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Der große Raub im Abwasserkanal

Wozu soll man nach der kürzesten Kurve suchen, die sämtliche Tangenten eines fest vorgegebenen Kreises schneidet? Um eine alte Ziege rechtzeitig zu finden.

Sherlock Holmes packte gerade seine Koffer, als ich bei ihm eintraf. "Watson", rief er etwas atemlos, "wir müssen sofort nach Schloß Ghastleigh fahren. Der Herzog ist in großer Gefahr. Hugh Dunnett, sein früherer Diener, der wegen Mordes im Gefängnis saß, ist ausgebrochen" (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1993, Seite 10).

Während der langen Eisenbahnfahrt versuchte ich mir die Zeit mit einem Heftchen voll mathematischer Rätsel zu vertreiben. "Holmes, das hier ist hübsch. Ein Mann befindet sich mitten auf einem See, und plötzlich zieht undurchdringlicher Nebel auf. Welches ist der kürzeste Weg, der ihn mit Sicherheit ans Ufer führt? Anscheinend hat das noch keiner herausgebracht. Aber angeblich soll man erst ein Stück geradeaus rudern, dann scharf links abbiegen, dann wieder ein Stück geradeaus, dann eine Weile ziellos umherkurven und dann" – ich blätterte – "ah ja, wieder ein Stück geradeaus."

"Faszinierend", erwiderte Holmes, gähnend und mit kaum verhülltem Sarkasmus. "Sehen Sie, wir sind da."

Der Herzog sah ziemlich mitgenommen aus. "Holmes, ich fürchte, die Ziege von Ghastleigh ist gestohlen worden." Das fragliche Tier war ein Familienerbstück, etwa einen Meter lang und aus Bronze. Der Materialwert war gering, der künstlerische – sagen wir – umstritten; aber in der Statue war eine versteckte Schublade mit hochgeheimen Dokumenten.

"Dunnett war da", murmelte Holmes. "Schnell, zeigen Sie mir, wo die Ziege aufbewahrt wurde."

Der Herzog führte uns in ein enges Kellergewölbe (Bild 1). "Hier", sagte er und wies auf einen großen Safe in einer Ecke. Holmes untersuchte den Schacht, der auf den Abwasserkanal führte, das Lüftungsgitter in der Decke sowie die Schlösser an Tür und Safe. Er schnupperte nachdenklich.

"Der Fall ist klar, Durchlaucht", sagte er plötzlich. "Der Dieb kam durch das Lüftungsgitter und verließ den Raum auch auf diesem Weg. Er brach den Safe auf und nahm die Ziege heraus. Aber das Bronzetier paßte nicht durch das Gitter. Deshalb befestigte er es an einem aufblasbaren Gummischlauch und ließ es durch den Schacht in den Abwasserkanal hinunter. Das Abwasser sollte das improvisierte Schlauchboot samt Ladung hinaustragen; am Auslauf des Kanals wollte der Dieb seine Beute in Empfang nehmen. Aber der Schlauch muß ein Loch gehabt haben. Denn die Ziege sank zu Boden und blockierte den Kanal, wie Sie dem Gestank unschwer entnehmen können. Haben Sie vielleicht eine Taucherausrüstung?"

Der Herzog schüttelte bedauernd den Kopf.

"Wie verläuft denn der Kanal?"

"Die Pläne sind im Laufe der Jahrhunderte verlorengegangen. Aber vor kaum 150 Jahren ist der Kanal in der Nähe der Säule mit der Nymphe in gerader Linie neu gemauert worden. Dort sollten wir uns Zugang verschaffen – und zwar schnell, ehe es Dunnett gelingt."

"Wir werden einen langen Suchgraben ausheben müssen", gab ich zu bedenken.

"Der Kanal verläuft nicht weiter als 100 Yards von der Säule entfernt", ergänzte der Herzog.

Holmes ging mit der berühmten analytischen Schärfe seines Verstandes an die Sache heran. "Wir suchen die kürzeste Kurve, die mit Sicherheit jede gerade Linie trifft, die innerhalb von 100 Yards an der Nymphe vorbeiführt" (Bild 2).

"Wir könnten einen kreisförmigen Graben mit 100 Yards Radius um die Säule ausheben", schlug der Herzog vor.

"Mit einer Länge von 200 PI, also ungefähr 628 Yards", rechnete Holmes schnell vor. "Geht es nicht kürzer?"

"Wie wäre es mit einer 200 Yards langen geraden Linie, die diesen Kreis durchschneidet?" fragte ich.

"Ausgezeichnet, Watson. Nur verfehlt ein solcher Graben viele mögliche Kanalwege."

"Na gut, dann eben zwei solche Gräben, im rechten Winkel zueinander. Macht zusammen 400 Yards."

"Gleiches Problem."

"Dann verlängern wir die Gräben, bis sie die Diagonalen des umbeschriebenen Quadrats sind. Das ist dann mit Sicherheit ausreichend."

"Stimmt. Hmm... 4 mal Wurzel aus 2 mal den Radius... 566 Yards. Schon besser. Aber denken wir doch einmal abstrakt. Wir suchen die kürzeste Kurve, die jede Sehne des Kreises schneidet. Eine Sehne ist eine gerade Linie, die den Kreis in genau zwei Punkten trifft."

"Aber Holmes, das sind ja unendlich viele Sehnen!"

"Schon recht. Aber das ist nicht die größte Schwierigkeit." Nach einigem Grübeln: "Ich hab's. Es genügt, die Tangenten zu betrachten, also Geraden, die den Kreis nur in einem Randpunkt berühren. Denn eine Kurve, die alle Tangenten trifft, muß auch alle Sehnen schneiden."

"Wieso?"

"Nehmen wir an, ich hätte eine solche Kurve. Sie wählen eine beliebige Sehne, und ich beweise Ihnen, daß die Kurve sie trifft."

"Bitte."

Holmes nahm einen Stock und zeichnete in den Schnee (Bild 3 a). "Betrachten Sie die beiden Tangenten, die zu der Sehne parallel sind. Meine Kurve schneidet nach der Voraussetzung beide Tangenten; nennen wir die Schnittpunkte B und C. Aus Stetigkeitsgründen muß dann der Teil der Kurve, der B mit C verbindet, die Sehne treffen."

"Ach so. Aber was sagt uns das für unseren Graben?"

Holmes kratzte sich am Kinn. "Ich habe es fast heraus, aber mein Gedankengang hat noch eine Lücke."

Der Herzog wurde ungeduldig. "Wir haben keine Zeit, uns über die Einzelheiten Gedanken zu machen. Worin besteht Ihre allgemeine Idee?"

"Nun, es gibt eine Klasse von Kurven, die garantiert jede Tangente schneiden. Man greife sich eine spezielle Tangente heraus und wähle auf ihr zwei Punkte A und D beiderseits des Berührpunkts. Die Kurven verlaufen von dem einen der beiden Punkte zum anderen, aber um den Kreis herum, wobei sie stets außerhalb der Kreislinie bleiben – oder allenfalls auf ihr" (Bild 3 b).

"Weiter, weiter."

"Die kürzeste solche Kurve zu gegebenen Punkten A und D ist einfach zu finden. Zunächst ist klar, daß sie den Kreis irgendwo berühren muß. Wäre das nicht der Fall, könnte man sie gewissermaßen strammziehen, bis sie den Kreis berührt, und sie würde dadurch kürzer. Nennen wir den ersten Berührpunkt mit dem Kreis B und den letzten C. Dann müssen AB und CD gerade Linien sein, denn sonst könnte man die Kurve durch Strammziehen dieser Segmente verkürzen. Außerdem muß aus ähnlichen Gründen BC ein Bogen des Kreises sein."

"Ich glaube, AB und CD müssen Tangenten an den Kreis sein", bemerkte ich. "Denn wären sie das nicht, könnte man die Kurve weiter verkürzen, indem man B und C so verschiebt, daß AB und CD Tangenten sind" (Bild 3 c).

"Richtig. Aber wo sollten die Punkte A und D liegen? Ich denke, AB und CD müssen beide senkrecht auf der Tangente AD stehen. Denn sonst könnten wir A und D variieren, bis das erreicht ist, und hätten abermals das Band verkürzt" (Bild 3 d).

"Jetzt haben wir's", rief ich aus. "Der Bogen BC ist ein Halbkreis. Damit haben wir die kürzeste Kurve gefunden!"

"Nur unter der einschränkenden Bedingung, daß die Kurve an zwei Punkten ein und derselben Tangente beginnt und endet", bremste mich Holmes. "Aber man kann sich kaum vorstellen, wie eine Kurve, die der ursprünglichen Forderung genügt, noch kürzer sein könnte."

Wir standen einige Minuten still da.

"Vielleicht genügt ja, was wir haben", sagte ich schließlich. "Wie lang ist denn nun diese kürzeste Kurve?"

"(2+PI)r, also ungefähr 514 Yards in unserem Falle."

"Das ist immerhin 114 Yards kürzer als nach meinem Plan", rief der Herzog aus. "Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich werde die Leute zusammenrufen."

Während sie gruben, suchten Holmes und ich weiter nach noch kürzeren Kurven, aber ohne Erfolg. "Holmes, erinnern Sie sich an mein Rätselbuch?" Ich zog es aus der Tasche. "Hören Sie zu: Der kürzeste Weg, der jede Tangente an einen Kreis vom Radius r trifft, besteht aus zwei parallelen Geradenstücken der Länge r und einem Halbkreis."

"Genau wie ich herausgefunden habe. Ich gebe es ja zu, Watson, ich habe den Wert Ihres kleinen Büchleins sträflich unterschätzt. Aber woher wissen wir, daß die vorgeschlagene Kurve wirklich die kürzeste ist?"

"Der mathematische Beweis ist über jeden Zweifel erhaben – allerdings furchtbar kompliziert. Es wäre höchst interessant, wenn jemand einen kurzen, eleganten Beweis finden würde."

Holmes versank wieder in tiefes Nachdenken. "Die geraden Enden der Kurve sind mir noch zu verschwenderisch. Es ist nicht sehr geschickt, so weit entfernt vom Kreis zu graben... Aber wozu auch? Watson, wir haben einen Denkfehler gemacht!"

"Und zwar?"

"Wir haben bislang darauf bestanden, daß der Graben zusammenhängend sein soll. Was es jedoch zu minimieren gilt, ist nicht etwa die Länge eines einzelnen Grabens, sondern der Grabungsaufwand. Wir legen zwei getrennte Gräben an; einer sieht fast so aus wie die optimale Kurve, nur sind die Geradenstücke kürzer. Als Ersatz dafür graben wir ein Stück parallel zu ihnen genau in die Mitte. Insgesamt gibt es weniger zu tun" (Bild 4).

"Das ist ja interessant. Und wenn man nun drei, vier, beliebig viele Gräben anlegen würde...?"

Der Herzog unterbrach unsere Überlegungen. Seine Arbeiter hatten den Abwasserkanal gefunden.

Holmes peilte in Richtung der Verlängerung des Kanals. "So werden wir den Auslauf – und den Dieb – da hinten im Gestrüpp finden."

Wir versteckten uns und warteten. Kaum war die Sonne untergegangen, als wir Schritte hörten. Eine maskierte Person tauchte auf, und Holmes ergriff sie. "Na also", erklärte er. "Wie ich schon zu Anfang logisch hergeleitet habe, ist das – aber wer sind Sie denn?"

"Mein Gott, das ist Lucinda, die Magd", rief der Herzog aus. "Was machen Sie hier?"

Lucinda fiel auf die Knie. "Um Vergebung, Durchlaucht!" Nach einigem Zittern und Schluchzen war sie bereit, ihre Geschichte zu erzählen: "Gestern mußte ich in den Keller gehen. Die Tür war verschlossen, also zwängte ich mich von oben durch das Lüftungsgitter. Der Safe stand offen, und ich sah darin eine komische alte Ziege. Ich wurde neugierig und zog sie heraus, um sie mir anzusehen, aber sie war sehr schwer. Sie fiel mir aus Versehen in den Abwasserkanal hinein. Daraufhin geriet ich in Panik. Schnell schloß ich den Safe und machte mich aus dem Staube. Ich wollte die Ziege zurückstellen, sobald ich – na ja. Ich wollte durch den Abwasserkanal kriechen, um sie zu bergen, als plötzlich dieser Gentleman" – sie lächelte Holmes verführerisch an – "auf mich sprang."

"Das ist ja wundervoll. Die Ziege von Ghastleigh liegt leicht erreichbar am Boden des Schachtes", grübelte der Herzog, "ich habe einen 500 Yards langen Graben in meinem Rasen, und Dunnett bleibt verschwunden." Er starrte Holmes befremdet an.

"Das ist alles eine Frage des logischen Schließens", sagte Holmes. "Wenn Sie das Unmögliche ausgeschlossen haben, dann ist das, was übrigbleibt, so unwahrscheinlich es auch sein mag..."

"Ja, Holmes, ja! Fahren Sie bitte fort", rief ich.

"... unwahrscheinlich", beendete er seinen Satz. "Aber zitieren Sie mich nicht damit."

"Meine Lippen sind versiegelt." Aber mein Notizbuch nicht. Und von irgend etwas muß ein Biograph ja schließlich leben.

Literaturhinweise

Unsolved Problems in Geometry. Von Hallard T. Croft, Kenneth J. Falconer und Richard K. Guy. Springer, 1991.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1996, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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