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Der Supercode. Die genetische Karte des Menschen


Für die Physik sind es die Teilchenbeschleuniger, für die Raumfahrt waren es die Mondlandungen; seit Anfang der achtziger Jahre hat auch die Molekularbiologie ihr Mammutunternehmen: das Human-Genom-Projekt. Das ehrgeizige Ziel ist, bis zum Ende des Jahrhunderts die gesamte menschliche Erbinformation zu erfassen, indem man alle drei Milliarden Nucleotidpaare unserer DNA sequenziert. Walter Gilbert, Chemiker an der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) und Nobelpreisträger von 1980, bezeichnet es als den "Gral der Humangenetik".

Die Befürworter versprechen sich davon nicht nur wissenschaftlichen Fortschritt, sondern auch praktische medizinische Anwendungsmöglichkeiten. Hingegen beschwören die Kritiker die Vision vom "gläsernen Menschen" herauf und befürchten den Mißbrauch genetischer Daten durch Arbeitgeber, Versicherungen und viele andere Stellen – mit der Folge, daß die überwunden geglaubte Eugenik mit neuer wissenschaftlicher Begründung wiederaufleben würde.

"Der Supercode" beschäftigt sich in dreizehn Artikeln von zwölf Autoren mit den vielfältigen Aspekten des Human-Genom-Projekts. Das beginnt bei einer geschichtlichen Darstellung der Eugenik, in der die nationalsozialistische Ideologie allerdings nur am Rande vorkommt. Das Schwergewicht liegt auf amerikanischen Aspekten des Themas wie der Diskriminierung der Minderheiten in den USA.

Es folgen Kapitel über die Geschichte und den heutigen technischen Stand der DNA-Sequenzierung. Thomas Caskey vom Baylor College of Medicine in Waco (Texas) und Mitherausgeber Leroy Hood, Molekularbiologe an der Universität des Bundesstaates Washington in Seattle, zeichnen ein höchst optimistisches Bild von den Anwendungsmöglichkeiten der Sequenzdaten in der Medizin. Unumschränkt befürworten sie genetisches Screening zum Nachweis von Krankheiten und Krankheitsanfälligkeit bei Embryonen und Erwachsenen; Caskey reißt zwar einige der damit verbundenen gesellschaftlichen und juristischen Probleme an, meint aber beispielsweise zu der Frage, ob Personen mit genetisch bedingter Krankheitsdisposition von Versicherungen aufgenommen werden sollten, lapidar: "Deshalb erscheint es mir vernünftig, eine spezielle Versicherungskategorie für Versicherte mit hohem Risiko zu schaffen." Auch der noch vor wenigen Jahren allgemein anerkannte Grundsatz "Hände weg von der Keimbahn" scheint – so kann man zumindest zwischen den Zeilen lesen – nicht mehr uneingeschränkt zu gelten. Und Hood meint, man brauche nur 100 bis 500 Sequenzmotive kennenzulernen, um bei allen (!) Proteinen den Zusammenhang zwischen Struktur und Funktion zu verstehen.

Auf diese beiden Kapitel – Hood spricht am Ende überschwenglich von einem "Goldenen Zeitalter der Biologie" – und eine persönliche Betrachtung von James D. Watson, dem Mitentdecker der Doppelhelix-Struktur der DNA (Nobelpreis 1962), der das Genomprojekt bis 1992 leitete, folgen nachdenkliche und recht skeptische Beiträge über gesellschaftliche, ethische und juristische Probleme im Zusammenhang mit dem Projekt. Ist es Zufall oder Absicht, daß vier dieser fünf Kapitel von Frauen verfaßt wurden, während die Autoren der vorhergehenden ausschließlich Männer waren?

Die New Yorker Soziologin und Juristin Dorothy Nelkin weist unter der Überschrift "Die gesellschaftliche Sprengkraft genetischer Information" warnend darauf hin, in welche Richtung die Gedanken vieler Genetiker gehen: daß es eine gesetzliche Kontrolle über die Ausbreitung "schädlicher" Gene in der Bevölkerung geben müsse. Das Gen-Screening sieht sie als Ausprägung des ohnehin verbreiteten Hangs, auch noch die letzten Eigenschaften und Fähigkeiten eines Menschen durch Tests zu erfassen – mit allen Konsequenzen, die schon von Intelligenztests und vielen anderen vorgeblich objektiv-wertfreien Untersuchungen bekannt sind. Sie gelangt zu dem pessimistischen Schluß: "Wir laufen also Gefahr, mehr Menschen als arbeitsunfähig, nicht erziehbar oder nicht versicherbar zu definieren, mit anderen Worten also, eine genetische Unterschicht zu schaffen."

In weiteren Kapiteln geht es um juristische Fragen im Zusammenhang mit genetischen Fingerabdrücken; und Ruth Schwartz Cowan, Historikerin an der Staatsuniversität von New York in Stony Brook, behandelt ein frauenspezifisches Thema, das in der Diskussion um die Folgen genetischer Diagnostik bisher recht wenig beachtet worden ist: Wie können die neuen Diagnoseverfahren das Recht der Frau, selbst über Fortpflanzung und Schwangerschaft zu entscheiden, beeinflussen? Der vorletzte Beitrag diskutiert den Zusammenhang von Erbanlagen und Umwelt, und in ihren "Schlußbetrachtungen" geben die Herausgeber Hood und Daniel Kevles, Biologe am California Institute of Technology in Pasadena, nochmals einen durchaus nachdenklichen, dennoch vorsichtig optimistischen Überblick über das Thema.

Der Leser ist zunächst vielleicht verblüfft oder auch geradezu entsetzt über den recht naiven Optimismus, mit dem offenbar viele – auch führende – Wissenschaftler, die an dem Human-Genom-Projekt arbeiten, die Folgen und Zukunftsaussichten ihrer Arbeit betrachten. Im gesamten Kontext zeigt sich aber, daß das Thema durchaus ausgewogen behandelt ist. Eines wird allerdings ebenfalls deutlich: Die kritiklosen Befürworter scheinen für alle Fragen fertige Antworten parat zu haben – die zitierte Äußerung Caskeys macht das nur allzu deutlich. Die Kritikerinnen dagegen reißen Themen an, äußern dazu Überlegungen mit erheblich mehr Tiefgang, gelangen aber nicht zu fertigen Schlußfolgerungen. Damit spiegelt das Buch ein großes Dilemma wider, in dem sich die gesamte Diskussion um die "neue Genetik" befindet: Die technische Entwicklung schreitet so schnell voran, daß die gesellschaftliche Diskussion damit nicht Schritt halten kann.

Die Übersetzung ist inhaltlich korrekt und sprachlich gelungen – einige kleine Unachtsamkeiten (wenn da "rekombinierte DNA-Technik" steht, wird dann die DNA oder die Technik rekombiniert?) schmälern diese Einschätzung nicht sonderlich.

"Der Supercode" ist jedem zu empfehlen, der sich für die Möglichkeiten und Probleme der humangenetischen Analyse interessiert, wie sie sich aus dem hier behandelten Projekt ergeben. Die höchst optimistischen Einschätzungen der Befürworter werden hoffentlich viel Widerspruch provozieren, und die kritischen Artikel geben Hinweise, in welche Richtung man weiterdenken sollte. Es ist eine gute Diskussionsgrundlage – mehr kann man von einem solchen Buch nicht verlangen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1995, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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