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Paläoanthropologie: Der Hominiden-Korridor Südostafrikas

Ein Fenster in die überraschend bewegte Vergangenheit afrikanischer Vor- und Urmenschen öffnete sich auf ihrer schmalsten möglichen Wanderroute, zwischen den beiden weit auseinander liegenden Hauptfundgebieten.


In Afrika stand die Wiege unserer Vorfahren – der Vormenschen wie der Urmenschen. Vor allem der Osten des Kontinents erwies sich immer wieder als Katalysator für die Entwicklung des Menschen. Dort entstand der aufrechte Gang, bekam das Gehirn erstmals mehr Gewicht, buchstäblich und im übertragenen Sinne. So weit sind sich heute die Paläoanthropologen einig. Über die Details des evolutiven Werdegangs der Hominiden – der Menschenartigen – gehen die Meinungen allerdings teilweise weit auseinander, trotz oder vielleicht gerade wegen der mittlerweile großen Zahl fossiler Überreste.

Anfang der achtziger Jahre zeigte die Karte Afrikas nur zwei ausgedehnte Fundregionen für Hominiden: die eine im Süden, die andere im Osten; leer selbst der mögliche Verbreitungskorridor dazwischen – die mehrere tausend Kilometer lange Strecke zwischen Nord-Transvaal (Südafrika) und der Olduwai-Schlucht in Tansania. Diese sofort ins Auge springende Situation reizte uns seinerzeit, in dem Korridor nach Hominiden-Fossilien zu suchen, und zwar mit einem weiteren Fokus als üblich. Vor allem schien es uns wichtig, die damaligen regionalen und teilweise politisch bestimmten Einflüsse auf die Erforschung der Hominiden-Evolution zu überwinden. Wir gingen davon aus, dass der Prozess der Menschwerdung als übergreifendes, pan-afrikanisches Phänomen zu sehen und nur zu klären ist, wenn die geographischen Fundlücken geschlossen werden.

Mehr noch: Kein Lebewesen entwickelt sich unabhängig von seiner Umgebung. Veränderungen des Klimas, der Umwelt und des Lebensraumes bilden den evolutiven Rahmen. Für uns war deshalb klar, dass wir die wechselnden ökologischen Verhältnisse rekonstruieren mussten, unter denen sich die frühen Hominiden entwickelt und vor allem auch verbreitet haben. Aufschluss würde der damit einhergehende Wandel der Tierwelt im südöstlichen Afrika geben. Mit diesem damals noch unüblichen breiten Ansatz strebten wir eine Evolutionsökologie des Menschen und seiner Ausbreitungsgeschichte an. Nur so, glauben wir, kommt man zu fundierten Hypothesen über die Beziehungen der verschiedenen fossilen Menschenformen. Allein aus den anatomischen Merkmalen sind diese Verbindungen nicht zu erschließen.

Voraussetzung für unser Vorhaben waren Sedimentschichten entsprechenden Alters: vom Beginn des Pliozäns vor fünf Millionen Jahren bis ins Pleistozän, in das geologische Eiszeitalter, das vor rund zwei Millionen Jahren anfängt. Durch Satellitenaufnahmen sowie geologische Berichte aus der Kolonialzeit lokalisierten wir ein geeignetes Areal am West-Ufer des Malawi-Sees im Malawi-Rift. Dieses gehört zum Afrikanischen Grabensystem, an dem Kontinentalplatten auseinander driften. Von den seitlichen Schultern des Grabens wurde sukzessive Material abgetragen. Das Sediment überdeckte erhaltungsfähige tierische Teile wie Gehäuse, Knochen und Zähne, bewahrte sie so vor völliger Zerstörung. Im Laufe der letzten fünf Millionen Jahre sanken die älteren Schichten tief ab, wurden aber vor rund 500000 Jahren wieder gehoben, als sich das nördliche Malawi-Rift lokal einengte. Sie sind deshalb heute an der Oberfläche zugänglich.

Der Graben bildete sehr wahrscheinlich einen Wasser führenden Korridor zwischen dem südlichen und dem östlichen Afrika, so unsere Annahme, in jedem Fall aber die schmalste mögliche Wanderroute zwischen den weit auseinander liegenden Hauptfundgebieten. Da wir vor allem die Veränderungen des Lebensraums und der Tierwelt sowie die Ausbreitungswege rekonstruieren wollten, gab es also zum Malawi-Rift keine Alternative, mochten seine Fossilien auch noch so dürftig erhalten sein. Unser Forschungsvorhaben tauften wir Hominiden-Korridor-Projekt.

Zusammen mit unseren malawischen Partnern, vor allem mit dem Archäologen Yusuf Juwayeyi vom Department of Antiquities in Lilongwe, begannen wir 1984 systematisch das fragliche Gelände am Nordwestufer des Sees zu erkunden. Der Sedimentstreifen erstreckt sich dort auf 80 Kilometer Länge und 10 Kilometer Breite. Seine plio-pleistozänen Schichten werden seit den zwanziger Jahren als Chiwondo Beds bezeichnet.

Nach nunmehr 16 Jahren umfasst unser Fundkatalog knapp 1500 Reste fossiler Wirbeltiere. Auf einen Quadratkilometer kommt gewöhnlich nur etwa ein Fragment, eine sehr geringe Funddichte. Lediglich an einigen Stellen häufen sich massiv Fossilien. Die Erkundung gestaltet sich aufwendig. Gruppen von zwanzig bis dreißig Mitarbeitern suchen wiederholt jeden Quadratzentimeter eines Gebietes ab und sammeln herausgewitterte Fossilreste auf; nur an lohnenden Stellen wird auch gezielt gegraben. Bei den so genannten Aufsammlungen ist der Regen unser Helfer. Er spült nach und nach lockeres Sediment hinweg, sodass immer wieder – wenn auch langsam – neue Fragmente an der Oberfläche zu Tage treten. Weil die Gegend weitgehend unbewohnt ist, können wir das Freilegen also getrost der natürlichen Erosion überlassen.

Wichtig für unsere Forschungsarbeit: Alle Fundpunkte werden sedimentologisch untersucht und mit Hilfe des Global Positioning Systems (GPS) exakt lokalisiert. Dies ermöglicht uns später auch Fragmente zusammenzufügen, die in unterschiedlichen Jahren aufgesammelt wurden.

Unter den entdeckten Wirbeltier-Fossilien stellen Fische, Schildkröten und Krokodile rund ein Viertel, Säugetiere hingegen den großen Rest. Hiervon machen fossile Antilopen ungefähr die Hälfte aus, zahlenmäßig gefolgt von Pferden, Schweinen, Flusspferden, Giraffen, Elefanten und Primaten. Diese Verteilung spiegelt ein natürliches Artenspektrum wieder, wie es heute in afrikanischen Tierparks zu beobachten ist. Allerdings fehlen Kleinsäuger und größere Raubtiere. Bei ersteren waren Knochen und Zähne offenbar zu zart, um zu überdauern. Raubtiere hingegen waren damals wohl eher generell selten, wie andere Fundregionen belegen.

Antilopen sind gute ökologische Indikatoren, denn von vielen der fossilen Arten existieren heute noch Nachfahren. Wer vergleicht, welche Arten heute welchen Lebensraum bevorzugen, kann erschließen, wo die fossilen Arten "zu Hause" waren: beispielsweise in der offenen Baumsavanne, im geschlossenen trockenen Busch oder in den feuchten bewaldeten Uferzonen von Flüssen sowie Seen.

Für die Datierung spielen vor allem Schweinefossilien eine Rolle. Besonders die dritten Backenzähne der Busch- und Riesenschweine haben sich in den letzten vier Millionen Jahren deutlich verändert: von breit-niedrig zu hochkronig-schmal. Dies macht sie zu wichtigen Leitfossilien, die uns anhand bekannter Chronologien anderer Regionen ein zeitliches Einordnen erlauben.

Die Chiwondo Beds enthalten überdies massenhaft fossile Schneckengehäuse, die der Malawi-See an seinen ehemaligen Stränden zusammengespült hat. Dieser entstand, wie unser Sedimentologe Christian Betzler von der Universität Frankfurt und unser Tektoniker Uwe Ring von der Universität Mainz nachwiesen, in der Zeit vor etwa vier Millionen Jahren.

Die Wirbeltier-Fossilien ließen sich so drei Altersstufen zuordnen: die unterste älter als 4 Millionen, die oberste jünger als 1,6 Millionen Jahre; dazwischen, getrennt durch Schichtlücken, eine überlieferte Spanne von 3,8 bis 2 Millionen Jahren. In den jüngeren Schichten nimmt der Anteil von Tieren deutlich zu, die in der offenen Savanne lebten. Offensichtlich kam es vor etwas über 2,5 Millionen Jahren zu beträchtlichen Klimaveränderungen in Afrika, die mit dem Beginn der Eiszeiten auf der Nordhalbkugel zusammenfallen.

Die ökologische Vielfalt der Tierwelt im Hominiden-Korridor lässt aber zugleich auf eine deutliche Aufgliederung des Lebensraumes schließen: Es gab sowohl Bereiche mit ständigem Zugang zum Wasser als auch geschlossenen trockenen Busch und offene Baumsavanne. Die Art der Sedimente weist zudem auf mäandrierende Flüsse, auf Lagunen und Deltas hin.

Heute gehört der Hominiden-Korridor zur so genannten Sambesi-Ökozone des südöstlichen Afrikas, einem keilförmigen Gebiet zwischen der tropischen und der gemäßigten Zone des Kontinents. Um die biogeographischen Beziehungen der Ökozone zu klären, versuchten wir, die gefundenen "jüngeren" Großsäuger nach ihrem jeweiligen Herkunftsgebiet zu ordnen. Das Ergebnis: 14 Arten kamen sowohl im östlichen wie im südlichen Afrika vor, drei Arten waren rein südafrikanischer und 17 rein ostafrikanischer Herkunft. Die größte Gruppe bildet gewissermaßen eine Rift-"Korridor"-Fauna, die für die Hoch- und Tieflagen Ostafrikas typisch ist. Somit können wir diesen Korridor als Bestandteil einer Aneinanderreihung verbundener Lebensräume (Habitate) verstehen, die sich als Band vom nordöstlichen Afrika bis in das südöstliche Afrika erstreckte.

Trotz einer gewissen Eigenständigkeit stand die Sambesi-Ökozone also mit dem südlichen und östlichen Afrika in Austausch. Allerdings konnten Tiere, die an einen sehr spezifischen Lebensraum gebunden waren, die Region jeweils nur dann durchqueren, wenn ökologisch extreme Bedingungen geeignete Lebensräume süd- beziehungsweise nordwärts verlagerten. Eine solche Phase begann vor etwa 2,8 Millionen Jahren, als das Klima im Zusammenhang mit der zunehmenden Vereisung der arktischen Regionen auch in Afrika kühler und hier vor allem trockener wurde. Dadurch müssen sich subtropische Grasland- und Waldgebiete äquatorwärts ausgedehnt haben. Zumindest belegt unsere kleine Zahl fossiler Großsäuger, die ursprünglich im südlichen Afrika beheimatet waren, dass feuchte und trockene Grasländer damals – wie heute – das südliche Afrika mit der Sambesi-Ökozone verbanden.

Alles in allem hatten wir nach fünf Jahren Geländearbeit auch die südlichste Verbreitung von Kamelen in Afrika dokumentiert und einen Schweine- und Antilopen-Korridor rekonstruiert. Im Sinne unseres "Hominiden-Korridors" hingen die erwarteten Ergebnisse zur Evolutionsökologie der Hominiden nun davon ab, auch deren Fossilreste zu entdecken. Ganz im Süden des Untersuchungsgebietes, bei Uraha, entdeckte unser Team schließlich 1991 in 2,5 Millionen Jahre alten Schichten den Unterkiefer eines frühen Hominiden. Er erhielt die Katalognummer UR 501. Eigentlich war er unser 499stes Fundstück, aber in Anspielung auf die Levis Jeans 501 – "The Original" – bekam er deren Nummer. Bis auf die Schneidezähne trug der Unterkiefer fast alle Zähne, links allerdings stärker beschädigt als rechts. Die Computertomographie machte Form und Ausbildung der Zahnwurzel sichtbar, ein wichtiges Merkmal bei der systematischen Zuordnung. Im Feinbau ähnelte der Zahnschmelz zwar dem der Australopithecinen, der Vormenschen. Doch andere Kriterien legten eher eine Beziehung zur Gattung Homo nahe, der auch unsere eigene Spezies angehört.

Ein fehlendes Viertel des zweiten rechten Backenzahnes haben wir ein Jahr später in minutiöser Arbeit aufgestöbert: Tonnen von Sand aus dem Fundhorizont wurden zum Ufer des Malawi-Sees gebracht und mit Wasser durch immer feinere Siebe geschlämmt, bis das abgebrochene Stück nach Wochen zum Vorschein kam. An dem jetzt vollständigen Zahn ließen sich sämtliche Zahnhöcker analysieren. Und dies trug wesentlich dazu bei, den Fund als Rest der Art Homo rudolfensis zu identifizieren. Er war zugleich der nunmehr älteste Nachweis der Gattung Homo.

Bis dahin hatte eine andere Art – Homo habilis – als ältester Urmensch gegolten. Der Ursprung der Gattung Homo war und ist in der Paläoanthropologie eine der am heftigsten umstrittenen Fragen. Anfang der neunziger Jahre hatte die hohe Variabilität innerhalb des mittlerweile reichen Fundmaterials, das man Homo habilis zuordnete, Bernard Wood von der Universität Liverpool veranlasst, einen Teil als eigene Art auszugliedern. Sein Argument: Die sichtbaren Unterschiede beträfen nicht nur die typischerweise geschlechtsspezifisch variierenden Merkmale, sondern zögen sich quer durch den gesamten Bauplan. Zwei getrennte Gruppen seien also angebracht.

Nun hatte aber der russische Paläontologe V. P. Alexeev bereits 1986 aus ähnlichen Überlegungen heraus einen Schädel aus dem selben Fundus – mit der Bezeichnung Pithecanthropus (Homo) rudolfensis belegt. Er spielte damit auf die Lage des Fundortes am Rudolfsee an, dem heutigen Turkana-See im Norden Kenias. Da eben dieser Schädel im Modell von Wood als Hauptfigur einer neuen Art vorgesehen war, besaß der vorher vergebene Name Homo rudolfensis Priorität. Da auch "unser" Unterkiefer den Analysen nach mit hoher Wahrscheinlichkeit der neuen Spezies angehörte, war er somit namenstechnisch als "Mensch vom Rudolfsee" eingruppiert – obwohl er von den Ufern des Malawi-Sees stammt. Immerhin konnte durch ihn das Altersproblem geklärt werden, denn in Nord-Kenia sind die Fundstücke beider Arten mit ungefähr zwei Millionen Jahren gleich alt. Erst mit dem rund eine halbe Million Jahre älteren Unterkiefer aus Malawi erhielt Homo rudolfensis seinen Rang als nunmehr frühester Urmensch.

Die Spezies mit ihrer eigentümlichen Mischung von Vormenschen- und Homo-Merkmalen war, was Schädel, Kauapparat und Zähne anbelangt, recht robust gebaut. In einer Zeit zunehmend trockeneren Klimas verändert sich das Pflanzenspektrum, und vegetarische Nahrung wird härter zu kauen sein. Offensichtlich hatte Homo rudolfensis eine überwiegend vegetarische Ernährungsweise beibehalten. Auf den ersten Blick erschien uns dies die einfachste funktionelle Erklärung für den robusten Bau der ältesten Homo-Zähne. Aber ein weiterer Fund im Malawi brachte eine große Überraschung.

Bereits 1985 hatten wir 50 Kilometer nördlich von Uraha, bei Malema, eine Stelle entdeckt, die eine große Vielfalt an Fossilien von Säugern bot, darunter auch nicht-menschliche Primaten. Gegraben hatten wir allerdings dort nur einmal, als wir einen Elefantenschädel bargen. Als viel später, in der Geländesaison 1996, wochenlang andernorts die Ausbeute enttäuschte, sichteten unsere Säugetier-Paläontologen Oliver Sandrock und Ottmar Kullmer die damalige Dokumentation. Nachdem sie dann bei einer Überprüfung im Gelände auf ein regelrechtes Knochenlager gestoßen waren, ließen sie dort nachgraben. Zu Tage kam dabei neben zahlreichen tierischen Resten auch ein Stück Oberkiefer mit zwei Backenzähnen eines Hominiden. Zwar stimmte das Alter der Fundschichten mit der von Uraha überein, doch waren die Zähne noch viel robuster und größer als bei Homo rudolfensis, insgesamt fast dreimal so groß wie beim modernen Menschen! Im Rasterelektronenmikroskop erschienen die Oberflächen der Zahnkronen übersät mit Gruben und Furchen, wahrscheinlich verursacht von Quarzpartikeln, die nebenbei mit der überwiegend pflanzlichen Nahrung in den Mund gerieten.

Statt Nussknacker-Gebiss einfach Werkzeuge


Das "Nussknacker-Gebiss" entpuppte sich als der bislang älteste Überrest von Paranthropus boisei, einer Art, die zu den so genannten robusten Australopithecinen gehört und von der bereits etwas jüngere Schädel von anderen afrikanischen Fundstätten vorlagen. Das Gesicht ist sehr breit, mit äußerst kräftigen und weit ausladenden Jochbögen. Wo die stark vergrößerte Kaumuskulatur an der Oberseite des Schädels von beiden Seiten zusammenstößt, sitzt ein auffälliger knöcherner Scheitelkamm. Alle diese Merkmale deuten ebenso wie die überdimensionalen Zähne darauf hin, dass der "Nussknackermensch" vor allem harte und grobe pflanzliche Nahrung kaute, zum Beispiel Samen und feste Pflanzenfasern. Wahrscheinlich entwickelte sich diese "Robustizität" relativ schnell, als Afrika auf Grund der weltweiten Abkühlung vor rund 2,5 Millionen Jahren immer trockener wurde.

Zusammen mit unseren ökologischen Befunden ergibt sich nun folgendes Bild. Die offenen Lebensräume, mit einem höheren Anteil an widerstandsfähiger Vegetation, dehnten sich damals um die verbleibenden, jedoch schmaler werdenden Bänder üppiger Flussauen-Wälder aus. Die robusten Australopithecinen hielten zwar noch Verbindung zu den früchtereichen Wasser führenden Zonen, besonders während der Trockenzeit. Sie vermochten jedoch ebenso jene härtere Nahrung aufzuschließen, die in den offenen Bereichen während der günstigeren Jahreszeiten reichlich zur Verfügung stand. Ihnen ging wahrscheinlich nie die ursprüngliche Verbindung zu den dichteren Vegetationszonen ihres Lebensraumes verloren, da diese ihnen nach wie vor Schutz und Schlafplätze boten.

Gemeinsam mit diesen robusten Australopithecinen bevölkerten die ältesten Urmenschen der Art Homo rudolfensis bereits vor rund 2,5 Millionen Jahren das Gebiet des Malawi-Rifts. Jedenfalls stammt aus unserem Untersuchungsgelände der geologisch älteste Nachweis für die Koexistenz beider Arten. Wenn also robuste Australopithecinen und die ersten Vertreter der Gattung Homo gleichzeitig aus ihren jeweiligen leichter gebauten Australopithecinen-Vorfahren entstanden, dann musste es zur Entwicklung der überdimensionalen Zähne eine geeignete Alternative gegeben haben, die ebenfalls der zunehmend härteren Nahrung Paroli bot. Diese Alternative war offensichtlich der Einsatz von Werkzeugen. Die ältesten bekannten Steinwerkzeuge aus Äthiopien und Tansania belegen, dass vor rund 2,5 Millionen Jahren die ersten einfachen Werkzeugkulturen etabliert waren – zeitgleich mit der Entstehung der Art Homo rudolfensis.

Werkzeuge im Sinne von Hilfsmitteln gebrauchen auch bereits Tiere und vor allem höhere Primaten. Heutige Schimpansen nutzen zum Beispiel Steine als Hammer und Amboss, um Nüsse zu knacken. Unter dem Druck der damaligen Umweltveränderungen war es sicherlich gerade die Fähigkeit der Hominiden zu kulturellem Verhalten, welche die Gattung Homo entstehen ließ. Im Gegensatz zu den robusten Australopithecinen behielten ihre Vertreter den eher unspezialisierten Körperbau bei und machten den "Nachteil" durch ihre beginnende kulturelle Spezialisierung wett: Sie verlegten einen Teil der Nahrungsverarbeitung einfach außerhalb des Mundraums.

Nach der Entstehung des aufrechten Ganges (sie gilt als Ursprung der Gattung Australopithecus) folgte somit als weiterer Meilenstein in der Geschichte der Menschwerdung das Lösen aus der direkten Umweltabhängigkeit. Obwohl "typisch Menschliches" – wie Bewusstsein, Kunst oder Musik – zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachweisbar ist, können wir hier durchaus den Beginn der Gattung Homo postulieren: Die zunehmende Unabhängigkeit vom Lebensraum führt zu zunehmender Abhängigkeit von den dazu benutzten Werkzeugen – bis heute ein charakteristisches Merkmal des Menschen.

Homo rudolfensis zeichnete sich unseres Erachtens vor allem durch ein besonders flexibles Verhalten aus, was etwas später – auf der nächsten Evolutionsstufe – mit der Entwicklung eines größeren und leistungsfähigeren Gehirns einherging. So wechselte dieser Urmensch zu einer Ernährungsweise, die mehr und mehr auch Fleischnahrung einbezog. Mit der beginnenden Werkzeugkultur konnte er die Folgen des Klimawechsels abfangen und schließlich andere Nahrungsquellen, darunter Kadaver, sogar besser als jede Hominiden-Art zuvor nutzen. Beim Gebrauch von Steinwerkzeugen kam es vor, dass Teile abplatzten. Solche zufällig entstehenden scharfkantigen Abschläge setzte der Urmensch zum Schneiden ein. Dies revolutionierte die Fleischbearbeitung, weil sich Kadaver nun leichter zerlegen ließen. Für spezialisierte Pflanzenfresser wie die robusten Australopithecinen hätte dagegen der Einsatz von Steinwerkzeugen keinen unmittelbaren Vorteil gebracht. Solange beide Ernährungsstrategien erfolgreich waren, also mehr als eine Million Jahre lang, existierten verschiedene Hominiden-Gattungen und Arten nebeneinander. Die robusten Australopithecinen starben erst vor etwa einer Million Jahre aus, zu einer Zeit, als mit Homo erectus Nachkommen von Homo rudolfensis bereits die gesamte Alte Welt bevölkerten.

Klimawechsel als Entwicklungsmotor


Nicht alle Paläoanthropologen stimmen unserer Interpretation von Homo rudolfensis zu. Eine 1999 beschriebene neue Vormenschen-Art (Australopithecus garhi), gleichfalls etwa 2,5 Millionen Jahre alt, könnte gewissen Indizien nach eine Werkzeugkultur entwickelt haben – was unter dem damaligen Umweltdruck als möglich erscheint. Dann aber ist ein Abgrenzen der Urmenschen von den Vormenschen nach diesem kulturellen Merkmal nicht zu halten.

Wie auch immer: Die vielfältige Entwicklung der Hominiden spricht für eine entscheidende Veränderung des Lebensraums und der Nahrungsgrundlage in Afrika vor 2,5 Millionen Jahren. Ursache hierfür ist ein Klimawechsel, ausgelöst durch globale, regionale und lokale Prozesse. Vor 50 Millionen Jahren war das Klima weltweit feuchter und wärmer. Seither wurde es auf der Erde schrittweise kühler, mit besonders einschneidenden Veränderungen vor etwa 33, vor 14 und vor 2,8 Millionen Jahren. Die Wassertemperaturen in den Tiefen der Ozeane – einst 10 Grad höher als heute – sanken und auf den Kontinenten bildeten sich Eismassen.

In Afrika verstärkte die Entwicklung des Afrikanischen Rifts regional den globalen Trend noch: Durch die sich hebenden Riftschultern entstanden am Rande des Grabenbruchs mächtige Gebirgszüge, an denen sich die vornehmlich von Westen kommenden regenreichen Wolken abregneten. Dadurch lag ein großer Teil des östlichen Afrikas im Regenschatten. Auf dem Kontinent insgesamt wurde es zwar nur um wenige Grad kühler, dafür aber relativ trocken.

Bei einem Klimawechsel verschieben sich zugleich die angestammten Lebensräume, die Habitate. Unsere Funde in Nord-Malawi boten uns wegen ihrer geographischen Mittelposition in Afrika die Chance, Wanderbewegungen der Säugetier-Faunen zwischen dem östlichen und dem südlichen Afrika zu ermitteln. Davon erhofften wir uns – wie erwähnt – auch Anhaltspunkte für die Entstehung und Verbreitung der Hominiden.

Wie steht es nun damit? Uns erscheint die Annahme sehr plausibel, dass neue Hominiden-Arten ihren Ursprung stets im äquatorialen Bereich Afrikas hatten. Die mosaikartige, kleinräumige Gliederung des Lebensraums bot bessere Chancen für die Entstehung neuer Arten. Wie die Fauna konnten Menschen-Arten, die an spezifische Habitate gebunden waren, die angrenzenden Bereiche nur durchqueren, wenn ökologisch extreme Bedingungen ihren Lebensraum verlagerten.

Aus unseren klima- und biogeographischen Analysen der Verhältnisse im Hominiden-Korridor entwickelten wir ein Szenario zur Evolution des Menschen (siehe Kasten auf der linken Seite). Wir möchten es hier nur an einem Beispiel erläutern: Vor etwas über drei Millionen Jahren, in einer Phase relativ warmen Klimas, verband eine bewaldete Zone das östliche und südliche Afrika. Damals breitete sich eine Teilpopulation einer frühen Australopithecus-Art in das südliche Afrika aus, wurde auf dem Weg dahin zu A. africanus. Vor etwa 2,8 bis 2,5 Millionen, als es auf dem Kontinent kühler und trockener wurde, verschoben sich die Grenzen der subtropischen Gras- und Waldgebiete zum Äquator. Damals verlagerte sich eine Teilpopulation von A. africanus über die verbleibenden Flussauen-Wälder in das östliche Afrika und entwickelte sich dort zu Homo habilis. Homo rudolfensis leiten wir dagegen aus einer Australopithecus-Art des östlichen Afrikas ab. Wohl erst mit einer neuerlichen Ausbreitung geeigneter Lebensräume vor rund zwei Millionen Jahren drang Homo habilis auch in die gemäßigte Zone des südlichen Afrika vor. Die erste Auswanderung von Hominiden aus Afrika heraus, gen Norden, ist zeitlich nicht weit davon entfernt anzusetzen.

Die aus unseren Untersuchungen im Malawi-Rift abgeleiteten Hypothesen unterstreichen, wie bedeutsam Forschungen zu früheren Veränderungen des Klimas, der Umwelt und des Lebensraums sind, wenn es darum geht, ein Gesamtbild der Entwicklung der Menschheit zu gewinnen. Afrika ist als Kontinent eine Einheit. Hier besteht die einmalige Chance, großräumig Entwicklungstendenzen nachvollziehen zu können. Daher sollte sich das Interesse weniger auf Einzelfunde oder Einzelfundstellen richten – heute muss es um eine pan-afrikanische ganzheitliche Interpretation gehen.

Literaturhinweise


African Biogeography, Climate Change and Human Evolution. Von T. Bromage und F. Schrenk (Hg.). Oxford University Press, New York 1999.

Die Frühzeit des Menschen – Der Weg zum Homo sapiens. Von F. Schrenk, C. H. Beck-Verlag, München 1998.


Urmenschen



Grazile Australopithecinen


Diese Vormenschen, vermutlich vor rund fünf Millionen Jahren entstanden, bewegten sich bereits auf zwei Beinen fort, konnten aber auch noch gut in Bäumen klettern. Ihr Gehirn war nicht deutlich größer als das der Menschenaffen. Noch ohne Werkzeugkultur waren sie für die Nahrungsbearbeitung auf ihre Backenzähne angewiesen.

Gattung Paranthropus


Extrem große Zähne entwickelten die so genannten robusten Australopithecinen, deren erste Vertreter zeitgleich mit den ersten Urmenschen auftraten. Sie kauten harte Pflanzenkost.

Gattung Homo


Frühe Urmenschen, vor rund 2,5 Millionen Jahren entstanden, bewegten sich ausschließlich zweibeinig fort. Die Größe des Gehirns innerhalb dieser Gattung, der auch wir angehören, nahm stark zu. Dank einer Werkzeugkultur verloren die Backenzähne an Bedeutung für die Nahrungszerkleinerung.


Klima-Effekte


Vor rund vier Millionen Jahren erstreckte sich eine Waldzone zwischen den Savannen im Süden und Osten Afrikas. Sie trennte die Tierwelt beider Gebiete. Vor rund 2,5 Millionen Jahren wurde es global kühler und in Afrika deutlich trockener. Typische Savannentiere breiteten sich längs der Nordsüd-Achse aus; die entsprechenden Lebensräume dehnten sich äquatorwärts aus. Der Bereich des Malawi-Sees war damals Teil eines Wasser führenden Korridors, der Wanderungen von Tieren wie Menschen erlaubte. Die Fossilfunde dort zeugen von den klimatischen und ökologischen Veränderungen.


Szenenwechsel in Afrika


In einer Phase relativ warmen Klimas vor etwas über drei Millionen Jahren verband eine bewaldete Zone östliches und südliches Afrika. Teilpopulationen von Australopithecus anamensis und A. afarensis breiteten sich damals als A. bahrelgazali in das westliche Afrika und als A. africanus in das südliche Afrika aus. Vor etwa 2,8 bis 2,5 Millionen Jahren, als das Klima deutlich kühler und trockener wurde, verschoben sich die subtropischen Gras- und Waldgebiete von Norden und Süden zum Äquator. Während im östlichen Afrika Homo rudolfensis und die so genannten robusten Australopithecinen entstanden, wanderte eine Teilpopulation von A. africanus vom südlichen in das östliche Afrika und entwickelte sich dort zu Homo habilis. In dieser biogeographisch erschlossenen Ausbreitung sehen wir – neben anatomischen Gründen – ein wichtiges Indiz dafür, Homo habilis aus einem Australopithecus des südlichen Afrikas abzuleiten, Homo rudolfensis dagegen aus einem Australopithecus des östlichen Afrikas.

Erst vor rund zwei Millionen Jahren breiteten sich die angestammten Lebensräume und mit ihnen die dort beheimateten Lebewesen wieder nach Süden und Norden aus. Nach dieser Hypothese können daher im südlichen Afrika die fossilen Überreste von Homo habilis und robusten Australopithecinen nicht älter als etwa zwei Millionen Jahre sein. Das ist auch der Fall. Mit der Ausbreitung der Habitate vom Äquatorbereich weg wanderten auch schon erstmals Hominiden aus Afrika aus, wie jüngste Funde in Eurasien belegen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2000, Seite 46
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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