Direkt zum Inhalt

Der halbierte Mensch. Die Naturwissenschaften und die Seele des modernen Menschen


Der Schurke im Stück ist bald ausgemacht, aber die Rettung läßt auf sich warten. Bryan Appleyard macht es spannend und läßt uns, wie im Genre üblich, bis zur letzten Minute – sprich zu den letzten anderthalb Seiten seines langen Essays – im ungewissen.

Was bis dahin geschah: Das Selbst ist bedroht durch die Wissenschaft, die mit „dem Anderen“ nicht koexistenzfähig ist und „mit ihrer unendlichen Offenheit in unsere Seelen eindringt“. Jenes „Andere“, das mag der verbleibende Teil des „Halbierten Menschen“ im Titel der Übersetzung sein. (Das Original erschien 1992 unter „Understanding the Present – Science and the Soul of Modern Man“; daß es sogleich ins Deutsche übertragen wurde, mag auch daran liegen, daß Appleyard aus diesem Sprachraum reichlich zitiert.) Für den „Sunday Times“-Kolumnisten Appleyard hat das „Andere“ vor allem eine religiöse Dimension. Mit dem Eindringen in die Seelen meint er auch die im Namen der Wissenschaft unternommenen Vorstöße, „Bewußtsein“, „Selbst“, „Ich“ zu beschreiben – sowohl politökonomische als auch psychoanalytische und evolutionsbiologische Vorstöße bis hin zur künstlichen Intelligenz.

Jedoch: „Kurzes Nachdenken würde selbst ein Kind davon überzeugen, daß wir völlig anders sind als alles andere in der Natur.“ Vom philosophisch radikalisierten „Ich“ bis zum biologischen Individuum (die Entdeckung der DNA wird als Schritt auf dem Wege zur Entschlüsselung des Selbst aufgeführt): Es geht ein bißchen viel unter Appleyards Hut des Selbst.

Um das Selbst – oder die Seele – zu retten, fordert er die Verteidigung der Kultur. Darüber mag man verblüfft sein, da ja die Kultur ihrerseits in Verdacht steht, die Entfremdung des Individuums verantworten zu müssen. Der Zusammenhang mit der Rettung der Seele ergibt sich daraus, daß Kultur bei Appleyard „die Verkörperung der Religion einer Nation darstellt“.

An entscheidender Stelle tritt die Philosophie Ludwig Wittgensteins (1889 bis 1951) auf, die aus seiner Spätphase der „Philosophischen Untersuchungen“: „Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich auf dem harten Fels angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: ,So handle ich eben.‘“ Wittgenstein hält eine Privatsprache gegenüber den seelischen Erlebnissen für unmöglich, dargelegt am Beispiel der Schmerzempfindung; diese Auffassung und seinen Rekurs auf das sprachliche Kollektiv wendet Appleyard – erheblich vereinnahmend – ethisch. Weil die seelischen Dinge dem Kollektiv zugehören, gilt dies auch für das Handeln. Interessant und verblüffend ist dieser ethische Rekurs auf das Kollektiv schon, vom Grundsätzlichen her, aber überzogen, wenn daraus auf dem politischen Feld die Verteidigung der eigenen religiösen Kultur gegenüber Konkurrenz innerhalb und außerhalb der Gesellschaft gefordert sein sollte.

Manche könnten dem durchaus ein gewisses politisches „Gschmäckle“ abgewinnen, und möglicher- und bedauerlicherweise ist das auch im Sinne Appleyards. Der Aufruf, die eigene Kultur nicht zu leugnen, mag noch angehen; aber Appleyard versäumt es, Pflöcke gegen eine Kreuzzugsmentalität zu setzen. Jede ethische oder religiöse Verwurzelung, so muß eingewendet werden, gerät in der Begegnung mit anderen Kultureinflüssen – unter anderem naturwissenschaftlichen – ins Dilemma.

Wegen seiner mit kurzem Aplomb hingesetzten Lösung allein würde sich der lange Lektüre-Weg nicht lohnen. Appleyard beschreibt auch andere, von ihm für unzulänglich gehaltene Ansätze, die Seele des modernen Menschen zu retten: zum Beispiel Spiritualität, die mit den großen Themen der modernen Naturwissenschaften möglicherweise mitgeliefert wird oder sich um die Naturwissenschaften herum entfaltet. Seine Kritik an solchen Ansätzen von Religionsersatz stützt sich auf den Soziologen Max Weber (1864 bis 1920). Was Appleyard aber insgesamt präsentiert, ist ein weiterer kulturgeschichtlicher Abriß zur Geschichte des Erfolgs der Naturwissenschaften (wie auch der Katastrophen der naturwissenschaftlich dominierten Neuzeit). Was hat man von einem solchen weiteren Versuch zu gewärtigen, und worin weicht er vom Üblichen ab?

Prägnant sind die Linien schon gezeichnet, etwa die gravitierende Rolle des cartesianischen oder des thomistischen Denkens, bei deren Urhebern Appleyard die Dammbruchstellen angelegt sieht: René Descartes (1596 bis 1650), der die Seele „ausklammerte“ beziehungsweise an einen unhaltbaren Platz in der Zirbeldrüse verbannte, und Thomas von Aquin (um 1225 bis 1274), der – das denkerische Potential des Altertums einbringend – im Spätmittelalter die christliche Theologie intellektualisierte, schon damals nicht viel anders als moderne Vertreter der harten Physik um eine „Theorie von Allem“ bemüht. Was die Erklärung für das Aufkommen der Naturwissenschaften ausgerechnet im Okzident angeht, so gibt es hier interessante Anregungen, aber keine leichtfertige Festlegung.

Kann ein Buch sich seinen Autor aussuchen? „Dieses Buch kann nur ein Nicht-Naturwissenschaftler schreiben“, fordert es mit Ungestüm. Der Autor, 1951 in Manchester geboren, äußerte sich bisher in Büchern und Zeitschriften in der Tat eher zu kunst- und kulturkritischen Themen, bekennt sich aber zu einer nachhaltigen naturwissenschaftlichen Sozialisation. Sein biographisch produktiv-gespanntes Verhältnis zu den Naturwissenschaften trieb ihn, die Kulturkritik auf diesem Spannungsfeld fortzusetzen. Über einen feuilletonistischen Bonus, was die polemische Zuspitzung angeht, läßt sich reden, aber dieser Reiz wird nicht lange vorhalten. Im übrigen spürt man eine gewisse Glut, einen Furor, von dem man sich ein Stück weit mitreißen ließ.

Mit seiner Auswahl von Philosophen und Philosophemen liegt Appleyard im aktuellen Trend der „neuen Unbestimmtheit“, an dem sich ja mittlerweile auch die Naturwissenschaften beteiligen; und er befindet sich auf der Höhe der Diskussion, was die wissenschaftlichen Punkte angeht. Daß die Gaia-Hypothese von James A. Lovelock und die der morphogenetischen Felder von Rupert Sheldrake einigermaßen ernsthaft zitiert werden – damit muß man wohl zu diesen Zeiten leben.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1993, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.