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Der siebte Sinn schwach elektrischer Fische

Mit einem elektrischen Sende- un Empfangssystem können Nilhechte selbst in völliger Dunkelheit Objekte nicht nur orten, sondern auch erkennen, ob sie belebt oder unbelebt sind.


Daß bestimmte Fische beim Anfassen schmerzhafte elektrische Schläge austeilen, die Taubheit und Gefühllosigkeit hervorrufen können, ist seit mehr als 2000 Jahren bekannt. Schon Grabmalereien in Ägypten zeigen den Zitterwels (Malapterus electricus), der Entladungen mit einer Stärke von mehreren hundert Volt erzeugen kann. Solche stark elektrischen Fische benutzen die Stromstöße zur Verteidigung gegen Feinde oder zum Betäuben oder Töten von Beutetieren.

Erst seit Ende des letzten Jahrhunderts weiß man, daß es auch eine große Zahl schwach elektrischer Fische gibt. Sie erzeugen Spannungen von nur wenigen Volt, die selbst beim Berühren des Fisches nicht wahrzunehmen sind. Auch der Zweck der Entladungen ist ein ganz anderer: Sie dienen zum einen der innerartlichen Kommunikation und zum anderen dem Orten von Gegenständen im Wasser.

Schwach elektrische Süßwasserfische sind in den tropischen Flüssen und Seen Afrikas und Südamerikas beheimatet. Alle haben mindestens ein sogenanntes elektrisches Organ, das ausschließlich zum Erzeugen von Spannungsimpulsen dient. Komplettiert wird dieses elektrische Sendesystem durch entsprechende, Empfänger: spezielle Sinnesorgane, die über den gesamten Fischkörper verteilt sind und schwache Spannungen im Wasser wahrnehmen. Sie registrieren sowohl die Entladungen anderer Fische als auch die Signale des Senders.

Schon 1958 hatte Hans W. Lissmann von der Universität Cambridge ( England) nachgewiesen, daß schwach elektrische Fische imstande sind, mit ihrem besonderen Sinnesorgan Gegenstände zu orten. Dadurch erschließen sie sich eine neue Welt – können sie sich doch auch in der Nacht oder in sehr trübem Wasser orientieren, indem sie die Umgebung mit Hilfe der selbst erzeugten elektrischen Signale abtasten. Tatsächlich sind fast alle schwach elektrischen Fische nachtaktiv und verstecken sich tagsüber, wenn ihre sich visuell orientierenden Nachbarn auf Beutefang gehen, zwischen Steinen oder Wurzeln.

Aus Verhaltensexperimenten ist bereits seit längerem bekannt, daß solche Fische Gegenstände dadurch wahrnehmen können, daß diese die von den Tieren ausgesandten elektrischen Signale verändern. Nähern sie sich etwa einem elektrischen Nichtleiter (zum Beispiel einem Stein), so wird die Amplitude ihrer Entladung an den Hautstellen, die dem Stein am nächsten sind, lokal abgeschwächt; bei einem leitenden Gegenstand erhöht sich dagegen die wahrgenommene Signalstärke.

Ob die Tiere mit ihrem besonderen Sinn auch noch andere Materialeigenschaften eines Gegenstandes erkennen können, untersuchte einer von uns (von der Emde) an afrikanischen Nilhechten der Art Gnathonemus petersii (Bild 1). Dabei zeigte sich eine erstaunliche Empfindlichkeit der Fische gegenüber kapazitiven Eigenschaften, wie lebende Objekte – also andere Fische, Wasserpflanzen oder auch die kleinen Beutetiere der Nilhechte (vor allem Insektenlarven) sie typischerweise haben: Ihr Gewebe enthält Membranen und Epithelien, die wie kleine Kondensatoren wirken. Im Gegensatz dazu sind unbelebte Gegenstände meist nur rein ohmsche Widerstände. Die Verhaltensversuche ergaben, daß Nilhechte kapazitive Gegenstände zweifelsfrei identifizieren und selbst dann von ohmschen Widerständen unterscheiden können, wenn beide Objekte die Amplituden der ausgesandten Signale in gleicher Weise verändern.

Die Entdeckung dieser Unterscheidungsfähigkeit überraschte um so mehr, als sie physiologisch zunächst nicht erklärbar schien. Kapazitäten haben nämlich einen elektrischen Scheinwiderstand (Impedanz), der die Fischsignale ähnlich abschwächt oder verstärkt wie ein ohmscher Widerstand. Die Tiere müssen also außer der lokalen Signalamplitude noch etwas anderes registrieren, das typischerweise nur bei Kondensatoren vorkommt.

In weiteren Versuchen konnten wir herausfinden, worum es sich dabei handelt: Ein Kondensator verändert nicht nur die Amplitude des Fischsignals, sondern infolge einer Phasenverschiebung zusätzlich die Form des Pulses – er verzerrt ihn. Diese Verzerrung erreicht bei den Signalen von G. petersii bei einer Kapazität von 1 Nanofarad (milliardstel Farad) ihr Maximum und schwächt sich dann wieder ab. Die meisten Organismen im Lebensraum des Nilhechtes wie Wasserpflanzen, Fische und andere Insektenlarven haben Kapazitäten zwischen 1 und 50 Nanofarad, so daß sie den Spannungspuls des Fisches deutlich verzerren. Wie unsere Versuche ergaben, vermag der Nilhecht offenbar unabhängig von der Signalamplitude diese Verzerrungen zu erkennen.

Um diese verblüffende Fähigkeit zu verstehen, sahen wir uns die für die Elektroortung bei Nilhechten zuständigen Rezeptororgane, die Mormyromasten, genauer an. Aus anatomischen Untersuchungen war bereits bekannt, daß sie zwei morphologisch unterscheidbare Sinneszelltypen aufweisen. Diese Aund B-Zellen werden von getrennten Nervenfasern innerviert, die in unterschiedliche Areale des Fischgehirns führen. Beide Faserarten reagieren in elektrophysiologischen Versuchen auf das Signal eines schwach elektrischen Fisches damit, daß sie nach einer kurzen Latenzzeit einen oder mehrere Impulse ans Gehirn senden.

Um die Eigenschaften der beiden Fasertypen genauer zu studieren, spielten wir den Nilhechten im Computer gespeicherte digitale Aufnahmen ihrer eigenen Signale vor und zeichneten die Antwort der Fasern auf diese Reize auf. Dabei hatten wir die Phase der Signale zum Teil mit Hilfe eines Computers verschoben, so daß sie ähnlich verzerrt waren wie in Anwesenheit eines kapazitiven Objektes. Wie die Messungen ergaben, reagierten die A-Fasern auf alle Testsignale gleich; Pulsverzerrungen wurden schlicht ignoriert. Die B-Fasern hingegen verhielten sich deutlich anders: Wies das Testsignal auch nur die kleinste Phasenverschiebung auf, sandten sie mehr Nervenimpulse nach einer deutlich kürzeren Latenzzeit in Richtung Gehirn. Eine Phasenverschiebung von nur einem Grad – das entspricht einer zeitlichen Veränderung von weniger als einer millonstel Sekunde – reichte aus, um die Antwort einer B-Faser signifikant zu verändern.

Diese besondere Reaktion zeigen die B-Fasern auch unter natürlichen Bedingungen: Nähert sich der Fisch einem kapazitiven Objekt, steigt ihre Aktivität deutlich an, während die A-Fasern nur auf die veränderte Amplitude des Fischsignals ansprechen (Bild 2).

Durch diese Befunde glauben wir das Rätsel gelöst zu haben, wie Nilhechte kapazitive und ohmsche Objekte unterscheiden: In ihrem Zentralnervensystem könnte ein Verrechungsmechanismus existieren, der die einlaufenden Nervenimpulse benachbarter A- und B-Fasern vergleicht; feuern die B-Fasern öfter und schneller, so hat ein Objekt die Form der Entladung des elektrischen Organs verzerrt und sich damit als kapazitiv ausgewiesen.

Mit ihrem besonderen Sende- und Empfangssystem können schwach elektrische Fische also einen Gegenstand selbst in völliger Dunkelheit nicht nur orten, sondern auch erspüren, ob er freßbar oder nur ein Hindernis ist. Sie verfügen somit wirklich über einen siebten Sinn, der ihnen in ihrem Lebensraum von großem Nutzen ist.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1993, Seite 26
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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