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Der Schmerz. Neue Erkenntnisse und Therapien


Jean-Marie Besson ist einer der führenden französischen Schmerzforscher, Direktor am nationalen Forschungszentrum CNRS in Paris und designierter Präsident der internationalen Fachgesellschaft der Schmerzforscher und Schmerztherapeuten (IASP). Es ist also ein Insider, der hier kompetent die moderne Schmerzforschung beschreibt, mit deutlichem Schwergewicht auf der faszinierenden Geschichte der Erforschung schmerzstillender Medikamente. Besson ist ein hervorragender Formulierer, der auch vor pointierten und manchmal etwas reißerischen Aussagen nicht zurückschreckt. Einzelne Kapitel halte ich für besonders gelungen, vor allem die über die Entdeckung und Erforschung der endogenen Opioide und die möglichen Wirkmechanismen der Akupunktur.

Ein rundum empfehlenswertes Buch? Leider nein.

Bei der Beschreibung der experimentellen Forschungen geht der Autor sehr ins Detail, und ein Leser, der mit den entsprechenden Techniken nicht vertraut ist, wird bei diesen Passagen seine Schwierigkeiten haben. Manchmal ist auch der Fluß der Gedanken nicht ganz einsichtig. So findet sich zum Beispiel eine längere Ausführung über die Wirkung von Opiaten im Rückenmark in dem Kapitel "Die Entwicklung der Chirurgie" und nicht dort, wo sie hingehört, nämlich in dem Kapitel über die Opiate. Vor allem gegen Ende des Buches entsteht der Verdacht, daß hier Artikel eingebaut wurden, die Besson ursprünglich für einen anderen Zweck geschrieben hatte.

Einige Ausführungen treffen für die deutsche Situation nur bedingt zu, so die über die Ethik von Tierversuchen, in denen die deutsche Tierschutzgesetzgebung aus einleuchtenden Gründen nicht berücksichtigt wird. Die Rolle der Ethik-Kommission ist hier ganz anders als in Frankreich.

Bei einigen Fehlern weiß man nicht recht, ob sie dem Autor oder der Übersetzung zuzuschreiben sind. So wird regelmäßig der projizierte mit dem übertragenen Schmerz verwechselt: Die erste Form entsteht bei Projektion von Empfindungen in Versorgungsgebiete geschädigter Nerven, die zweite hingegen ist eine Übertragung von Schmerzen aus Versorgungsgebieten für innere Organe in Headsche Hautzonen; das sind umgrenzte Hautareale, die über eine zentralnervöse Querverbindung jeweils einem inneren Organ zugeordnet sind.

Überhaupt die Übersetzung! Wie immer das französische Original sein mag, für die deutsche Fassung hätte sich der Verlag eine fachkompetente Überarbeitung leisten müssen. So aber haben sich viele Fehler eingeschlichen, die ganze Passagen verderben.

So hat Ethorphin angeblich analgetische Eigenschaften, die "10000mal wirksamer" als die von Morphin sind (Seite 76). Das ist Unsinn. Mit beiden Substanzen kann man einen Menschen umbringen, nur bei Ethorphin bereits mit einer geringeren Menge. Andererseits wird es kaum Schmerzen geben, die man mit Ethorphin stillen kann, nicht aber mit Morphin. Was soll man darunter verstehen, daß "Gewöhnung nicht gekreuzt ist" (Seite 82 oben)? Und so weiter.

Abgesehen von der Neurobiologie des Schmerzes und der Analgetika scheinen der Übersetzerin auch ganz allgemeine naturwissenschaftliche Begriffe und Sachverhalte nicht geläufig zu sein. So ist auf Seite 42 von der "Kohlenstoffkonzentration" die Rede, aber die Kohlendioxid-(CO2)-Konzentration muß gemeint sein. Im nächsten Satz liest man von der "ionischen Zusammensetzung", was sicherlich nichts mit Ionien zu tun hat. Auf Seite 45 erfährt man etwas über "Mastozyten"; gemeint sind wohl die Mastzellen. Zugegeben, diese Beispiele sind willkürlich herausgegriffen, sie lassen sich aber auf fast jeder Seite durch weitere ergänzen. Teilweise ist es zum Lachen, etwa wenn man auf Seite 43 von "entzündlichen Ausschwitzungen" liest oder auf Seite 49 erfährt, daß die nozizeptiven Fasern "eine Wanderung durch die hinteren Spinalnervenwurzeln" vornehmen, die in Klammern noch überflüssigerweise – in falschem Latein – als "radices dorsalis" bezeichnet werden.

So muß man feststellen, daß mit diesem Buch eine Chance vertan wurde. Das Formulierungstalent Jean-Marie Bessons hätte zumindest eine kompetente Übersetzung verdient. Besser noch wäre eine gründliche Überarbeitung für den deutschen Leser gewesen. Dieses Buch wird den Fachmann ärgern und den interessierten Laien verwirren.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1995, Seite 126
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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