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Neutrino-Oszillation: Der Neutrinomasse auf der Spur

Ein riesiger Detektor im Inneren des japanischen Berges Ikenoyama fängt Neutrinos, die entweder aus dem All oder von einem Teilchenbeschleuniger in 250 Kilometer Entfernung stammen. Die Experimente liefern starke Indizien, daß sich Neutrinos eines Typs im Flug in einen anderen verwandeln – ein deutlicher Hinweis darauf, daß diese geisterhaften Teilchen Masse besitzen. Die Auswirkungen auf die Kosmologie sind beträchtlich.


Während der letzten zwanzig Jahre suchten verschiedene Gruppen nach dem radioaktiven Zerfall eines freien Protons. Dieses sicherlich extrem seltene Ereignis (sofern es überhaupt vorkommt) wäre in einem Hintergrundrauschen anderer Reaktionen verborgen, das von unzähligen Elementarteilchen hervorgerufen wird. Zwar hatte die Suche noch keinen Erfolg, doch die Messungen zu den sogenannten Neutrinos hielten nicht weniger bedeutsame Überraschungen bereit.

Eines der Hauptbestandteile des Atoms, das Proton, scheint unsterblich zu sein. Genaugenommen betrifft dies nur den Zerfall eines freien Protons im Grundzustand. Angeregte Protonen, wie sie in Atomkernen vorkommen, können durchaus in ein Positron, ein Neutron und ein Neutrino zerfallen. Dieses Ereignis wäre ein deutliches Indiz für Prozesse, wie sie durch die Große Vereinheitlichte Theorie beschrieben werden, die über das erfolgreiche Standardmodell der Teilchenphysik hinausgeht.

Um dem ständigen Regen von Teilchen der kosmischen Strahlung – dem Hintergrundrauschen – zu entgehen, installierten Forscher riesige Detektoren tief unter der Erde, in Minen und Tunnels weltweit. Die erste Generation entsprechender Meßsysteme, die von 1980 bis 1995 in Betrieb war, entdeckte keinerlei Signale vom Zerfall eines Protons. Allerdings erkannten die Wissenschaftler dabei, daß der so alltägliche Neutrino-Hintergrund auch nicht einfach zu verstehen war. Eines dieser Experimente, genannt "Kamiokande", befand sich in der japanischen Bergwerksstadt Kamioka, etwa 250 Kilometer Luftlinie von Tokio entfernt. Kamiokande steht für "Kamioka Nucleon Decay Experiment". Genau wie im IMB-Experiment, das sich in einer Salzmine nahe Cleveland (US-Bundesstaat Ohio) befindet, überwachten die Wissenschaftler mit empfindlichen Detektoren ultrareines Wasser, in dem sie die Blitze zerfallender Protonen zu erblicken hofften.

Ein solches Ereignis wäre, wie die Nadel im Heuhaufen, in etwa tausend ähnlichen Lichtblitzen verborgen. Diese stammen von Neutrinos, die mit Atomkernen des Wasser reagieren. Obwohl bislang keine zerfallenden Protonen beobachtet wurden, stießen die Forscher bei der Analyse auf einen wahren Schatz: überzeugende Hinweise auf die unerwartete Fähigkeit der Neutrinos, sich auf ihrem Flug von einer Teilchensorte in eine andere umzuwandeln. Sollte sich das bestätigen, wäre dieses Phänomen ebenso aufregend und würde die Theorie genausosehr beeinflussen wie die Entdeckung des Protonzerfalls.

Neutrinos sind außergewöhnliche, geisterhafte Teilchen. Jede Sekunde durchdringen mehr als 60 Milliarden davon jeden Quadratzentimeter unseres Körpers (und auch alles andere); zumeist stammen sie aus der Sonne. Da Neutrinos aber nur selten mit anderen Teilchen reagieren, können sie einfach durch große Materiemengen hindurchfliegen, ohne auch nur mit einem Atom zusammenzustoßen. Ein Strahl dieser Teilchen vermag durch einen Bleiblock von einem Lichtjahr Länge zu laufen, ohne Veränderungen zu hinterlassen. Auch ein Detektor wie Kamiokande fängt daher nur einen winzigen Teil der Neutrinos ein, die ihn durchqueren.

Drei Arten (flavors) von Neutrinos sind den Physikern bisher bekannt, die im Standardmodell der Teilchenphysik mit drei geladenen Partikeln verknüpft sind: dem Elektron sowie seinen massereicheren Verwandten, dem Myon und dem Tau. Ein Elektron-Neutrino, das mit einem Atomkern in Wechselwirkung tritt, kann ein Elektron erzeugen, während ein Myon-Neutrino ein Myon und ein Tau-Neutrino ein Tau-Teilchen hervorbringt. Den größten Teil der siebzig Jahre, die seit der Postulierung des Neutrinos vergangen sind, gingen die Physiker davon aus, daß diese Teilchen masselos sind, also zwar Energie, aber keine Ruhemasse besitzen. Wenn sie sich aber tatsächlich von einer Neutrinovariante in eine andere umwandeln können, dann folgt aus dem Standardmodell, daß die Annahme nicht zutrifft. In diesem Fall wäre die Konsequenz dramatisch: Alle Neutrinos zusammengenommen könnten die Masse aller Sterne im Universum übertreffen.



Suche nach dem blauen Licht



Wie so oft in der Teilchenphysik führt der Weg zu neuen Erkenntnissen über den Bau einer größeren Maschine. Für Super-Kamiokande, oder kurz Super-K, übernahmen die Konstrukteure das grundlegende Design von Kamiokande und vergrößerten es um einen Faktor 10 (siehe Graphik vorige Seite). Eine Anordnung lichtempfindlicher Detektoren blickt im Super-K in das Innere eines mit 50000 Tonnen Wasser gefüllten Tanks, dessen Protonen zerfallen oder von einem Neutrino getroffen werden können. In beiden Fällen erzeugt die Reaktion neue Teilchen, die sich durch einen blauen Lichtblitz verraten. Diese Strahlung ist das optische Analogon des Überschallknalls und wurde 1934 von Pavel A. Tscherenkow entdeckt. Ähnlich wie bei einem Flugzeug, das bei Überschallgeschwindigkeit eine akustische Stoßwelle erzeugt, emittieren geladene Teilchen (wie Elektronen oder Myonen) hoher Energie Tscherenkow-Strahlung, sobald sie sich in einem Medium mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen. Die Einsteinsche Relativitätstheorie, die den Grenzwert für die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum (c) festlegt, wird dabei keineswegs verletzt, denn in Wasser breitet sich elektromagnetische Strahlung etwa 25 Prozent langsamer aus als im Vakuum. Hochenergetische Teilchen mit etwa c sind daher schneller als Licht und emittieren Tscherenkow-Strahlung, die sich entlang ihres Weges kegelförmig ausbreitet.

Im Super-K projiziert sie einen Ring aus Licht auf die mit Lichtdetektoren besetzten Wände, denn die geladenen Teilchen bewegen sich meist nur einige Meter weit. Größe, Form und Intensität dieses Rings verraten den Forschern die Eigenschaften des geladenen Teilchens. Daraus können sie auf die entsprechende Neutrinosorte schließen, die von diesem Teilchen hervorgebracht wird.

Die Tscherenkow-Strahlung von Elektronen und Myonen erzeugt in den Lichtsensoren verschiedene Muster, so daß sich beide Teilchensorten problemlos unterscheiden lassen: Elektronen verursachen einen Teilchenschauer, der einen verwaschenen Ring erzeugt und sich deutlich von dem scharf abgegrenzten Ring eines Myons unterscheidet. Anhand des Lichts der Tscherenkow-Strahlung lassen sich Energie und Flugrichtung der Elektronen und Myonen bestimmen, daraus wieder in guter Näherung die Eigenschaften der entsprechenden Neutrinos ableiten.

Doch leider: Die Sensoren des Super-K können Tau-Neutrinos nur schlecht nachweisen. Diese Teilchen reagieren nämlich nur dann mit einem Kern – unter Erzeugung eines Tau-Partikels – wenn ihre Energie hoch genug ist. Die Masse eines Myons beträgt das 200fache, die Tau-Masse das 3500fache eines Elektrons. Erstere entspricht Energien, wie sie auch Neutrinos aufweisen, die in der Erdatmosphäre erzeugt werden. Aber nur ein Bruchteil davon besitzt Energien im Bereich des Tau-Teilchens, so daß die meisten Tau-Neutrinos den Super-K unregistriert durchqueren.

Eine der grundlegenden Fragen an den Super-K lautet: "Wie viele Neutrinos kommen an?" Verbunden damit müssen wir auch fragen: "Wie viele haben wir erwartet?"

Super-K beobachtet "atmosphärische" Neutrinos. Sie entstehen in Teilchenschauern, die von einem energiereichen Teilchenwind aus dem All erzeugt werden, der sogenannten Kosmischen Strahlung. Die einfallenden Projektile (die primäre Kosmische Strahlung) bestehen zumeist aus Protonen mit einem nur geringen Teil schwererer Atomkerne wie Helium oder Eisen. Jede Kollision mit Atomen der Atmosphäre erzeugt einen Schauer aus Elementarpartikeln, zumeist Pionen und Myonen. Während ihres kurzen Flugs durch die Luft zerfallen diese Folgeprodukte wieder unter Aussendung von Neutrinos. Wir wissen in etwa, wie viele kosmischen Strahlen jede Sekunde auf die Atmosphäre treffen und wie viele Pionen und Myonen bei jeder Kollision freigesetzt werden. Daraus können wir folgern, wie viele Neutrinos wir zu erwarten haben.

Leider ist diese Vorhersage nur auf 25 Prozent genau, und so greifen wir auf einen allgemein üblichen Trick zurück: Das Verhältnis zweier Größen kann oft besser bestimmt werden als jeder der Werte allein. Deshalb untersuchen die Forscher beim Super-K die Zerfallsequenz des Pions. Das Pion zerfällt zuerst in ein Myon und ein Myon-Neutrino; das Myon zerfällt danach weiter in ein Elektron, ein Elektron-Neutrino und ein weiteres Myon-Neutrino – insgesamt sind am Schluß also ein Elektron- und zwei Myon-Neutrinos entstanden.

Hier setzen die Beobachtungen an. Gleichgültig wie viele kosmische Strahlen auf die Erdatmosphäre treffen und wie viele Pionen dabei entstehen: Für jedes Elektron-Neutrino, das wir beobachten, sollten wir auch zwei des Myon-Typs entdecken. Die exakte Berechnung dieses Prozesses ist zwar um einiges komplizierter und beruht auf Computersimulationen der kosmischen Teilchenschauer, führt letztlich aber auf ein Verhältnis, das sich mit einer Genauigkeit von fünf Prozent vorhersagen läßt. Diese Prognose bildet einen sehr viel besseren Prüfstein, als es die jeweils absolute Anzahl der einzelnen Teilchen sein könnte.

Nach fast zwei Jahren Messung stellte das Team des Super-K fest, daß Myon-Neutrinos zu Elektron-Neutrinos etwa im Verhältnis 1,3:1 auftraten und keineswegs im Verhältnis 2:1. Selbst wenn wir unsere Annahmen über den Neutrinofluß, dessen Wechselwirkung mit den Atomkernen oder die Reaktion unseres Detektors auf diese Ereignisse variieren, sind wir nicht in der Lage, ein derart niedriges Verhältnis zu erklären – es sei denn, die Neutrinos können sich von einer Sorte in eine andere umwandeln.

Diese Schlußfolgerung ist überraschend und von größter Wichtigkeit. Um sie zu überprüfen, können wir den Trick mit der Verhältnisbildung anwenden. Die Frage ist: Wie viele Neutrinos sollten den Detektor aus jeder einzelnen Richtung erreichen? Die primäre Kosmische Strahlung trifft auf die Erdatmosphäre aus allen Richtungen mit gleicher Intensität. Lediglich zwei Effekte verändern diese Gleichförmigkeit:

  • Das Erdmagnetfeld verändert die Bahn einiger kosmischer Teilchen, insbesondere der niederenergetischen, und damit deren Einfallsrichtung.
  • Teilchen, welche die Erdatmosphäre tangential treffen, lösen Schauer aus, die nicht so tief in die Erdatmosphäre eindringen und sich während ihres Fluges anders entwickeln können als Schauer, die senkrecht auf die Erdatmosphäre treffen.


Aber hier hilft uns die Geometrie: Blickt man in einem bestimmten Winkel gegenüber der Senkrechten nach oben und danach in demselben Winkel direkt nach unten, sollte man aus beiden Richtungen dieselbe Anzahl von Neutrinos beobachten. In beiden Fällen werden sie von kosmischen Teilchen erzeugt, die unter demselben Winkel auf die Atmosphäre treffen. Im einen Fall finden die Kollisionen jedoch direkt über uns statt, im anderen Fall auf der gegenüberliegenden Seite der Erdkugel (siehe Abbildung vorige Seite). Wir nutzen diese Tatsache, indem wir Neutrinoereignisse bei hinreichend hoher Energie auswählen. Damit beziehen wir uns auf ursprüngliche kosmische Teilchen, die nicht vom Erdmagnetfeld beeinflußt wurden. Nun teilt man die Zahl der nach oben fliegenden Neutrinos durch die Zahl der nach unten fliegenden. Sofern die Teilchen sich nicht in andere Sorten umwandeln können, sollte dieses Verhältnis exakt gleich Eins sein.

Wie erwartet beobachteten wir etwa ebenso viele Elektron-Neutrinos nach oben beziehungsweise nach unten gehen; allerdings registrierten unsere Sensoren nur halb so viele nach oben wie nach unten gerichtete Myon-Neutrinos. Dieses Resultat war für uns bereits der zweite Hinweis, daß Neutrinos ihre Identität wechseln können. Darüber hinaus liefert es einen Anhaltspunkt, wie diese Umwandlung verläuft. Die nach oben fliegenden Myon-Neutrinos konnten nämlich nicht zu Elektron-Neutrinos werden, da es keinen Überschuß an aufwärts fliegenden Elektron-Neutrinos gibt. Daher bleiben als Möglichkeit nur Tau-Neutrinos übrig. Myon-Neutrinos, die sich in Tau-Neutrinos umwandeln, können aber den Super-K wie erwähnt ohne Wechselwirkung und damit unentdeckt durchqueren.



Schwebungen im Konzert der Neutrinos



Die erwähnten Zahlenwerte sind deutliche Hinweise darauf, daß diese Hypothese richtig ist. Aber warum findet eine solche Umwandlung statt? Die Quantenphysik beschreibt Teilchen, die sich durch den Raum bewegen, durch Wellen. Zusätzlich zu Eigenschaften wie Masse und Ladung besitzt also jedes Teilchen eine Wellenlänge und kann gestreut werden. Außerdem läßt es sich als Überlagerung zweier verschiedener Wellen darstellen. Nehmen wir einmal an, daß diese beiden Wellen etwas verschiedenen Massen entsprechen. Während sie sich ausbreiten, kann die "leichtere" der "schwereren" vorauseilen, wodurch beide miteinander interferieren. Entlang des Teilchenweges fluktuiert diese Interferenz, sie wird abwechselnd stärker und schwächer (siehe Kasten links). Solche Interferenzen haben ein Analogon in der Musik: Sind zwei Töne fast, aber nicht völlig identisch, werden Überlagerungsschwingungen hörbar.

In der Musik läßt das die Lautstärke wabern. In der Quantenphysik ermöglicht es die Entdeckung der einen oder der anderen oszillierenden Teilchensorte. Zu Beginn seines Fluges erscheint das Teilchen als Myon-Neutrino, mit einer Entdeckungswahrscheinlichkeit von 100 Prozent. Nach einer bestimmten Strecke zeigt es sich – ebenfalls mit einer Entdeckungswahrscheinlichkeit von 100 Prozent – als Tau-Neutrino. Zwischendurch wechselt es den Typ, je nachdem welche der Schwingungen gerade überwiegt.

Es klingt vielleicht etwas merkwürdig, wenn Teilchen auf diese Weise "oszillieren". Allerdings kennen die Physiker andere Teilchen, die ähnliche Veränderungen durchmachen, nämlich die Photonen. Licht kann in unterschiedlichen Polarisationen auftreten, beispielsweise linear polarisiert (senkrecht oder horizontal) oder zirkular (rechts- oder linksherum). Diese verschiedenen Zustände der elektromagnetischen Welle unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer Masse, da Photonen keine Masse haben. Doch in bestimmten optisch aktiven Materialien bewegt sich das linkszirkular polarisierte Licht schneller als das rechtszirkular polarisierte. Photonen mit senkrechter Polarisation entstehen durch Überlagerung dieser beiden Alternativen. Durchquert derartiges Licht ein optisch aktives Medium, rotiert (oszilliert) die Polarisationsrichtung von senkrecht zu horizontal und wieder zurück, je nachdem wie synchron die beiden zirkularen Komponenten sind.

Bei Neutrino-Oszillationen der Art, die wir am Super-K beobachten, brauchen wir kein optisch aktives Material. Allein die Massendifferenz zwischen den beiden Neutrinosorten genügt, um diese Teilchen oszillieren zu lassen, ganz gleich ob sich die Neutrinos dabei durch Luft, Fels oder das Vakuum bewegen. Sobald ein Neutrino am Super-K eintrifft, hängt der Betrag seiner Oszillation von seiner Energie ab sowie der Strecke, die es von seiner Quelle bis zu uns zurückgelegt hat. Bei den Myon-Neutrinos, die in unser Gerät von oben einschlagen, sind dies oft nur einige Dutzend Kilometer. Über so kurze Strecken können die Neutrinos nur einen geringen Bruchteil ihres Oszillationszyklus durchlaufen, so daß sich ihre Art nur geringfügig verschieben kann. Daher behalten von oben kommende Myon-Neutrinos ihren Typ; nach oben fliegende, die auf der anderen Seite der Erde entstanden sind, haben hingegen unterwegs bereits so viele Oszillationen durchgemacht, daß im Mittel nur die Hälfte von ihnen als Myon-Neutrinos detektiert werden. Die andere Hälfte durchquert den Super-K bereits unentdeckt als Tau-Neutrinos.

Diese Schilderung zeichnet nur ein grobes Bild. Die erwähnten Argumente halten wir jedoch für so überzeugend, daß Neutrino-Oszillationen inzwischen von den meisten Forschern als die wahrscheinlichste Deutung unserer Daten akzeptiert werden.

Um unsere Meßdaten abzusichern, führten wir eine Reihe weiterer detaillierter Untersuchungen durch. Wir prüften auch theoretische Modelle, in denen Oszillationen ausgeschlossen sind. Die Meßdaten haben keine große Ähnlichkeit mit den Werten, wie wir sie ohne Neutrino-Oszillation erwarten würden. Dagegen lassen sie sich zwanglos erklären, wenn wir annehmen, daß Neutrinos tatsächlich oszillieren – und zwar in einem ganz bestimmten Verhältnis der Neutrinomassen.

Anhand der über 5000 registrierten Ereignisse, die in den ersten zwei Jahren unserer Messungen auftraten, konnten wir die Möglichkeit ausschließen, daß unsere anomalen Häufigkeiten atmosphärischer Neutrinos lediglich eine statistische Schwankung darstellen. Natürlich müssen Neutrino-Oszillationen noch durch weitere Messungen in anderen Experimenten bestätigt werden. Mehrere Detektoren in Minnesota und Italien konnten bislang zwar den Effekt prinzipiell bestätigen. Da die Forscher dort aber bislang weit weniger Ereignisse registrieren konnten, haben deren Daten noch nicht dieselbe statistische Aussagekraft wie in unseren Messungen.

Weitere Indizien stammen aus Untersuchungen einer anderen Reaktion, die atmosphärische Neutrinos auslösen: Die Geisterteilchen kollidieren auch mit Atomkernen in den Felsen, in die unser Detektor eingebaut ist. Neben Elektronen erzeugen die Elektron-Neutrinos dabei ganze Schauer anderer Teilchen. Die werden im Felsen gleich wieder absorbiert und erreichen daher die Höhle mit dem Super-K nicht. Hochenergetische Myon-Neutrinos verursachen jedoch hochenergetische Myonen, die auch dicke Felsschichten durchqueren und sich deshalb in unserem Detektor bemerkbar machen können. Wir registrieren sie aber nur dann, wenn die Neutrinos nach oben fliegen. Der Grund: Die nach unten gerichteten Teilchen verschwinden im Hintergrundrauschen der aus Kosmischer Strahlung stammenden Myonen, die den Ikenoyama dauernd von oben her durchqueren.

Unsere Detektoren können aufwärts fliegende Myonen registrieren, deren Flugbahnen von der Vertikalen bis fast zur Horizontalen reichen. Zwischen ihrer Entstehung in der Atmosphäre und der Erzeugung eines Myons in der Nähe des Super-K legen die Neutrinos Strecken von 500 Kilometern zurück – die Distanz zur Grenze der Atmosphäre in nahezu horizontaler Richtung; oder sie legen rund 13000 Kilometer zurück – die Distanz von der anderen Seite der Erde bis zu unserem Detektor. Unsere Messungen zeigten, daß die Zahl niederenergetischer Myon-Neutrinos, die eine lange Strecke fliegen, geringer ist als die von hochenergetischen Myon-Neutrinos, die nur eine kurze Flugstrecke haben. Dieses Verhalten entspricht genau dem, was wir von Neutrino-Oszillationen erwartet hatten.

Berücksichtigen wir nur die drei bekannten Neutrino-Arten, dann folgt aus unseren Daten, daß sich Myon-Neutrinos in Tau-Neutrinos umwandeln. Berechnungen mit der Quantentheorie besagen, daß diese Oszillationen mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine Masse der Neutrinos zurückgehen – obwohl seit fast siebzig Jahren davon ausgegangen wird, daß Neutrinos masselos sind.

Dabei schränkt die Quantentheorie unser Experiment auf die Messung der quadratischen Massendifferenz der beiden Neutrino-Arten ein, da sie die Wellenlänge der Oszillation bestimmt. Der Detektor ist nicht für die Masse selbst empfindlich. Die Daten des Super-K liefern eine Differenz der quadrierten Massen, die zwischen 0,001 und 0,01 Elektronenvolt (eV) zum Quadrat liegt. Betrachtet man die Massenverteilungen anderer bekannter Teilchen, so ist es sehr wahrscheinlich, daß eine der Neutrino-Arten sehr viel leichter ist als die andere. Dies würde bedeuten, daß die Masse des schwereren Neutrinos im Bereich von 0,03 bis 0,1 eV liegt. Welche Konsequenzen ziehen die Forscher nun aus diesen Ergebnissen?

Erstens: Falls Neutrinos eine Ruhemasse haben, widerlegt das nicht das Standardmodell. Allerdings werden einige Anpassungen notwendig. So erfordern die diversen Massezustände dieser Teilchen sogenannte Mischungsparameter. Solche Mischungen zwischen einzelnen Zuständen werden schon seit langem bei bestimmten Quarks beobachtet. Aus unseren Daten folgt, daß Neutrinos einen weit höheren Mischungsgrad zeigen als bislang angenommen – eine wichtige Eigenschaft für jede neue Theorie der Elementarteilchen.

Zweitens: Eine Masse von 0,05 Elektronenvolt ist – verglichen mit den Massen anderer Teilchen – immer noch beinahe Null. (Das leichteste Teilchen ist das Elektron mit einer Masse von 511000 Elektronenvolt.) Kein Wunder, daß die Forscher bisher annahmen, daß Neutrinos masselos seien. Aber Theoretiker, die eine sogenannte Grand Unified Theory (GUT) konstruieren möchten, in der alle Fundamentalkräfte mit Ausnahme der Gravitation miteinander vereinigt sind, berücksichtigen bereits diese kleinen Werte. Die GUT-Theoretiker benutzen ein mathematisches Hilfsmittel, den Sägezahn-Mechanismus, das kleine, aber von Null verschiedene Neutrino-Massen als etwas ganz Natürliches vorhersagt. In diesen Theorien liefert die Masse eines sehr schweren Teilchens, vielleicht auf der Massenskala der Großen Vereinheitlichung, die Grundlage, um die sehr leichten Neutrinos von den Hadronen und Leptonen zu trennen, die milliarden- und billionenmal schwerer sind.

Als weitere Folge beeinflußt die Neutrinomasse auf ziemlich dramatische Weise die Massenbilanz des Universums. Seit einiger Zeit versuchen Astronomen herauszufinden, wieviel Masse als leuchtende Materie – etwa in Sternen – und als normale Materie – in Braunen Zwergen oder Gaswolken – im Universum vorhanden ist. Die Gesamtmasse aller Objekte kann aus der Bewegung von Galaxien und der Expansion des Universums auch auf indirekte Weise erschlossen werden. Die direkten Meßwerte liegen jedoch bis zu einem Faktor zwanzig unterhalb den indirekt gemessenen. Der Wert der von uns vorgeschlagenen Neutrino-Masse ist zu gering, um dieses Rätsel aufzulösen. Dennoch könnten die im Urknall erzeugten Neutrinos, die ja den gesamten Raum ausfüllten, eine Gesamtmasse besitzen, die mit der Masse aller Sterne vergleichbar ist. Zudem könnten sie die Entstehung großräumiger astronomischer Strukturen wie etwa die Galaxienhaufen beeinflußt haben.

Schließlich haben unsere Daten unmittelbare Auswirkungen auf zwei Experimente, die demnächst in Betrieb gehen sollen. Aufgrund der Hinweise aus früheren Experimenten entschlossen sich viele Physiker, auf die ständig vorhandenen, aber unkontrollierbaren Neutrinos der Kosmischen Strahlung zu verzichten und statt dessen Neutrinos zu nutzen, die in Hochenergie-Beschleunigern erzeugt werden. Aber auch dabei müssen diese künstlich erzeugten Neutrinos größere Strecken zurücklegen, damit der Effekt der Oszillationen spürbar wird. Daher werden diese Neutrinostrahlen auf Detektoren gerichtet, die Hunderte von Kilometern weit entfernt sind. Ein solcher Detektor entsteht derzeit in Soudan, Minnesota. Das Gerät wird für Neutrinos ausgelegt, die 730 Kilometer entfernt vom Beschleuniger des Fermilab bei Batavia in Illinois, am Rande von Chicago, ausgesandt werden.

Natürlich ist ein guter Detektor für atmosphärische Neutrinos auch ein guter Detektor für die Neutrinos, die aus einem Beschleuniger stammen. Daher benutzen wir den Super-K in Japan, um einen Strahl dieser Teilchen zu überwachen, der vom KEK-Teilchenbeschleuniger in 250 Kilometer Entfernung ausgesandt wird. Die Vorteile sind beträchtlich: Anders als atmosphärische Neutrinos lassen sich diejenigen aus dem Labor an- und ausschalten, sie besitzen eine wohldefinierte Energie und kommen aus einer bekannten Richtung. Darüber hinaus haben wir einen dem Super-K ähnlichen Detektor in der Nähe des Ausgangspunktes des Strahls errichtet, um so die Myon-Neutrinos auch vor der Oszillation messen zu können.

Sinnvollerweise verwenden wir wiederum das Verhältnis der Meßwerte in der Nähe der Quelle sowie derjenigen in weiter Entfernung, um alle Unsicherheiten auszuschließen und den Oszillationseffekt zu bestätigen. Seit wenigen Monaten durchqueren bereits die Partikel des ersten künstlichen Neutrinostrahls großer Reichweite die japanischen Berge. Aus ihnen fischen 50000 Tonnen Wasser des Super-K einige wenige heraus. Wie viele genau dabei registriert werden, ist das nächste Kapitel dieser Geschichte.

Literaturhinweise


The elusive Neutrino: A Subatomic Detective Story. Von Nickolas Solomey. Scientific American Library, W.H. Freeman and Company 1997.

Neutrinophysik. Von Norbert Schmitz. Teubner, Stuttgart 1997.

Informationen zum Super-Kamiokande, dem K2K Long Baseline Neutrino Oscillation Experiment sowie dem Super-Kamiokande der Boston University findet man unter www-sk.icrr.u-tokyo.ac.jp/doc/sk; http://neutrino.kek.jp; http://hep.bu.edu/~superk/index.htm


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1999, Seite 44
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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