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Der Placebo-Effekt

Nicht nur bei psychischen, auch bei zahlreichen körperlichen Erkrankungen verspüren Patienten nach Einnahme eines Scheinpräparats Erleichterung. Das ärztliche Umfeld trägt ebenfalls zur Placebo-Wirkung bei. Sollte man diese Effekte gezielter im medizinischen Alltag nutzen?

Wie gut bei einer Erkrankung allein die Tatsache helfen kann, daß man sich kompetent versorgt fühlt, habe ich vor einigen Jahren am eigenen Leibe erfahren – und das, obwohl ich auf dem Gebiet seit heute fast zwanzig Jahren selbst forsche. Nach einer Skiwanderung bei Frostwetter bekam ich starke Kreuzschmerzen, die trotz der Anwendung bewährter Hausmittel einfach nicht weggehen wollten.
Ich war mir zwar sicher, daß nichts Ernstes vorlag, konsultierte nach einer Woche schließlich aber doch meinen Vetter, einen Physiotherapeuten, der mir schon manche leichteren Sportverletzungen gut auskuriert hatte. Er ließ sich die Symptome und den Hergang schildern, untersuchte mich dann und verordnete in der ihm eigenen bestimmten, väterlichen Manier gegen die diagnostizierte Muskelverspannung Eiskompressen, einige Dehnungsübungen und empfahl gegen die Schmerzen Ibuprofen, einen nicht-steroidalen Entzündungshemmer.
Schon gleich fühlte ich mich besser, obwohl die Beschwerden noch genauso da waren. Das Schmerzmittel nahm ich nicht, weil ich es nicht gut vertrage; doch die anderen Anweisungen befolgte ich geflissentlich, und danach war ich jedesmal ausgesprochen zufrieden mit mir. Nach zwei Tagen wurde der Schmerz erträglich – nach einer Woche war er völlig verschwunden.
Ob dies wirklich an der Behandlung lag oder ob die Besserung ohnehin eingetreten wäre, weiß ich nicht. Schon der bloße Umstand aber, daß ich fachlichen Rat gesucht und auch erhalten hatte, richtete mich damals innerlich auf, und ich fühlte mich weniger hilflos, gestresst und hoffnungslos. Allein solche Zuversicht mag meine Genesung gefördert haben: knapp gefaßt das, was man – nicht selten spöttisch – Placebo-Effekt nennt.
Unbestritten hat die Medizin heute beträchtlich an Wissenschaftlichkeit gewonnen, verglichen mit den Zeiten von Schröpfung, Aderlaß und mancherlei bitteren Tränklein. Trotzdem hängen Ärzte und Kranke nach wie vor an Maßnahmen, die gegen das Leiden selbst an sich gar nicht helfen können – man denke nur an Antibiotika, die oft bei virusbedingten Erkältungen und grippalen Infekten verordnet werden, obwohl sie bekanntermaßen nicht gegen Viren wirken, sondern nur gegen Bakterien. Es liegen sogar verschiedene Studien vor – unter anderem eine vom amerikanischen Ministerium für Technologiebewertung –, wonach nur etwa 20 Prozent der gebräuchlichen Heilmittel eine wissenschaftlich abgesicherte Wirkung haben. Die übrigen wurden nie in standardisierten Tests daraufhin überprüft, ob sie die angegebenen Effekte erzielen und wenn ja, wie.
Das bedeutet nun nicht, daß solche Behandlungen nutzlos seien. Tatsächlich sind die meisten nach aller Erfahrung bewährt. Doch in einigen Fällen dürfte eine Placebo-Wirkung maßgeblich sein, bei der schon die Einleitung einer therapeutischen Aktion – das Aufsuchen eines medizinischen Experten etwa oder das Schlucken einer Pille – genesen hilft.
Ich beschäftige mich mit dem Phänomen seit Anfang der achtziger Jahre. Sicherlich sind die vorliegenden Forschungsergebnisse noch immer sehr lückenhaft, doch zeichnen sich inzwischen einige deutliche Zusammenhänge ab. Gestützt darauf bin ich davon überzeugt, daß dieser bei Patienten wie Ärzten in Mißkredit stehende Effekt ein machtvolles Element des Heilens ist, und plädiere dafür, ihn verstärkt gezielt einzusetzen.

Depression

Mein Interesse am Placebo-Effekt wurde 1984 während der Mitarbeit an einer Studie über biochemische Besonderheiten bei Depressionen geweckt. Wir maßen damals auch das Stress-Hormon Cortisol, das die Nebennieren in Reaktion auf Belastungen ausschütten. Aus eigenen früheren Untersuchungen und solchen anderer Kollegen wußten wir bereits, daß von den Patienten, die sich wegen einer schweren Depression einer stationären Behandlung unterziehen müssen, etwa die Hälfte beträchtliche Mengen dieses Hormons erzeugt. Nun wollten wir prüfen, ob solche Personen auf Antidepressiva vielleicht besser ansprechen als Leidensgenossen mit normalem Cortisol-Spiegel. Da bei ihnen offenbar biochemisch irgend etwas aus dem Gleichgewicht geraten war, würde ihr Organismus – so unsere Überlegung – möglicherweise auf einen biochemischen Eingriff besser reagieren.
Was unsere Hypothese anbelangte, war das Resultat der Studie, bei der ein neues Antidepressivum getestet werden sollte, enttäuschend. Mihály Arató, ein junger ungarischer Psychiater, der damals in unserem Labor die Daten analysierte, fand keinen hormonabhängigen Unterschied in der Wirksamkeit des Mittels.
Einen verblüffenden Unterschied indes gab es. Wir hatten den Test als sogenannte Doppelblindstudie durchgeführt. Dabei wissen weder die Patienten noch die behandelnden Ärzte oder das Pflegepersonal, wer das Pharmakon und wer lediglich ein Scheinmedikament erhält. Diese Absicherung ist nötig, denn typischerweise bessert sich eine Depression bei 30 bis 40 Prozent der Betroffenen bereits, wenn sie nur ein Placebo schlucken. In dieser Hinsicht nun reagierten unsere beiden Kontrollgruppen völlig verschieden: Von den 22 Patienten mit normalem Cortisol-Spiegel fühlte sich beinah die Hälfte bei dem Scheinmedikament besser, von den neun anderen mit hohem aber niemand.
Dieser Effekt ließ sich später wiederholt bestätigen, auch von anderen Wissenschaftlergruppen. Demnach scheint es durchaus auch biochemische Gründe dafür zu geben, ob jemand bei einer Depression auf ein Placebo anspricht. Wie sich im weiteren herausstellte, unterscheiden sich die dafür empfänglichen und nicht empfänglichen Patienten auch sonst. Beispielsweise profitieren davon eher Menschen mit Kurzzeitdepressionen, die keine drei Monate bestehen; bei Langzeitdepressionen mit Phasen von einem Jahr oder mehr bessert ein Placebo selten etwas.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Jedoch beschränken sich Placebo-Wirkungen keineswegs auf psychische Leiden. In seiner vielzitierten Studie aus den frühen fünfziger Jahren kam Henry K. Beecher von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) zu der Ansicht, Placebos verschafften etwa 30 bis 40 Prozent der Patienten bei diversen Erkrankungen Erleichterung, darunter bei Schmerzzuständen, Bluthochdruck, Asthma und Bronchitis.
In bestimmten Fällen lassen sich sogar durch Scheinmaßnahmen noch wesentlich höhere Erfolgsquoten verbuchen. In dem Zusammenhang ist eine Untersuchung unter Edmunds G. Dimond von der Universität von Kansas in Lawrence aus den späten fünfziger Jahren zu nennen. Damals hat man bei Patienten mit Angina pectoris, anfallsartigen Herzbeschwerden infolge Mangeldurchblutung, gewöhnlich eine bestimmte Arterie im Brustraum unterbunden, in der Absicht, die Blutversorgung des Herzens zu verbessern, was einem Teil auch tatsächlich half. In dieser Studie wurden 13 Patienten regulär operiert, fünf andere dagegen zum Schein; der Einschnitt in die Brust wurde gemacht, die Arterie aber nicht abgebunden. Von den regulär Behandelten verspürten zehn (76 Prozent) Erleichterung – und in der anderen Gruppe alle (Bild 2 links). Heute wird der Eingriff nicht mehr vorgenommen.

Stress-Abbau

Was genau aber ist eine Scheintherapie, die gegenüber schulmäßigen Methoden nicht ungünstig abschneidet? Die Definitionen beziehen sich gewöhnlich auf Eigenschaften, die einem Placebo im Vergleich zu einem Medikament fehlen. Inaktiv – so eine häufige Definition – sind Scheinpräparate aber zweifellos nicht wirklich: Sie haben Einfluß und können recht effektiv vorteilhafte Reaktionen im Organismus auslösen. Des weiteren werden sie als unspezifisch beschrieben, vermutlich weil sie recht verschieden geartete Leiden lindern und weil man ihre Wirkweise nicht völlig versteht. Doch gemessen an diesen beiden Standards sind Placebos nicht weniger spezifisch als viele zugelassene, anerkannte Medikamente. Im engen Sinne versteht man darunter eine pharmakologisch wirkungslose Substanz (gleich ob zu schlucken oder zu injizieren), eben ein Scheinpräparat; mit dieser Definition ist aber längst nicht die gesamte Bandbreite von Prozeduren erfaßt, die einen Placebo-Effekt haben können.
Der gängigste Einsatzbereich von Placebos im engsten Sinne sind klinische Doppelblindstudien. Dabei erhalten die Patienten jedoch weit mehr als nur ein Scheinpräparat: Sie erfahren genauso die volle ärztliche Zuwendung wie die anderen Probanden, mit Untersuchungen, Gesprächen, einer Diagnose und einem plausiblen Therapieplan. Vielfach gilt dergleichen als eher nebensächlich, doch meines Erachtens liegt darin ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis des Placebo-Effekts.
Wie erlebt man beispielsweise einen Arztbesuch? Schon der Entschluß, sich medizinischen Beistand zu holen, gibt einem ein gewisses Gefühl von Kontrolle über die Sache. Zuversicht vermittelt auch die Atmosphäre mit den ärztlichen Symbolen und Ritualen – das Sprechzimmer, die Instrumente (insbesondere das Stethoskop) und die Untersuchung selbst. Es kann zudem beruhigend sein, wenn man endlich erfährt, woran man leidet. Eine günstige Prognose mindert die Angst; aber selbst eine schlechte läßt sich manchmal besser aushalten als zermürbende Ungewißheit.
Nimmt man dann das verordnete Medikament, kann bereits die Einnahme an sich einen therapeutischen Effekt haben. Beispielsweise erhalten Herzinfarktpatienten häufig Betablocker wie Propranolol, um Herzschlag und Blutdruck zu regulieren und so weiteren Schädigungen vorzubeugen. Vor kurzem ergab eine Studie an mehr als 2000 solchen Patienten, daß bei regelmäßiger Einnahme von Propranolol nur halb so viele Betroffene sterben wie bei unregelmäßiger. Doch auch in der Vergleichsgruppe, die ein Placebo erhielt, war bei strenger Befolgung die Sterberate halb so hoch wie bei lascher – und das, obwohl sich die beiden Fraktionen im medizinischen und im psychologischen Profil glichen (Bild 2 Mitte).
Bemerkenswerterweise scheinen Placebos am zuverlässigsten bei Leiden zu helfen, auf deren Symptome sich Stress direkt auswirkt. Das gilt nicht nur für bestimmte Formen von Depression und für Angstzustände, bei denen die Krankheit selbst in Stress besteht, sondern auch für gewisse andere Beschwerden, die sich bei Belastung und Aufregung verschlechtern, wie Schmerzen, Asthma und mäßig überhöhter Blutdruck.
Da könnte die Wirkung von Placebos zumindest teilweise daher rühren, daß sich die Besorgnis um die Erkrankung mindert. Nachweislich beeinträchtigen sowohl bei Tieren als auch beim Menschen Stress-Situationen das Immunsystem (Spektrum der Wissenschaft, November 1997, Seite 64). So erhöht sich bei Belastung unter anderem der Cortisol-Spiegel im Blut, und infolge davon sinkt die Abwehrkraft. Es ist durchaus denkbar, daß bereits die mit einer Placebo-Gabe einhergehende Milderung der Angst einen Krankheitsverlauf günstig beeinflußt, selbst bei einigen jener gesundheitlichen Störungen, denen man an sich nicht eine psychische Ursache zuschreibt.
Wichtig ist auch, daß der Patient an eine Besserung glaubt. Tatsächlich ist dann die Wahrscheinlichkeit höher, daß er nach der Maßnahme Erleichterung verspürt, und zwar bei recht vielen Erkrankungen. Diese Erwartungshaltung kann sogar ziemlich spezifische Folgen haben. Erzählt man beispielsweise den Teilnehmern einer Studie, das ihnen verabreichte – pharmakologisch wirkungslose – Gebräu enthalte Alkohol, dann fühlen sie sich hinterher oft davon beeinträchtigt, verhalten sich auch entsprechend und weisen sogar einige der körperlichen Symptome wie nach Alkoholkonsum auf. Vergleichbar reagierten Asthmatiker, als Thomas J. Luparello von der Staatsuniversität von New York sie in einer von ihm 1968 geleiteten Studie nur eine harmlose zerstäubte Salzlösung inhalieren ließ. Behauptete man, das Aerosol enthielte ein Reizmittel oder ein Allergen, verstärkten sich im Durchschnitt die Atembeschwerden. Als dieselben Personen hingegen ein Asthma-Medikament zu inhalieren vermeinten, weiteten sich die Atemwege.

Plädoyer für den Einsatz

Warum haben Placebos trotzdem einen so zweifelhaften Ruf? Der Begriff hat eine wechselvolle Geschichte. Es handelt sich um das lateinische Wort für "ich werde gefallen", mit dem die römisch-katholische Seelenandacht für Verstorbene beginnt: "Placebo Domino in regione vivorum (Ich werde dem Herrn wohlgefällig sein im Lande der Lebendigen)". Im 12. Jahrhundert nannte man die Handlung darum kurz Placebo. Im 14. Jahrhundert hatte sich die Bedeutung in eine profane, abschätzige gewandelt: So schimpfte man nun Kriecher und Speichellecker. Vermutlich rührte das vom Berufsstand der Placebo-Kantoren her, die den Trauergesang gegen Geld vortrugen. Als das Wort später in die Medizin einging, behielt es den abfälligen Beiklang. Man bezeichnete damit – so eine Definition von 1811 – alle Arten von Arzneien, die mehr zum Zwecke der Gefälligkeit als des therapeutischen Nutzens verschrieben wurden. In der modernen naturwissenschaftlichen Ära kam die Eigenschaft der pharmakologischen Wirkungslosigkeit hinzu.
Die Assoziation mit Täuschung und Unechtsein spiegelt das Stigma nur zu gut. Wenn ein Placebo Besserung bringt, heißt es gewöhnlich, die Krankheit sei wohl nur eingebildet gewesen. Das ist aber bei weitem nicht so, wie die vielen Beispiele tatsächlich vorhandener körperlicher Erkrankungen zeigen, bei denen eine Scheinbehandlung hilft.
Für Ärzte wie medizinische Forscher allerdings ist der belegte Placebo-Effekt eher ein Ärgernis. Der Wert hochgeschätzter Heilmittel muß sich daran messen lassen, was ihn relativiert. Zudem ist der Effekt bei der Entwicklung und Erprobung neuer Therapeutika hinderlich und kann sogar uns Mediziner in Mißkredit bringen. Ich meine aber, die wissenschaftliche Basis der Medizin dürfte heute unumstößlich und fest genug sein, den Placebo-Effekt ohne Schaden zu Heilzwecken einbeziehen zu können. Die großen Fortschritte der medizinischen Technologie in den letzten beiden Jahrzehnten haben unstrittig potente Wirkstoffe und Vorgehensweisen erbracht. Mit diesem Verständnis und vor diesem Hintergrund sollten wir jetzt bereit sein, die noch weniger erforschten Bereiche, die beim Heilungsprozeß mitwirken, ebenfalls zu nutzen.

Geschicktes Verhalten

Anhalt, wie der Placebo-Effekt sich medizinisch und ethisch vertretbar einsetzen ließe, um die Wirkung anerkannter Behandlungsmethoden zu steigern, ergibt sich aus den Jahrzehnten forscherischer Arbeit. Manches, was dabei an Vorschlägen herauskam, leuchtet unmittelbar ein und wird auch von vielen erfahrenen Ärzten – und Pflegekräften – von jeher wohl intuitiv angewendet: die Ausstrahlung von Fachkompetenz, die Zuwendung und das Schaffen einer Vertrauensbasis, auch gewisse Behandlungsrituale, nicht zuletzt manchmal das Aushändigen eines Rezeptes. Manche Patienten fühlen sich bereits durch den weißen Kittel und die Ausstattung der Praxis beruhigt; und vielen gibt eine gründliche Untersuchung mehr Zuversicht, als wenn der Arzt die Diagnose ohne sie parat hat, selbst wenn sie genau zutrifft.
Das heißt nun nicht, daß überflüssige diagnostische Prozeduren vorgenommen werden sollten. Doch kann man sich etwas Zeit nehmen – dem Patienten zuhören, ihm Fragen stellen und ihm den Sachverhalt erklären. Bei offenkundiger Bronchitis mag ein Abhören der Lunge dem Arzt nichts anderes bestätigen als das, was er auch so erkannt hat, dagegen dem Leidenden Vertrauen einflößen. Ähnliches gilt für die Pflege am Krankenbett.
Leider fällt vieles davon aus Kostengründen zunehmend weg. Dabei wäre es wichtig, auch diesen Therapie-Aspekt zu honorieren, den viele Mediziner durchaus auch heute schätzen, aber möglicherweise aus den Augen verlieren.
Insbesondere müßte der Arzt sich bei der ersten Konsultation auch nach früheren Erfahrungen des Patienten mit verschiedenartigen Therapien erkundigen, einschließlich alternativen, die von fachlicher Seite meist als Placebos angesehen werden. Es gilt herauszufinden, was dieser Person etwas gebracht hat und was nicht – und insbesondere, was ihrer eigenen Ansicht nach gegen die derzeitigen Beschwerden helfen dürfte.
Wenn irgend möglich, sollte der Kranke eine klare Diagnose hören und auch eine Prognose bekommen. Vor einiger Zeit lief an der Universität Southampton (England) eine Studie an 200 Patienten, die körperliche Beschwerden hatten, ohne daß die Ursache zu finden war. Einige erfuhren nach der Untersuchung, daß nichts Ernstes vorläge und sie bald wieder gesund würden; anderen wurde gesagt, die Ursache sei unklar. Von den Personen der ersten Gruppe ging es zwei Wochen später zwei Dritteln wieder gut, von denen der zweiten nur gut halb so vielen (Bild 2 rechts).
Wird ein Medikament verordnet oder irgendeine andere Behandlung, sollte dies dem Hilfesuchenden mit angemessenem Optimismus nahegelegt und klar herausgestellt werden, welche speziellen günstigen Effekte wahrscheinlich zu erwarten seien, in einer einfachen, dem Patienten unmittelbar verständlichen Weise. Man könnte einem Asthmatiker etwa sagen: "Mit diesem Mittel werden Sie wieder leichter atmen." Ebenso sollte man auf die möglichen Nebenwirkungen hinweisen sowie den mutmaßlichen weiteren Verlauf schildern. All das schafft Vertrauen, daß die Krankheit richtig erkannt und unter Kontrolle ist.
Falls mehrere verschiedene Therapien oder Medikamentierungen möglich sind, kann man den Patienten durchaus an der Entscheidung teilnehmen lassen. Nur sollten es nicht zu viele Alternativen sein – höchstens drei oder vier –, und alle müssen profund erklärt werden. Bei der Wahl allein lassen darf man den Betroffenen jedoch keinesfalls, ihn auch nicht beliebig irgendein Verfahren wählen lassen, und sei er noch so gut darüber informiert. Der Patient erwartet Expertenrat; das ist ein wichtiger Nutzen der Konsultation. Wer sich selbst behandeln möchte würde nicht zum Arzt gehen.
Nicht nur bei Bagatellerkrankungen wie grippalen Infekten, die einfach ihre Zeit dauern, sondern auch bei schweren und unheilbaren Leiden, etwa gewissen Formen oder fortgeschrittenen Stadien von Krebs, werden oft Mittel verschrieben, die lediglich Symptome lindern. Sie sind, um bestmöglichen Nutzen zu erzielen, mit nicht weniger Autorität und Bedacht zu empfehlen als eigentliche Heilmittel.
In der Praxis allerdings geschieht das nicht immer. So wird Erkältungs- und Grippepatienten oft nur gesagt, in einigen Tagen würde es ihnen wahrscheinlich wieder besser gehen, und sie könnten, wenn sie wollten, irgendwelche fiebersenkenden und schleimlösenden Präparate einnehmen. Viele fühlen sich dann in ihrem elenden Zustand nicht ernst genommen; sie wollen, daß etwas getan wird, und verlangen Antibiotika – die sie oft auch bekommen, obwohl sie gegen die Viren wirkungslos sind. Im Grunde gibt man diesen Menschen auch nur ein Placebo, zumindest was den zu behandelnden Infekt betrifft. Ich bin überzeugt, daß es in solchen Fällen dem subjektiven Befinden des Patienten genauso helfen würde, wenn der Arzt ihn gründlich untersuchte, dann ein Rezept für ein – ruhig frei erhältliches – Grippemittel ausschriebe, ihm dazu genaue Verhaltensanweisungen gäbe und eine Prognose, wann man durch das Medikament Besserung erhoffen darf.
Ist das nun Hokuspokus? Ich meine nein! Vielmehr ist dies ein medizinischer Ansatz, der alle Seiten der Heilung zu berücksichtigen sucht. Nebenbei ließe sich dadurch der teure und inzwischen bedenkliche massive Einsatz von Antibiotika beträchtlich vermindern.

Verordnen von Placebos

Eine andere Frage ist, ob Ärzte absichtlich pharmakologisch unwirksame Pillen verschreiben sollten. Vom ethischen Standpunkt aus müßten sie dies dem Patienten dann sagen, doch ginge damit auch die gewünschte Beeinflussung verloren. Sagen sie es nicht, wäre das eigentlich Betrug und langfristig zudem als Therapie nicht zu rechtfertigen. Ich denke, dieses Dilemma rührt großenteils von der abschätzigen Haltung zu Placebos her und von einer allgemeinen Unsicherheit über deren Wert.
Könnte man sich dazu durchringen, in Placebos eine durchaus breitenwirksame Therapie zu sehen, deren Wirkmechanismen nur nicht völlig begriffen sind und die bei manchen Beschwerden eher anschlägt als bei anderen (was im übrigen auch auf viele gebräuchliche Medikamente zutrifft), dann ließe sich dies als ehrliches und plausibles Behandlungsangebot offerieren. Selbstverständlich müssen, wie bei jedem Medikament, stets die Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen werden. Auf alle Fälle hat das Präparat unschädlich zu sein. Zudem gilt es, die Einstellung des Patienten beispielsweise zu den Selbstheilungskräften des Körpers oder etwa zur alternativen Medizin zu berücksichtigen. Zumindest in den USA sind die Praxen von Homöopathen und alternativen Therapeuten aller Art einer neueren Studie zufolge stärker frequentiert als die der Hausärzte; mindestens ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung nutzt gern irgendwelche Massagen, Vitamin- oder Kräuterkuren oder gar mehr oder weniger obstruse Heilverfahren. Wer solche alternativen Maßnahmen praktiziert oder in Anspruch nimmt, ist gewöhnlich fest von der definitiven Wirkung etwa hochdosierter Vitamingaben überzeugt; vielfach aber dürfte der Nutzen von einem Placebo-Effekt herrühren.
Wie würde man als Arzt beim Verschreiben eines Scheinpräparats vorgehen? Nehmen wir das Beispiel gering bis mäßig überhöhten Blutdrucks. Verschiedene Testreihen haben gezeigt, daß mindestens 20 Prozent der Patienten allein durch ein Placebo in wenigen Wochen kurierbar sind. Da eine herkömmliche medikamentöse Behandlung nicht nur recht teuer ist, sondern auch wenig erwünschte Nebenwirkungen hat, würden manche der Betroffenen vielleicht lieber erst einmal den anderen Weg erwägen. Natürlich wird man nicht platt sagen, sie sollten ein Leerpräparat einnehmen. Aber man könnte offen erklären, es gäbe mehrere Optionen. Eine sei die Einnahme eines harntreibenden Wirkstoffs, der wahrscheinlich helfe, aber unangenehme Begleiterscheinungen habe. Es gäbe auch weniger teure Möglichkeiten, von denen zudem weniger Nebenwirkungen zu erwarten seien. Sie würden oft Menschen mit den gleichen Symptomen Besserung bringen, auch wenn man noch nicht verstünde, wieso. Diese Pillen beispielsweise, zweimal täglich genommen, brächten bei jedem fünften Betroffenen den Blutdruck auf Normalwerte herunter. Sie enthielten zwar kein Pharmakon, aber regten möglicherweise die Selbstheilungskräfte an. Wenn sich der Patient dafür entscheide, werde der Arzt im vierzehntägigen Abstand Fortschritte überwachen; sollten die sich auch nach sechs Wochen noch nicht zeigen, wäre ein Umsteigen auf den harntreibenden Wirkstoff zu erwägen.Kranksein bedeutet nicht nur, daß mit dem Körper etwas in Unordnung ist: der Blutzuckerspiegel zu hoch, der Arm gebrochen, die Lunge entzündet. Es bedeutet zugleich Pein und Unwohlsein in vieler Hinsicht. Gegen diese Form des Leidens haben in unserer Kultur Pillen und andere Symbole ärztlicher Heilkunst viel Macht. In diesem Sinne sollte man die Wirkung von Placebo-Behandlungen hochschätzen und die sämtlichen Vorteile, auch den pekuniären, im medizinischen Alltag nutzen.Walter A. Brown ist seit 1974 in der psychiatrischen Abteilung der Medizinischen Fakultät der Brown-Universität in Providence (Rhode Island) tätig. Vor etwa zehn Jahren gründete er am selben Ort ein Forschungszentrum zur klinischen Erprobung von Psychopharmaka. Zur Zeit erarbeitet er eine Studie über Hirnfunktionen, bei der während experimentell induzierter Emotionen immunologische Parameter gemessen werden. Brown ist Mitglied der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft und des Amerikanischen Kollegiums für Neuropsychopharmakologie.Literaturhinweise
Der sogenannte Placebo-Effekt. Illusion, Fakten, Realität. Von Gunver S. Kienle. Schattauer, Stuttgart 1995.
Placebo, ein wirksames und ungefährliches Medikament? Herausgegeben von Thomas C. Gauler und Thomas R. Weihrauch. Urban & Schwarzenberg, München 1997.
Ein ethischer Rahmen für Placebos in klinischen Studien. Von Francisco J. de Abajo und Diego M. Gracia. In: Spektrum der Wissenschaft, Spezial 6: Pharmaforschung, Seite 86. Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft, Heidelberg 1997.
Persuasion and Healing. Von Jerome D. Frank und Julia B. Frank. Johns Hopkins University Press, 1991.
Harnessing Placebo Effects in Health Care. Von D. Mark Chaput de Saintonge und Andrew Herxheimer in: Lancet, Band 344, Heft 8928, Seiten 995 bis 998, 8. Oktober 1994, .
The Placebo Effect: An Interdisciplinary Exploration. Herausgegeben von Anne Harrington. Harvard University Press, 1997


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1998, Seite 68
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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