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Der Hungerbaum der Bakterien

Eine Computersimulation vermag die Wege, auf denen sich Mikroben durch ein karges Nährmedium fressen, mit erstaunlicher Präzision zu reproduzieren.


Warum bilden Bakterien in Kulturschalen unter gewissen Bedingungen dendritische Wachstumsmuster, die denen mancher Kristalle zum Verwechseln ähnlich sehen (Bild 1)?

Üblicherweise wird das damit erklärt, daß die Mikroorganismen einerseits mit Nahrungsknappheit, andererseits mit dem Widerstand des Kulturmediums zu kämpfen haben. Eigentlich wäre es für jedes Bakterium am geschicktesten, sich von seinesgleichen möglichst weit wegzubewegen, so daß kein anderes ihm etwas wegfrißt. Daraus würde sich eine gleichmäßige Verteilung über den verfügbaren Raum ergeben. Dem steht jedoch entgegen, daß es einen solchen Einzeller offensichtlich relativ viel Energie kostet, in bisher unberührtes Agar-Territorium vorzudringen, während die Bewegung dort, wo schon Bakterien sind, erheblich weniger aufwendig ist. Unter dem Mikroskop erkennt man eine wohldefinierte Grenze des bereits eroberten Gebiets.

Unter diesen Umständen wird die Kolonie am ehesten Zuwachs an den Spitzen bekommen, denn in deren Nähe ist unter den überhaupt erreichbaren Gebieten am ehesten unberührtes und deshalb nahrungsreiches Territorium zu finden. Zwischen zwei etablierten Ästen dagegen ist die Nährstoffkonzentration durch Verzehr innerhalb der Äste und Diffusion schon so weit abgesunken, daß sich ein Vorstoß nicht mehr lohnt. Ein ähnlicher Mechanismus liegt auch dem diffusionsbegrenzten Wachstum mancher Kristalle zugrunde; es bilden sich ebenfalls dendritische Formen (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1989, Seite 8).

Um zu erkennen, wohin zu wandern es sich lohnt, benötigen die Bakterien keinen globalen Überblick (den sie ohnehin nicht haben). Das Muster stellt sich schon dann ein, wenn nur ein reichhaltiger Futterplatz in größerer Beweglichkeit resultiert.

Die Physiker Eshel Ben-Jacob, Ofer Schochet, Adam Tenenbaum und Inon Cohen von der Universität Tel Aviv (Israel) sowie Andras Czirók und Tamas Vicsek von der Universität Budapest (Ungarn) haben mit einer Computersimulation gezeigt, daß diese Annahmen über das Verhalten der Bakterien – zunächst – ausreichen, um die experimentellen Ergebnisse zu reproduzieren. Ihre gedachten Bakterien konsumieren in jedem Zeitschritt eine gewisse Menge Nährstoff oder – im Falle der Knappheit – so viel, wie da ist; zugleich verbrauchen sie pro Zeiteinheit eine konstante Menge. Wenn sie sich einen großen Vorrat angefressen haben, teilen sie sich. Solange ihr Vorrat nicht gänzlich verbraucht ist, wandern sie um eine konstante Strecke in eine beliebige Richtung – es sei denn, sie stießen gegen die Grenze des eroberten Gebiets. In diesem Falle unterbleibt der Schritt; wenn jedoch die Bakterienkolonie als Ganzes an einer Stelle eine gewisse Anzahl solcher Vorstöße unternommen hat, rückt die Grenze dort um eine Einheit nach außen.

Auf diese Weise ergeben sich dendritische Muster, die den echten zum Verwechseln ähnlich sehen. Nur daß in der Realität bei extremem Nahrungsmangel die Zweige zwar dünn bleiben, den verfügbaren Platz aber wieder gleichmäßiger ausfüllen (Bild 1 unten), kann diese Simulation nicht wiedergeben.

Der Mangel ist behebbar dadurch, daß man den simulierten Mikroben eine weitere Eigenschaft verleiht, die einer rudimentären Kommunikation gleichkommt: Jedes Bakterium, dem es derart schlecht geht, daß es sich nicht mehr rühren kann, scheidet eine besondere Substanz aus, die ihrerseits durch das Medium diffundiert. Dadurch können die anderen wahrnehmen, daß ein Artgenosse in der Nähe hungert, und sich von diesem Platz fernhalten: An die Stelle der reinen Zulallsbewegung tritt so eine, bei der die Richtung abnehmender Substanzkonzentration bevorzugt ist (biased random walk). Dadurch wird aus einem dürren Baum wieder ein reichverzweigter mit deutlich erkennbarer kreisförmiger Grenze (Bild 2), in Übereinstimmung mit den Beobachtungen.

Der hungernde Einzeller hat keinen nennenswerten Vorteil davon, daß er die (bislang hypothetische) Substanz verbreitet, die Gesamtheit der Bakterien aber sehr wohl: Indem die Mikroben tendenziell Stellen meiden, an denen es ohnehin nichts zu fressen gibt, nutzen sie die insgesamt verfügbare Nahrung besser aus. Die Forscher sehen ihre Arbeit ("Nature", Band 368, Heft 6466, Seite 46, 3. März 1994) als eine Bestätigung dafür, daß bereits relativ grobe, allgemeine Modellannahmen genügen, um ein sehr komplex wirkendes Verhalten zu erklären.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1994, Seite 19
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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