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Der Kegel mit dem Dreh

Wenn man einen Rotationskörper halbiert und verdreht wieder zusammensetzt, entstehen krumme Dinger mit den merkwürdigsten Eigenschaften.


Gepriesen sei die klassische Speiseeistüte! Gäbe es das Waffelhörnchen nicht, wäre es bestimmt viel schwieriger, sich unter einem mathematischen Kegel das Richtige vorzustellen.

Bei den Griechen der Antike genoss der Kegel weit größeres Ansehen, vor allem wegen der eleganten Kurven, die beim Schnitt eines Kegels mit einer Ebene entstehen – Kegelschnitte eben. Mit Ellipsen, Parabeln und Hyperbeln lassen sich nämlich auch Probleme lösen, die den klassischen Mitteln Zirkel und Lineal nicht zugänglich sind, wie die Dreiteilung des Winkels und die Konstruktion eines Würfels mit dem doppelten Volumen eines gegebenen Würfels. Beide laufen auf Gleichungen dritten Grades hinaus – solche, in denen die Unbekannte in der dritten (und keiner höheren) Potenz vorkommt. Die Schnittpunkte zweier Kegelschnitte entsprechen algebraisch Lösungen von Gleichungen dritten oder vierten Grades, während man mit Zirkel und Lineal nur Lösungen von Gleichungen höchstens zweiten Grades konstruieren kann.

Nachdem die Geometrie des Kegels nun schon so lange bekannt ist, gibt es über diesen biederen Körper überhaupt noch etwas Neues zu sagen? Überraschenderweise ja. Im Mai letzten Jahres sandte C. J. Roberts aus Baldock (England) mir (Stewart) ein merkwürdiges Gebilde, das er vor dreißig Jahren erfunden hatte und Sphericon nannte. Es handelt sich um einen Doppelkegel – aber mit einem speziellen Dreh.

Man setze zunächst zwei gleiche Kegel mit ihren kreisförmigen Grundflächen gegeneinander. Schneidet man diesen Doppelkegel entlang einer Ebene durch, die durch beide Spitzen geht, so ist die Schnittfläche ein Rhombus, das heißt ein Parallelogramm mit vier gleichen Seiten. Wenn die Kegel den richtigen Öffnungswinkel haben, nämlich 90 Grad, ist der Rhombus sogar ein Quadrat. Man klebe nun beide Hälften eines solchen Doppelkegels wieder mit den quadratischen Schnittflächen aneinander – aber nachdem man eines der Quadrate um 90 Grad gedreht hat. Das ist das Sphericon (Bildfolge unten).

Interessanterweise ist es ein Einflächner: Seine Oberfläche besteht aus einem einzigen Stück. Man kommt von jedem ihrer Punkte zu jedem anderen, ohne je eine Kante überqueren zu müssen. Außerdem ist sie abwickelbar: Da man ein Blatt Papier – oder auch ein ebenes Stück Waffelteig – knautsch- und rissfrei zu einem Kegelmantel formen kann, gilt dasselbe auch für die Oberfläche des Sphericons. Man kann sie aus einem einzigen ungeknickten Stück Papier herstellen.

Wie findet man diese Abwicklung der Oberfläche, das heißt die Form des Papiers, aus dem man das Sphericon macht? Sie besteht aus vier Kreissektoren, die mit jeweils wechselnder Orientierung aneinander gefügt sind (Zeichnung unten). Jeder von ihnen wird zu einem halben Kegelmantel. Es bleibt noch der Öffnungswinkel eines solchen Sek-tors zu finden. Setzen wir seinen Radius (das heißt die Länge der geraden Kante) gleich 1, so hat nach dem Satz des Py-thagoras die kreisförmige Grundfläche des ursprünglichen Kegels den Durchmesser š2 und damit den Umfang þš2. Davon die Hälfte muss die Bogenlänge des Sektors sein, also ist der Öffnungswinkel þš2/2 im Bogenmaß oder 90š2³127,28 Grad.

Ein fertig gebasteltes Sphericon ist auf der Stelle Anlass zur Heiterkeit: Es rollt – aber wie! Ein gewöhnlicher Kegel, auf eine Seitenfläche gelegt, rollt nur im Kreise, ein Doppelkegel auch, allerdings hat er zwei Kreise zur Auswahl – es sei denn, er rollt mit Schwung auf seiner scharfkantigen Gürtellinie oder läuft auf Schienen. Ein Sphericon dagegen rollt erst auf dem einen Kegelmantel eine leichte Linkskurve, dann auf dem anderen eine Rechtskurve, und so immer abwechselnd, kommt aber dabei insgesamt ein Stück vorwärts. Mehrere ernsthafte Mathematiker der Universität von Warwick haben eine lustvolle halbe Stunde damit verbracht, Sphericons über einen Tisch torkeln zu lassen. Und wenn man ein solches Ding ans obere Ende eines schräg gehaltenen Bretts setzt, geht es ungefähr so zu Tale, wie sich ein Sturzbetrunkener von Laternenpfahl zu Laternenpfahl hangelt.

Man kann auch zwei Sphericons endlos aneinander abrollen lassen, und zwar so, dass beider Mittelpunkte im Raum fixiert sind. In jedem Moment der Bewegung sind die beiden Körper spiegelbildlich zueinander bezüglich der Ebene, die auf der Verbindungsstrecke beider Mittelpunkte senkrecht steht und diese halbiert (die "Mittelsenkrechte"). Anders ausgedrückt: Ein Sphericon kann so um seinen Mittelpunkt rotieren, dass es stets tangential zu einer festen Ebene bleibt, und das, obwohl die Rotationsachse immer wieder wechselt. Diese Ebene darf man sich als Spiegel vorstellen; Sphericon und Spiegelbild rollen reibungsfrei aufeinander ab. Es gibt sogar zwei parallele Spiegelungsebenen mit dieser Eigenschaft; beide Spiegel zusammen liefern unendlich viele Bilder des einen rotierenden Sphericons. Man darf sich vorstellen, dass unendlich viele dieser krummen Gebilde, in gerader Reihe angeordnet und einander stets berührend, synchron auf der Stelle torkeln – ein gigantisches Schunkeln! Wenn man sich mit einer halben statt einer vollen Umdrehung begnügt, gibt es sogar zwei weitere raumfeste Tangentialebenen, die auf den ersten beiden senkrecht stehen – und damit raumfüllend unendlich viele, kristallgitterartig angeordnete synchronschunkelnde Sphericons.

Das Konzept des Sphericons ist einfach und genial; da ist es nicht weiter verwunderlich, dass andere Leute die Idee ebenfalls hatten und auch in andere Richtungen ausgearbeitet haben.

Der Schweizer Bildhauer und Maler Franz Lenzinger arbeitet anstelle des biederen Kegels allgemeiner mit Rotationskörpern. Man nehme eine ebene Figur mit Dreh- und Spiegelsymmetrie, zum Beispiel ein regelmäßiges Vieleck oder einen ebenso regelmäßigen Stern (Bild Seite 114 oben), und rotiere sie im Raum um eine ihrer Symmetrieachsen. Aus einem Quadrat wird auf diese Weise ein gewöhnlicher Zylinder, wenn die Symmetrieachse durch zwei Seitenmitten geht; wenn sie eine Diagonale ist, das Quadrat also beim Rotieren gewissermaßen auf der Spitze steht, entsteht der schon erwähnte Doppelkegel mit dem Öffnungswinkel 90 Grad. Ein gleichseitiges Dreieck dagegen wird zu einem gewöhnlichen Kegel mit dem Öffnungswinkel 60 Grad.

Lenzingers nächster Schritt ist wie bei Roberts: Er zerschneidet den Rotationskörper entlang einer Ebene, die durch die Rotationsachse verläuft, dreht eine der beiden spiegelbild-lichen Hälften so, dass die Schnittflächen wieder aufeinander passen, und fügt sie wieder zusammen. Zum Beispiel kann er bei einer fünfzählig-symmetrischen Ausgangsfigur um ein, zwei, drei oder vier Fünftel des Vollwinkels drehen.

Durch dieses Verfahren erhält Lenzinger nicht nur das Sphericon. Mit dem gleichseitigen Dreieck als Ausgangsfigur entsteht so etwas wie ein kleiner Bruder des Sphericons: ein Einflächner, der aber nicht beliebig lange Wege torkelt, sondern nach kurzem Rollen auf einer seiner ebenen Halbkreisflächen stehen bleibt. Besonders eindrucksvoll sind die Körper, die aus regelmäßigen Sternen entstehen. Aus dem Fünfstern (Pentagramm) werden je nach Verdrehungswinkel vier verschiedene (allerdings paarweis spiegelbildlich gleiche) Einflächner (Bild links).

Der Körper, der aus dem regelmäßigen Sechseck entsteht, vollführt eine reizvolle Bewegung, gegenüber der das Torkeln des Sphericons geradezu zielstrebig anmutet. Tony Phillips von der Universität des Staates New York in Stony Brook hat es Hexasphericon genannt und die ganze Klasse dieser Körper zu einer instruktiven Einführung in den Krümmungsbegriff genutzt, wie auf einer Website der American Mathematical Society nachzulesen ist. Die klassische Definition für die Krümmung einer Fläche versagt nämlich zunächst an den scharfen Kanten; sie muss (und kann) kunstvoll erweitert werden.

Lenzinger hat die Idee mit dem Rotationskörper noch einen Schritt weiter getrieben. Er besteht nicht mehr darauf, dass die Rotationsachse Symmetrieachse der Ausgangsfigur ist. Sie muss noch nicht einmal in deren Innerem liegen. Rotiert man beispielsweise ein gleichseitiges Dreieck um eine außerhalb liegende Achse, so entsteht ein Torus, aber mit drei scharfen Kanten.

Halbieren und verdreht wieder zusammensetzen funktioniert in diesem Fall nicht; aber man kann die Verdrehung schleichend einwirken lassen. Lässt man das Dreieck auf seinem Weg um die Achse zusätzlich um seinen eigenen Mittelpunkt rotieren, aber nur mit einem Drittel der Winkelgeschwindigkeit, dann hat es am Ende der Rundreise gerade eine Dritteldrehung um sich selbst vollzogen, und alle Eckpunkte des Dreiecks sind auf den Platz des jeweils nächsten Eckpunkts vorgerückt. Dadurch verschmelzen die drei Kanten zu einer einzigen, die den Torus dreimal umläuft. Aus den ursprünglich drei getrennten Seitenflächen wird eine einzige, die sich ebenfalls drei Mal um den Torus windet. In einem gewissen Sinne ist es eine Verallgemeinerung des Möbiusbandes von zwei auf drei Seiten. Nennen wir es das Möbiussche Dreikant. Lenzinger hat es in Bronze gegossen (Bild Seite 115 unten ).

Aus der Konstruktion ergibt sich nicht unmittelbar, dass die Oberfläche des Möbiusschen Dreikants abwickelbar ist; wahrscheinlich ist sie es nicht. Aber wer wegen mangelnder Fertigkeiten im Bronzeguss auf Papier angewiesen bleibt, muss nicht verzweifeln. Über einen Grenzprozess habe ich (Pöppe) die Abwicklung eines Körpers gefunden, der dem Dreikant zumindest zum Verwechseln ähnlich ist.

Der Künstler Hansjörg Beck aus Freusburg im Siegerland hat sich dem Kegel mit dem Dreh auf einem nochmals anderen Weg genähert. Ein Sphericon liegt in jeder Position mit einer geraden Linie auf dem (ebenen) Untergrund; diese Eigenschaft hat es vom Kegel geerbt. Man realisiere diese geraden Linien durch Schnüre, die man jeweils von einer Spitze eines halben Doppelkegels zu seiner halbkreisförmigen Grundfläche knüpft (Bild oben links). Aber eigentlich braucht man die Schnüre gar nicht. Man nehme das Skelett eines Sphericons, das heißt die beiden Halbkreise mit gemeinsamem Mittelpunkt, aber um 90 Grad gegeneinander verdreht, welche die Grundfläche des ursprünglichen Doppelkegels bildeten (Bild oben Mitte). Da eine gerade Linie durch zwei Punkte bestimmt ist und diese beiden Punkte auch im Skelett noch vorhanden sind, torkelt das reduzierte Sphericon – Beck nennt es "Rollerer" – genau so wie das originale.

Die Stange, die in "Sisyphus’ Anker" (Bild oben rechts) die beiden Halbkreise verbindet, ist so lang wie der Kreisdurchmesser. Erstaunlicherweise kann man sie verlängern, wobei die charakteristische Torkelbewegung erhalten bleibt. So erhält man – unter anderem – den so genannten "Wobbler", der im Handel erhältlich oder mit leichter Mühe aus zwei kreisförmigen, halbgeschlitzten Bierfilzen zu verfertigen ist. Wenn die Länge der Stange gleich dem anderthalbfachen Kreisdurchmesser ist, der Mittelpunkt jedes Kreises also gerade auf dem Umfang des anderen liegt, ergibt sich das Skelett eines Körpers, den ein Schweizer Tüftler namens Paul Schatz (1898–1979) aus einem völlig anderen Zusammenhang, nämlich der Umstülpung des Würfels, ersonnen hat: das Oloid (Spektrum der Wissenschaft 2/1991, S. 10).

Auch das Oloid rollt in einer charakteristischen Torkelbewegung eine schiefe Ebene herab. Seine Oberfläche ist abwickelbar, sodass man es ohne weiteres aus Papier herstellen kann. Nur die algebraische Berechnung seiner Form ist sehr mühsam. Erst vor wenigen Jahren haben Hans Dirnböck und Hellmuth Stachel aus Klagenfurt sowie unabhängig von ihnen der Ingenieur Christian Wissler aus Jona (Schweiz) das Oloid und seine Abwicklung explizit berechnet. Wissler hat auch mit dem Computeralgebra-Programm "Mathematica" visualisiert, wie zwei Oloide aneinander abrollen.

Wer selbst mit den merkwürdigen Torkelkörpern experimentieren will, findet unter www.spektrum.de/spheri-con_bastel.html Bastelbögen als PDF-files zum Ausdrucken und Kopieren auf Karton. Es handelt sich um die nach Lenzingers Prinzipien zerschnittenen und wieder zusammengesetzten Rotationskörper zum gleichseitigen Dreieck, zum Quadrat (Sphericon), zum Fünfstern, zum Sechseck (Hexasphericon), das genäherte Möbiussche Dreikant sowie das Oloid.

Literaturhinweise


The Development of the Oloid. Von Hans Dirnböck und Hellmuth Stachel in: Journal for Geometry and Graphics Bd. 1, Heft 2, S. 105–118 (1997).

Wobbler, Torkler oder Zwei-Scheiben-Roller. Von Christian Ucke und Hans-Joachim Schlichting in: Physik in unserer Zeit, 25. Jahrg., Heft 3, S. 127–128 (1994).

Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2000, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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