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Der schöpferische Impuls. Eine neue Sicht der Evolution.


"Warum trägt die Katze keine Hörner?" fragt man sich augenreibend am Ende des Buches. Sie beziehungsweise ihre Ahnin, die ägyptische Falbkatze, ernährt sich nämlich äußerst eiweißreich. Bei der Verwertung von Proteinen fallen die Stickstoffträger Harnstoff und Harnsäure als Abfall an. Daß derart einseitige Ernährung sich vielfach in Körperanhängen und -abscheidungen ausprägt, das bleibt haften, nachdem man das Buch weggelegt hat und damit die Brille, durch die der Münchener Ökologe und Physiologe Josef Reichholf die Evolution neu sieht. Das Chitin der Insekten, das Keratin der Säuger und Vögel, die Cellulose der Pflanzen sind Beispiele für solche Deponien.

Katzen vermeiden Proteinabfälle – und Hörner – durch ihre auffällige Bewegungsökonomie, sowie sie der milchzuckerreichen Säuglingsnahrung entwachsen sind. Die Rinder wiederum sind Pflanzenfresser, dürften deshalb keine Hörner haben – wäre da nicht die cellulosespaltende Bakterienflora im Pansen. Verfügten etwa – diese Hypothese wird vorgestellt – auch die pflanzenfressenden Dinosaurier über gewaltige solcher Gärkammern und versorgten sich so mit mikrobiellem Protein?

Schon der Philosoph Friedrich Nietzsche ließ sich verächtlich über das Mangelkonzept des Darwinismus aus und sah in der Evolution vorherrschend "Reichtum, Üppigkeit und absurde Verschwendung". Waren seine "Streifzüge eines Unzeitgemäßen" (1889) also ein visionärer Volltreffer – rund hundert Jahre vor Reichholf? Der sieht, in Abwandlung von Konrad Lorenz' Metapher von Mutation und Selektion, die beiden großen Baumeister der Evolution im Mangel und im Überfluß.

Aber ist es nicht zunächst die Zwangslage eines ernährungsbedingten Überschusses, mit der es fertigzuwerden gilt? Reichholf schlägt als Hypothese vor: Nachdem die Deponie einmal eingeführt ist, tritt ein Funktionswandel ein, weg von der bloßen Deponierung hin etwa zur Wärme-Isolation durch die Haare der Säuger und die Federn der Vögel. Demnach wären die Federn als Isolierorgan schon voll entwickelt gewesen, als Archaeopteryx und seine nächsten Verwandten noch am Boden liefen. Mit der Deponie-Theorie stopft Reichholf eine Erklärungslücke: Was hat die Entwicklung der Vorformen von Federn begünstigt, mit denen ihr Träger noch nicht fliegen konnte?

Hinzu kommt ein anderer Gedanke: Ein unvermuteter Überfluß in der Nahrungslage gestattet der dominierenden Organismengruppe, (zum Beispiel energetisch) aufwendige neue Merkmale auszuprobieren, die einer unspezifischen Erhöhung der Autonomie und Verbesserung des Nahrungserwerbs dienen. Woher kommt aber der Überfluß? Potentielle Nahrungsquellen sind nach Reichholf oft Organismengruppen, deren Biomasse emporschnellte, sowie sich günstige Bedingungen für sie auftaten. So bot die explosive Vermehrung der Blütenpflanzen und der Insekten den Vögeln und Säugern die Chance zur Eroberung des Luftraums beziehungsweise der kalten Landzonen.

Damit landet Reichholf bei einem aktuellen Thema: den großen Sprüngen im Bauplanwandel. Zunächst stimmt er den Punktualisten – zum Beispiel dem Paläontologen Stephen Jay Gould – zu, welche die Umbrüche in relativ kurzen Phasen gestörten "Gleichgewichts" ansiedeln. Allerdings hält er ihnen vor, daß sie in nicht (mehr) haltbarer Weise auf die Disparatheit und Originalität der Baupläne ausgestorbener Formen setzten (siehe auch die Stellungnahme von Winfried Haas zu Goulds "Zufall Mensch", Spektrum der Wissenschaft, Februar 1993, Seite 128).

Was ist nun das Originelle an Reichholfs "schöpferischem Impuls"? Der Funktionswandel als solcher wohl kaum; dieselbe Idee wird gemeinhin unter "Präadaptation" transportiert. Reichholf selbst bringt das schon klassische Beispiel des Übergangs von der Schwimmblasen- zur Lungenfunktion. Es sind wohl eher die selbstgesetzten Schwerpunkte in seiner Evolutionserzählung, die zusammen etwas Neues ausmachen und zudem neue Entwicklungen der letzten 15 Jahre – übrigens auch für die Frühstadien des Lebens – leitmotivisch referieren: daß es allenthalben stoffwechselphysiologische Zwänge sein sollen, an die angepaßt wird, daß autonomiesteigernde Merkmale unter Bedingungen des Nicht-Mangels erworben werden, und daß solche Überflußsituationen des öfteren Ergebnis akkumulierter Biomassen sind. "Evolution vollzieht sich in Ungleichgewichten – das ist mein Kernsatz."

Einige evolutionstheoretische Bemerkungen sind für meinen auslesetheoretisch vorbelasteten Geschmack ungenießbare Brocken. (Daneben gibt es verblüffend akzeptable.) Wieso fallen für Reichholf die großschrittigen Neuerungen aus dem Darwinschen Schema von Variation und Selektion heraus? Er mißt dem Organismus eine eigengewichtige evolutionäre Rolle zu – in Gegenüberstellung zu den Genen – und hebt auf die Grenzen ab, die den Genen durch den "Organismus" gesetzt sind. Damit könnte er meinen, daß nicht jede Mutation ins genetische Wirkungsgefüge paßt und nicht jedes Merkmal sich nach innen und außen funktional einfügt, geschweige denn einen Evolutionsvorteil brächte. Aber trotz – und gerade wegen – dieser Beschränkungen muß ich sogar der von Reichholf kritisierten Formulierung Richard Dawkins' vom "egoistischen Gen" den Charme der Richtigkeit lassen.

Stoffwechselphysiologische Deponie-Funktionen, die einen Selektionsdruck ausüben: einverstanden, wenn solches als Tribut an den Organismus verstanden wird! Aber den Gnom, der Evolutionserzählern – ähnlich wie Nietzsche-Zarathustra der lähmende Zwerg – im Nacken sitzt, hat man so nicht abgeschüttelt, nämlich die Frage: Reicht die Dichte der genetischen Variation für große Schritte aus? Zur Seite gesprochen und durchaus spekulativ: Sollte man die genetische Variation nicht eher bei den Hörnern packen? Große Schritte könnten geschehen, wenn Merkmale neu entstehen würden nach dem Kriterium der Fähigkeit zum Anschluß an das Genwirkungsgefüge. Im Schatten und Schutz einer Überflußlage könnten die neuen Merkmale überleben.

Für den Fall, daß Mutationen selten sind, müssen die Darwinianer sich schon seit je aufs Spekulieren verlegen. Das tut auch Reichholf mit seiner – legitimen – Skizze. Nur müßte der märchenerzählende Charakter betont bleiben: "Jawohl, so könnte es gewesen sein."

Gute Märchenerzähler leben davon, daß ihnen dies am Ende der Zuhörer bestätigt. Demnach wäre Reichholfs in materialer Hinsicht aktuelle und bestimmte Skizze ein gutes Märchen. Und ganz am Ende, wenn man überhaupt je an ein solches gelangen und Gewißheit gewinnen sollte, könnte dieser Ritter Parzival im Dickicht der Evolution mit seinem Blick durch die Stoffwechsel-Brille sogar recht bekommen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1994, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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