosität in der Gußwand und auf der Oberfläche, die später nur durch aufwendige Kaltarbeit beseitigt werden konnte. Eine Kaltschweißstelle in der Schulter des Knaben läßt sich am besten durch eine Verzögerung beim Einfüllen von Tiegelschmelze erklären.


Experimente

Bestimmte Daten wie etwa die Temperatur der Form in einer beheizten Grube ließen sich freilich nicht am Rechner ermitteln. Um mehr über die Heiztechnik in einer Grube und das Ausbrennen der Form zu erfahren, wurde in Zusammenarbeit mit der Soprintendenza Archeologica per la Toscana ein Experiment beim Antiquarium von Poggio Civitate (Murlo) durchgeführt. Dort finden seit einigen Jahren unter der Leitung von Edilberto Formigli Versuchsreihen zur experimentellen Archäologie statt.

Ingenieure und Archäologen bauten dort unterstützt von freiwilligen Helfern eine Grube nach dem Vorbild der Werkstätten in Rhodos nach. Die Lehmziegel für die Auskleidung der Grube formten die Teilnehmer selbst aus einer Mischung von anstehendem Lehm und einem feuerfesten Ton. In der fertigen Grube wurde eine Wachsform des "Betenden Knaben" aufgestellt und mit einem Kernmaterial ausgefüllt, das nach den Untersuchungen antiken Materials am Gießerei-Institut in Aachen angemischt worden war. Weil der vom Wachs umhüllte Kern schlecht trocknet, mußte es in bereits recht trockenem Zustand eingefüllt werden.

Der äußere Formmantel wurde aus unterschiedlich stark gemagerten Tonschichten aufgebaut. Als Vorbild dienten dabei die archäologischen Funde in Rhodos, während die praktische Ausführung in Versuchsreihen am Gießerei-Institut überprüft wurde. Während die innerste, am Wachs anliegende Schicht möglichst fein sein mußte, um alle Details der Oberfläche abzubilden, hatten die nachfolgenden Schichten für die nötige Stabilität zu sorgen. In den gebrannten Überresten der mittleren Schicht hatten Poren beim archäologischen Fundmaterial den Hinweis auf die Beimischung von Haaren ergeben – ein Verfahren, das dann in der Praxis gute Ergebnisse zeitigte.

Weil moderne Gußformen in Spezialöfen bis zur völligen Trocknung geheizt werden, gab es für ein Heizen in Gruben keinerlei Erfahrungswerte. Deshalb war es einer der spannendsten Momente, als die Grube nach dem Aufbau der Form mit zwei Zwischenwänden abgeschlossen wurde und der eigentliche Heizvorgang begann. Am Anfang mußte die Form am Sockel vorsichtig mit glühender Holzkohle erwärmt werden, damit das Wachs von unten her flüssig werden und nach dem antiken Vorbild durch einen unterirdischen Kanal aus dem Heizbereich abfließen konnte. Die weitere Befeuerung erfolgte dann mit Holz über drei Tage und Nächte hinweg. Öffnungen in den Trennwänden, die man von den Installationen in Rhodos her kannte, ermöglichten in einem gewissen Umfang eine Steuerung des Brandes. Am Ende war die Form völlig durchgeglüht, aber stabil geblieben – die Funktionsfähigkeit der Grube war nachgewiesen.

Das Experiment und die Computersimulationen auf der Grundlage archäologischer Daten haben den Nachweis erbracht, daß die Statue des "Betenden Knaben" um 300 vor Christus in den hellenistischen Gießereianlagen in Rhodos entstanden ist. Die Restaurierung und Neuaufstellung mit Hilfe eines Tragegerüstes macht es nun möglich, das originale Kunstwerk gemeinsam mit den Ergebnissen des Forschungsprojekts in einer Ausstellung zu präsentieren. Den Besuchern bietet sich damit die Gelegenheit, den Herstellungsprozeß einer antiken Bronzestatue bis ins Detail nachzuvollziehen und mitzuerleben. Dies erscheint um so wichtiger, als Bronze in Griechenland häufiger für die Statuen verwendet wurde als Marmor und die Entwicklung des Menschenbildes weit mehr durch die Technologie des Bronzegusses beeinflußt wurde als bisher angenommen.

Die von der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin konzipierte Ausstellung "Der Betende Knabe – Original und Experiment" ist vom 21. Februar bis 27. April 1997 im Wissenschaftszentrum in Bonn-Bad Godesberg zu sehen. Geöffnet ist sie sonntags bis freitags von 10 bis 17 Uhr, donnerstags bis 18 Uhr; samstags und am 30. März geschlossen. Ab dem 5. November 1997 wird die Ausstellung im Pergamon-Museum in Berlin zu sehen sein.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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