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Teilchenphysik: Der große Hadronen-Collider

Der größte Beschleuniger aller Zeiten soll ab dem Jahr 2005 Quarks fast mit Lichtgeschwindigkeit gegeneinander jagen. Damit wollen die Forscher den Urknall simulieren und ergründen, wie die Elementarteilchen zu ihren Massen gekommen sind.


Wenn zwei Protonen mit 99,999999 Prozent der Lichtgeschwindigkeit frontal zusammenprallen, wird eine Energie von 14 TeV (Billionen Elektronenvolt) freigesetzt. Dieser Betrag entspricht der 14000fachen Ruhemasse eines Protons und verteilt sich auf die kleineren Bestandteile der beiden Protonen: die Quarks und deren Bindeteilchen, die Gluonen. Bei den meisten Kollisionen wird diese enorme Energie vergeudet, weil die einzelnen Quarks und Gluonen einander nur streifen; sie lösen einen tangentialen Schauer bekannter Partikel aus, die von den Physikern längst katalogisiert und analysiert worden sind. Doch gelegentlich stoßen zwei Quarks frontal zusammen, mit Energien bis zu zwei oder mehr TeV. Die Physiker sind sicher, dass die Natur bei solchen Kollisionen neue Geheimnisse preisgeben muss – vielleicht ein exotisches Teilchen namens Higgs-Boson, vielleicht Indizien für einen hypothetischen Effekt namens Supersymmetrie oder gar etwas gänzlich Unerwartetes, das die vertraute theoretische Physik auf den Kopf stellt.

Zuletzt haben derart heftige Quarkkollisionen sich in großer Zahl vor Milliarden Jahren ereignet: in der ersten Picosekunde (10–12 Sekunden) nach dem Urknall. Um das Jahr 2005 werden sie erneut geschehen, und zwar in einem kreisförmigen Tunnel unter der französisch-schweizerischen Grenze bei Genf. Wenn alles nach Plan läuft, haben dann Tausende Wissenschaftler und Ingenieure die gigantischen Detektoren für den Large Hadron Collider (LHC) fertig gebaut und können mit den Experimenten beginnen. Koordiniert wird das riesige und technisch einmalige Projekt, dessen Konstruktion bereits weit fortgeschritten ist, von Cern, dem europäischen Labor für Teilchenphysik; es ist vor allem für den eigentlichen Beschleuniger verantwortlich.

Der LHC wird rund siebenmal so viel Energie aufbringen wie der Tevatron-Collider des Fermi National Accelerator Laboratory in Batavia (Illinois), mit dem zwischen 1992 und 1995 das lange gesuchte top-Quark nachgewiesen wurde (siehe Spektrum der Wissenschaft 12/1997, S. 82). Seine vordem unerreichte Energie vermag der LHC zu erreichen, obwohl er in den Grenzen eines bereits vorhandenen 27-Kilometer-Tunnels gebaut wird; es beherbergt schon den Large Electron-Positron Collider (LEP), mit dem seit langem Präzisionstests der Teilchentheorie bei rund 1 Prozent der für den LHC geplanten Energie stattfinden.

Indem der LHC den LEP-Tunnel nutzt, vermeidet er die Probleme und riesigen Kosten, die durch den Bau eines neuen, größeren Tunnels sowie durch die Konstruktion von vier kleineren Injektor-Beschleunigern und anderer Hilfsanlagen entstehen würden. Doch um die beiden gegenläufigen 7-TeV-Protonenstrahlen durch die Biegungen des alten Tunnels zu krümmen, sind stärkere Magnetfelder nötig als für jeden je zuvor gebauten Beschleuniger. Zu diesem Zweck werden 1232 jeweils 15 Meter lange Magnete 85 Prozent der Tunnelstrecke umgeben. Sie werden durch supraleitende Kabel mit Strömen von 12000 Ampere versorgt; superflüssiges Helium wird die Leitungen auf 2 Kelvin kühlen, das heißt auf –271 Grad Celsius, zwei Grad über dem absoluten Nullpunkt der Temperatur.

Doch für ergiebige physikalische Experimente sind hochenergetische Protonen erst der Anfang. Was zählt, ist die Kollisionsenergie der einzelnen Quarks und Gluonen, denn die Gesamtenergie des Protons fluktuiert ungleichmäßig zwischen seinen Einzelbausteinen. Der LHC wird Protonenstrahlen nie da gewesener Intensität erzeugen, um die Anzahl der seltenen Zusammenstöße zwischen Quarks und Gluonen mit ungewöhnlich großen Energieanteilen zu erhöhen. Die Intensität oder "Luminosität" des LHC wird hundertmal größer sein als die früherer Beschleuniger wie des Tevatron und zehnmal größer als die des in den USA geplanten und nie fertig gebauten Superconducting Super Collider (SSC).

Der SSC wäre ein direkter Konkurrent des LHC gewesen und hätte zwei 20-TeV-Protonenstrahlen in einem 87 Kilometer langen Tunnelkreis bei Waxahachie (Texas) gegeneinander geschossen. Verglichen mit dem SSC wird der LHC seine geringere Strahlenergie großenteils durch die höhere Intensität wettmachen, aber die Experimente sind dadurch viel schwieriger durchzuführen. Außerdem können solch hohe Intensitäten Probleme schaffen, etwa Chaos in den Umlaufbahnen der Strahlen; das muss unbedingt verhindert werden, damit die Strahlen stabil und exakt fokussiert bleiben.

An vier Orten des LHC-Rings werden pro Sekunde eine Milliarde Kollisionen stattfinden, deren jede einzelne rund 100 Sekundärteilchen erzeugt. Riesige Detektoren, der größte etwa so hoch wie ein sechsstöckiges Gebäude, vollgepackt mit Tausenden ausgetüftelter Komponenten, werden die Kollisionstrümmer verfolgen. Komplizierte Computerprogramme müssen diese Datenflut in Echtzeit sorgfältig sichten und herausfinden, welche Fälle – vielleicht zehn bis hundert pro Sekunde – wert sind, für eine spätere genaue Off-line-Analyse aufgezeichnet zu werden.

Wenn wir die Natur bei immer höheren Energien erforschen, erschließen wir immer kleinere Bereiche der Materiestruktur. Die Experimente mit vorhandenen Beschleunigern sind bis zu einem Milliardstel eines Milliardstel Meters (10–18 Meter) vorgestoßen. Die Projektile des LHC werden noch tiefer in den Mikrokosmos eindringen, bis zu 10–19 Metern. Das allein wäre für die Physiker schon Grund genug, gespannt zu sein; aber die Erwartung wird noch gesteigert durch überzeugende Argumente dafür, dass dieser Bereich, dem der LHC nun erstmals zu Leibe rückt, die Antworten auf fundamentale Fragen birgt.

In den vergangenen dreißig Jahren haben die Teilchenphysiker ein recht geschlossenes Bild von der Struktur der Materie gewonnen: Das so genannte Standardmodell beschreibt sie erfolgreich bis hinunter zu 10–18 Metern (siehe Kasten Seite 73). Das Standardmodell charakterisiert präzise alle bekannten Bausteine der Materie sowie drei der vier Kräfte, denen ihr Verhalten gehorcht. Die Materiebausteine sind sechs Teilchen namens Leptonen und sechs Arten von Quarks. Eine der Kräfte, die starke Kraft, wirkt auf die Quarks und bindet sie zu hunderten Partikeln, die Hadronen heißen. Das Proton und das Neutron sind Hadronen, und ein Nebeneffekt der starken Kraft verbindet sie zu Atomkernen. Die beiden anderen Kräfte sind der Elektromagnetismus sowie die schwache Kraft, die nur auf sehr kleine Entfernungen wirkt; sie ist verantwortlich für den radioaktiven Betazerfall und entscheidend am Brennstoffzyklus der Sonne beteiligt. Das Standardmodell vereinigt diese beiden Kräfte trotz ihrer scheinbaren Verschiedenheit auf elegante Weise zur elektroschwachen Kraft.

Mehr als 20 Physiker haben für ihre Beiträge zum Standardmodell Nobelpreise gewonnen – von der Theorie der Quantenelektrodynamik (Nobelpreis 1965) über die Entdeckung des Neutrinos und des Tau-Teilchens (1995) bis zur theoretischen Arbeit von Gerardus ’t Hooft und Martinus J. G. Veltman an der Universität Utrecht (1999; siehe Spektrum der Wissenschaft 12/1999, S. 18). Doch obwohl das Standardmodell eine große wissenschaftliche Errungenschaft ist, die durch unzählige Experimente – manchmal mit außerordentlicher Präzision – bestätigt wurde, hat es erhebliche Mängel.

Lücken im Standardmodell


Erstens schließt das Modell Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie nicht befriedigend ein. Diese Theorie der Raumzeit und ihrer Wechselwirkungen mit Materie liefert eine elegante, experimentell sehr gut bestätigte Beschreibung der vierten Kraft, der Gravitation. Die Schwierigkeit besteht darin, dass das Standardmodell eine rein quantenmechanische Theorie ist, die Allgemeine Relativitätstheorie hingegen nicht; darum müssen die Vorhersagen der letzteren bei sehr kleinen Größenordnungen – sehr weit entfernt von dem Bereich, in dem sie erprobt ist – zusammenbrechen. Mangels einer quantenmechanischen Beschreibung der Gravitation ist das Standardmodell logisch unvollständig.

Zweitens enthält das Modell, obwohl es eine riesige Datenmenge erfolgreich durch einfache Grundgleichungen beschreibt, viele anscheinend beliebige Eigenschaften. Es ist zu barock, zu byzantinisch, als dass es die ganze Wahrheit sein könnte. Zum Beispiel erklärt es nicht, warum es gerade sechs Quarks und sechs Leptonen gibt statt etwa zwei oder vier. Auch erklärt es nicht, warum die Anzahl der Leptonen und Quarks gleich groß ist – oder ist das nur Zufall? Auf dem Papier können wir zwar Theorien konstruieren, die bessere Erklärungen liefern und in denen tiefe Zusammenhänge zwischen Quarks und Leptonen herrschen; aber wir wissen nicht, welche dieser Theorien – falls überhaupt eine – zutrifft.

Drittens hat das Standardmodell einen unvollendeten, unerprobten Wesenszug. Das betrifft kein nebensächliches Detail, sondern eine zentrale Komponente: einen Mechanismus zur Erzeugung der beobachteten Massen der Teilchen. Die Teilchenmassen sind äußerst wichtig: Beispielsweise würde eine Änderung der Masse des Elektrons die gesamte Chemie verändern, und die Massen der Neutrinos beeinflussen die Expansion des Universums. Die Neutrinomassen betragen zwar höchstens ein paar Millionstel der Elektronenmasse, sind aber nach neuen Experimenten wahrscheinlich nicht null (siehe Spektrum der Wissenschaft 10/1999, S. 44).

Die Physiker glauben, dass die Teilchenmassen durch Wechselwirkung mit einem Feld erzeugt werden, welches das gesamte Universum durchdringt; je stärker ein Teilchen mit diesem Feld wechselwirkt, desto größer ist seine Masse (siehe Kasten Seite 75). Doch das Wesen dieses Feldes bleibt unbekannt. Es könnte ein neues elementares Feld sein – das so genannte Higgs-Feld, nach dem britischen Physiker Peter Higgs. Oder vielleicht ist es ein zusammengesetztes Objekt, das aus neuen Teilchen besteht, den "Techniquarks", die durch eine neue Kraft namens "Technicolor" zusammengeschweißt werden. Selbst wenn es sich um ein elementares Feld handelt, sind viele Variationen des Higgs-Themas denkbar: Wie viele Higgs-Felder gibt es, und welche Eigenschaften haben sie im Einzelnen?

Dennoch wissen wir mit geradezu mathematischer Gewissheit, dass der Mechanismus, wie auch immer er aussehen mag, neue Phänomene im Energiebereich des LHC hervorrufen muss, seien es nun beobachtbare Higgs-Teilchen – als Ausdruck von Fluktuationen im zugehörigen Feld – oder Technipartikel. Das Hauptziel bei der Konstruktion des LHC ist deshalb, diese Phänomene zu entdecken und das Wesen des Masse erzeugenden Mechanismus festzustellen.

Die LHC-Experimente werden auch empfindlich für andere neue Phänomene sein, mit denen sich entscheiden lässt, welche bislang rein spekulative theoretische Erweiterung oder Ergänzung des Standardmodells nun wirklich stimmt. Um nur ein besonders interessantes Beispiel zu geben: Man nimmt allgemein an, dass die vollständigere Theorie die so genannte Supersymmetrie enthalten muss. Dadurch würde das Beziehungsgeflecht zwischen Elementarteilchen und Kräften wesentlich dichter. Außerdem umfasst die Supersymmetrie automatisch die Gravitation – und umgekehrt erfordert die einzige bekannte Theorie, welche Allgemeine Relativitätstheorie und Quantenmechanik erfolgreich zu kombinieren vermag, nämlich die Stringtheorie, dafür die Supersymmetrie. Falls letztere zutrifft, dürfen die Physiker mit gutem Grund hoffen, dass der LHC die von ihr vorhergesagten neuen Partikel tatsächlich findet.

Auf der Spur einer neuen Physik


Diese Phänomene könnten sogar schon entdeckt werden, bevor der LHC seine Arbeit aufnimmt. Die Energie des LEP-Colliders wird noch auf mehr als 100 GeV (Milliarden Elektronenvolt) pro Strahl gesteigert, und das Tevatron am amerikanischen Fermilab wird nach einer aufwendigen Ausbauphase, die 1999 abgeschlossen wurde, im nächsten Jahr wieder Strahlen von Protonen und Antiprotonen aufeinander schießen; in der Zwischenzeit untersucht das Fermilab andere physikalische Fragen, indem es seine Protonen auf ruhende Targets schießt. Beide Maschinen könnten dem LHC die Schau stehlen, aber selbst dann würden sie nur die Spitze eines neuen Eisbergs enthüllen; erst der LHC wird den Physikern die umfassende Erforschung der neuen Prozesse ermöglichen.

Wenn weder LEP noch Tevatron diese neuen Phänomene beobachten, dann wird der LHC die Jagd aufnehmen. Der ihm zugängliche Erkundungsbereich überlappt sich mit dem der heutigen Beschleuniger, sodass keine Lücke mehr bleibt, in der sich neue Physik verste-cken könnte. Zudem haben in den vergangenen sieben Jahren hochpräzise Messungen am LEP, am kalifornischen Stanford Linear Accelerator Center und am Fermilab praktisch alle Befürchtungen zerstreut, das Higgs-Boson könne sich jenseits des LHC-Energiebereichs verstecken. Nun steht fest, dass der LHC entweder das Higgs-Boson finden wird oder eine andere neue Physik, die mit der Erzeugung von Masse zusammenhängt.

Um diese Art von Physik zu treiben, müssen Bedingungen nachgestellt werden, wie sie eine Billionstelsekunde nach dem Urknall herrschten; diese Aufgabe treibt die modernste Technik bis an ihre Grenzen und darüber hinaus. Ich will nur drei besonders wichtige und technisch schwierige Untersysteme des LHC diskutieren: die Beschleunigermagneten, die Datengewinnung und die Detektoren.

Um den 7-TeV-Protonenstrahl auf Kurs zu halten, müssen die Krümmungsmagneten 8,3 Tesla erzeugen – das fast 100000-fache des natürlichen Erdfeldes und somit das höchste je in einem Beschleuniger verwendete Magnetfeld. Das gelingt nur mittels Supraleitung: Weil große Ströme widerstandsfrei durch dünne supraleitende Drähte fließen können, lassen sich Platz sparende Magneten für Feldstärken bauen, die mit herkömmlichen Magneten aus Kupferdraht unerreichbar wären. Um die Supraleitung im Normalbetrieb – bei Stromstärken von 12000 Ampere – aufrecht zu erhalten, müssen die Magnetkerne über eine Tunnelstrecke von insgesamt 22,4 Kilometern auf –271 Grad gekühlt werden. Eine Kältetechnik dieses Ausmaßes ist nie zuvor versucht worden.

Im Dezember 1994 wurde der Prototyp eines kompletten LHC-Abschnitts für 24 Stunden in Betrieb genommen; der Probelauf demonstrierte, dass die für die Magneten gewählte Technik funktioniert. Seither haben die Techniker an Prototypen rund 10 Jahre Laufzeit des LHC simuliert (siehe Foto Seite 70).

Seit der Bau des für 40 TeV Kollisionsenergie geplanten SSC im Jahre 1993 abgebrochen wurde, ist der auf 14 TeV ausgelegte LHC das einzige Beschleunigerprojekt der Welt, das ein vielseitiges Forschungsprogramm an der Hochenergie-Front zu unterstützen vermag. Zu Beginn der neunziger Jahre, als die Konstruktionspläne des SSC fertig vorlagen, sah die Strategie des LHC, Strahlen höchstmöglicher Intensität zu verwenden, sehr riskant aus; denn es war unklar, ob die Detektoren mit den riesigen Datenmengen fertig würden – oder mit den Strahlenschäden durch die unzähligen Sekundärteilchen. Doch dank der Entwicklungsarbeit an neuen Detektoren für den SSC und den LHC scheint diese Strategie nun aufzugehen.

Protonenbündel wie auf einer Perlenkette


Die intensiven Strahlen des LHC stellen die Experimentatoren bei der Datengewinnung vor gewaltige Probleme. Die Strahlen werden aus Protonenbündeln bestehen, die – im Abstand von 25 Milliardstelsekunden – wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht sind. An jedem Kollisionspunkt werden gegenläufige Paare solcher Bündel einander durchdringen, und zwar 40 Millionen Mal pro Sekunde, wobei jedes Mal rund 20 Proton-Proton-Kollisionen stattfinden. Die Kollisionen sind so häufig – 800 Millionen pro Sekunde –, dass die von der einen Kollision erzeugten Partikel noch den Detektor durchlaufen, während sich schon die nächste ereignet. Unter einer Milliarde solcher Kollisionen ist nur eine einzige, bei der zwei Quarks frontal zusammenstoßen. Um mit diesem rasenden Tempo Schritt zu halten, wandert die Information vom Detektor in elektronische Pipelines, deren Länge ausreicht, die Daten mehrerer Tausend Kollisionen aufzunehmen. Das gibt der Elektronik unterwegs genügend Zeit, zu entscheiden, ob eine Kollision interessant ist und aufgezeichnet werden soll, bevor die Daten das Ende der Pipeline erreichen und verloren gehen. Die LCH-Detektoren werden mehrere zehn Millionen solcher Auslese- und Speicherkanäle haben. Am Ende der Pipelines sämtliche Signale zusammenzufügen, die von der selben Proton-Proton-Kollision stammen, ist eine fast unvorstellbar komplizierte Aufgabe.

Teilchendetektoren sind die elektronischen Augen der Physiker, mit denen sie sorgsam jede Kollision auf Anzeichen für interessante Ereignisse prüfen. Der LHC wird vier Detektoren haben. Zwei sind riesig und konstruiert wie eine russische Matrjoschka-Puppe aus ineinander geschachtelten Modulen und einem Kollisionspunkt im Zentrum. Jedes Modul ist vollgepackt mit modernster Technik und speziell darauf ausgelegt, bestimmte Beobachtungen auszuführen, bevor die Partikel die nächste äußere Schicht erreichen. Diese Vielzweck-Detektoren namens ATLAS und CMS ragen 22 Meter empor und sollen nach Higgs-Teilchen und Supersymmetrien Ausschau halten; sie zeichnen möglichst viele Kollisionsprodukte auf und melden alles Ungewöhnliche. Zwei kleinere Detektoren, ALICE und LHCb, werden sich auf unterschiedliche Spezialgebiete der Physik konzentrieren.

Sowohl ATLAS als auch CMS sind optimal auf das Entdecken energiereicher Myonen, Elektronen und Photonen ausgerichtet; deren Vorhandensein könnte die Produktion neuer Partikel wie des Higgs-Bosons signalisieren. Allerdings verfolgen die beiden Anlagen ganz verschiedene Strategien und verwenden einander ergänzende Konstruktionen und Techniken. Über Jahre hinweg haben Computersimulationen ihres Betriebs gezeigt, dass sie imstande sind, alle denkbaren neuen Phänomene zu entdecken, die bei extremen Kollisionsenergien auftreten mögen. ATLAS (A Toroidal LHC ApparatuS) beruht auf einem riesigen Ringmagneten, der mit Detektoren für Myonen in Luft ausgerüstet ist. CMS (Compact Muon Solenoid) verfolgt einen traditionelleren Ansatz: Kammern innerhalb des Rückschlussjochs um die supraleitende Spule eines sehr leistungsstarken Elektromagneten weisen Myonen nach.

Teilweise besteht der CMS-Detektor aus Kristallen, die aufleuchten, sobald Elektronen und Photonen eindringen. Diese Szintillationskristalle sind extrem schwierig herzustellen, und das CMS profitiert von der Erfahrung, die beim gegenwärtigen Cern-Experiment L3 mit solchen Kristallen gewonnen wurde. Der L3-Detektor ist einer von vier, die seit 1989 am LEP-Collider in Betrieb sind, um Präzisionsmessungen der schwachen Kraft durchzuführen; dabei hat sich bestätigt, dass – in Übereinstimmung mit dem Standardmodell – genau drei Typen von Neutrinos mit verschwindender oder sehr kleiner Masse existieren. Früher wurden solche Kristalle nur in geringer Zahl hergestellt, doch L3 brauchte 11000 davon. Der für L3 entwickelte Kristalltyp wird nun häufig für bildgebende Verfahren in der Medizin eingesetzt. Das CMS braucht mehr als siebenmal so viele Kristalle aus robusterem Material. In Zukunft werden die überlegenen CMS-Kristalle vermutlich in der Medizin eine noch größere Rolle spielen.

ALICE (A Large Ion Collider Experiment) ist ein spezielleres Gerät, das seiner eigentlichen Bestimmung erst gerecht werden wird, wenn der LHC Bleikerne mit der enormen Energie von 1150 TeV gegeneinander prallen lässt. Die Physiker erwarten, dass bei dieser Energie die mehr als 400 Protonen und Neutronen in den kollidierenden Kernen quasi schmelzen, ihre Quarks und Gluonen freisetzen und ein Kügelchen aus Quark-Gluon-Plasma bilden, wie es im Universum rund 10 Millisekunden nach dem Urknall herrschte (siehe Spektrum der Wissenschaft 5/1999, S. 56). ALICE ist um den Magneten des L3-Experiments angeordnet und enthält neue Detektoren zur Untersuchung des Quark-Gluon-Plasmas.

Es gibt starke Indizien, dass bei Cern-Experimenten bereits ein Quark-Gluon-Plasma erzeugt wurde. In den kommenden Jahren hat der Relativistische Schwerionen-Collider RHIC (Relativistic Heavy Ion Collider) am Brookhaven National Laboratory auf Long Island (US-Bundesstaat New York) eine gute Chance, das Quark-Gluon-Plasma im Detail zu erforschen, indem er zehnmal mehr Energie pro Nukleon in die Kollisionen packt als das derzeit laufende Cern-Programm. Der LHC wird dies nochmals um den Faktor 30 überbieten. Die höhere Energie des LHC wird sich mit der größeren Vielfalt der RHIC-Experimente ergänzen, und beide zusammen garantieren eine gründliche Untersuchung der frühesten Phase der kosmischen Evolution.

Gegenstand der LHCb-Forschungen sind die B-Mesonen; sie könnten uns erklären helfen, warum das Universum praktisch ausschließlich aus Materie besteht statt aus gleichen Mengen von Materie und Antimaterie (siehe Spektrum der Wissenschaft 12/1998, S. 90). Ein solches Ungleichgewicht kann nur entstehen, wenn exotische schwere Quarks und Antiquarks unterschiedlich häufig in ihre leichteren Verwandten zerfallen. Das Standardmodell lässt sich zwar an dieses Phänomen – die so genannte CP-Verletzung – anpassen, aber wahrscheinlich nicht genügend, um die Vorherrschaft der Materie im Universum vollständig zu erklären. Die Physiker haben die CP-Verletzung beim Zerfall der strange-Quarks beobachtet, aber sie benötigen Daten über schwere bottom-Quarks und deren Antiteilchen – die Bausteine der B-Mesonen –, um zu klären, ob das Standardmodell zutrifft.

Im Jahre 1999 begannen Experimente an zwei "B-Mesonen-Fabriken" in Kalifornien und Japan, die pro Jahr zehn Millionen B-Mesonen und mehr produzieren können. Die hohe Luminosität der LHC-Strahlen vermag sogar eine Billion B-Mesonen jährlich zu erzeugen; dies ermöglicht viel präzisere Untersuchungen und vielleicht die Entdeckung wichtiger exotischer Zerfallsformen, die wegen ihrer Seltenheit in den anderen Fabriken nicht deutlich hervortreten.

Ein Teilchenlabor für die ganze Welt


Derart ehrgeizige Experimente wie das LHC-Projekt sind für jedes einzelne Land zu teuer. Natürlich hat internationale Zusammenarbeit in der Teilchenphysik stets eine Rolle gespielt, und die Wissenschaftler zogen zu denjenigen Einrichtungen – wo auch immer sie lagen –, die ihren Forschungsinteressen am besten entsprachen. Je größer und kostspieliger die Detektoren wurden, desto mehr wuchsen auch Umfang und geographische Streuung der Kollaborationen, die zu ihrer Konstruktion beitrugen. Die Notwendigkeit, den Informationsaustausch zwischen den großen LEP-Kollaborationen zu erleichtern, gab letztlich auch den Anstoß für die Erfindung des World Wide Web durch Tim Berners-Lee bei Cern.

Anfänglich sollte der LHC-Beschleuniger nur durch die damaligen 19 europäischen Cern-Mitgliedstaaten finanziert werden, und der Bau sollte in zwei Phasen nach einem unerfreulich langsamen Zeitplan ablaufen; dieser Plan war wissenschaftlich gesehen schlecht und insgesamt kostspieliger als eine schnellere Entwicklung in einer einzigen Bauphase. Zum Glück werden nun zusätzliche Finanzmittel von anderen Ländern – die rund 40 Prozent der LHC-Nutzer stellen werden – das Projekt beschleunigen und verbessern. Kanada, Indien, Israel, Japan, Russland und die USA haben Beiträge zur Herstellung der Beschleuniger-Komponenten sowie Mitarbeit an den Detektoren zugesagt. Beispielsweise liefert das japanische KEK-Laboratorium 16 spezielle Fokussiermagneten. Die USA, aus denen sich bereits mehr als 550 Wissenschaftler an den LHC-Experimenten beteiligen, werden nicht nur die größte nationale Gruppe stellen, sondern die amerikanischen Einrichtungen Brookhaven, Fermilab und Lawrence Berkeley National Laboratory werden Beschleuniger-Komponenten entwerfen und fabrizieren.

Verglichen mit früheren Detektoren werden an ATLAS und CMS mindestens viermal so viele Teilnehmer tätig sein. Insgesamt bauen 5000 Wissenschaftler und Ingenieure von mehr als 300 Universitäten und Forschungsinstituten in 50 Ländern auf sechs Kontinenten die vier Detektoren. Wenn möglich, werden die Komponenten in den teilnehmenden Institutionen konstruiert – wobei die dortigen Studenten durch die Mitarbeit an solchen Projekten großartige Ausbildungschancen erhalten – sowie in Zusammenarbeit mit der örtlichen Industrie. Auch die Datenanalyse wird gestreut. Diese technisch avancierten Projekte zu organisieren wird eine gewaltige Aufgabe: Einerseits gibt es strenge technische Auflagen und enge Zeitvorgaben, andererseits müssen die demokratischen Spielregeln beachtet werden, damit wissenschaftliche Initiative und freie Forschung gedeihen können.

Bis jetzt ist Cern ein vorwiegend europäisches Laboratorium. Mit dem LHC wird es sich zu einem Labor für die gesamte Welt erweitern. Schon heute machen seine 7000 wissenschaftlichen Nutzer mehr als die Hälfte aller experimentellen Teilchenphysiker der Erde aus. Im Jahre 1994 fand John Peoples jr., der damalige Fermilab-Direktor, in seinem Glückwunschbrief zum 40. Geburtstag von Cern treffende Worte: "Seit 40 Jahren gibt Cern der Welt ein lebendes Beispiel für den Nutzen internationaler Zusammenarbeit zur Förderung menschlichen Wissens. Mögen Cerns nächste 40 Jahre nicht nur neues Verständnis für unser Universum bringen, sondern auch besseres Verständnis unter den Nationen."

Literaturhinweise


Supersymmetry. Von Gordon Kane. Perseus Publishing, 2000.

The Particle Century. Von Gordon Fraser (Hg.). Institute of Physics, 1998.




Steckbrief


Der Large Hadron Collider (LHC) ist bei Cern, dem europäischen Labor für Teilchenphysik, im Bau und soll nach seiner Fertigstellung noch in diesem Jahrzehnt Protonen auf nie dagewesene Energien beschleunigen.

Hadronen sind Materiebausteine – zum Beispiel Protonen und Neutronen –, die aus Quarks zusammengesetzt sind und durch Gluonen, die Quanten der starken Kraft, zusammengehalten werden.

Collider sind Ringbeschleuniger, in denen zwei Teilchenstrahlen im Gegensinn umlaufen – im LHC mit je 7 TeV (Billionen Elektronenvolt) Energie.

Ein Elektronenvolt ist die Energie, die ein Elektron beim Durchlaufen einer Spannungsdifferenz von 1 Volt gewinnt.




Das Standardmodell


Das Standardmodell der Teilchenphysik umfasst unser Wissen über die fundamentalen Partikel und ihre Wechselwirkungen. Es enthält zwei Sorten von Teilchen: Materieteilchen und Partikel, die Kräfte übertragen. Zum Beispiel wird die elektromagnetische Kraft zwischen einem Proton und einem Elektron durch zwischen ihnen ausgetauschte Photonen (Lichtquanten) erzeugt.

Die Materieteilchen bilden drei Familien zu je vier Partikeln, wobei jede Familie sich nur durch ihre Massen von den anderen unterscheidet. Die uns umgebende Materie besteht praktisch nur aus Partikeln der leichtesten Familie: up-Quarks, down-Quarks, Elektronen und Elektron-Neutrinos. Die beiden anderen Familien von Materieteilchen existieren nur vorübergehend nach hochenergetischen Kollisionen; Neutrinos sind allerdings langlebig.

Die Quarks werden durch die von Gluonen übertragene starke Kraft zu so genannten Hadronen zusammengefügt; zu diesen gehören Protonen und Neutronen, die Bausteine der Atomkerne. Die Elektronen werden von diesen Kernen durch die elektromagnetische Kraft angezogen und umkreisen die Kerne auf festen Bahnen; so entstehen Atome und Moleküle. Die schwache Kraft wird von den W- und Z-Teilchen übertragen; sie ist am Brennstoffzyklus der Sonne beteiligt und für den Zerfall von Atomkernen – unter Emission eines Elektrons und eines Neutrinos – verantwortlich.

Die Gravitation – die schwächste Kraft – ist uns am besten vertraut, weil sie auf Massen wirkt und wir auf der Erde leben, einem sehr massereichen Objekt. Vermutlich sind so genannte Gravitonen die Träger dieser Kraft; sie sind aber wegen der Schwäche der Schwerkraft noch nicht nachgewiesen worden. Außerdem passen die Gravitonen nicht richtig ins Standardmodell.

Warum die Natur gerade drei Materie-Familien bevorzugt, ist eine der vielen Fragen, die das Standardmodell selbst nicht zu beantworten vermag. Zwar gilt das Modell als eine der großen wissenschaftlichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, doch kann es nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer vollständigeren Beschreibung der Naturkräfte sein.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2000, Seite 68
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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