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Musiktechnik: Der wohltemperierte Windkanal

Druckschwankungen stören den Wohlklang kostbarer Orgeln. Computersimulationen des Luftstroms sollen ihre Ursachen aufspüren.


Eine Pfeifenorgel beeindruckt nicht nur als Musikinstrument, sondern auch als Kunstwerk. Ihre Größe und stilvolle Schönheit lassen den Betrachter staunen und wecken Vorfreude auf das Klangerlebnis. Doch manche Orgel enttäuscht durch Misstöne, verursacht durch Druckschwankungen in der Luftzufuhr. Sie zu beseitigen ist gar nicht so leicht, denn jede Orgel ist ein Unikat, eigens entworfen nach dem jeweiligen Geschmack des Bestellers und angepasst an ihren Standort.

Im Rahmen eines zweijährigen, durch die Europäische Union geförderten CRAFT-Projektes (Cooperative Research Action For Technology) versuchten zwölf Orgelbaufirmen aus neun europäischen Ländern in Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut für Bauphysik in Stuttgart, praktikable Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Ein Ziel dieses Projektes war ein Computerprogramm, um das Luft zuführende "Windsystem" zuverlässiger auszulegen, als es rein handwerklich bislang möglich war.

Während früher Menschen mit Muskelkraft Tretbälge aufpumpten, versorgt heute ein elektrisches Gebläse die Pfeifen mit Luft. Doch zunächst gelangt sie in einen Balg, der als Speicher dient. Gewichte auf seinem Deckel erzeugen den Betriebsdruck der Orgel. Ein Ventil öffnet und schließt den Weg zwischen Gebläse und Balg. Der Wind fließt über Holzkanäle zu den so genannten Werken oder Windladen, auf denen die Orgelpfeifen stehen. Eine mittelgroße Orgel hat zwei bis drei davon und etwa zwanzig "Register". Das sind Reihen von 56 bis 60 Pfeifen einheitlicher Klangfarbe, aber verschiedener Tonhöhe.

Damit nicht genug besteht eine Windlade aus einem Windkasten und mehreren "Kanzellen". Auf denen wiederum stehen Pfeifen einer Tonhöhe, aber verschiedener Klangfarbe. Wenn der Organist eine Taste drückt, öffnet sich ein Tonventil zwischen Windkasten und Kanzelle, und alle Pfeifen der zuvor gewählten Register mit der richtigen, durch die Taste bestimmten Tonhöhe erklingen.

Dieser mechanische Vorgang birgt Probleme, wie Messungen zu Projektbeginn zeigten. Erhält eine Pfeife nicht genug Wind, entwickelt sie keinen vollen Klang. Das geschieht, wenn das eingebaute Gebläse zu klein ist oder im Windsystem zu viel Druck verloren geht. Besonders unangenehm aber empfindet der Zuhörer Schwankungen in Tonhöhe und Lautstärke, die von Druckschwingungen verursacht werden und sich dem Betriebsdruck der Orgel überlagern. Ob ein Instrument dafür anfällig ist, lässt sich einfach ausprobieren: Man spielt einen langen, hohen Ton und danach einen kurzen, dreistimmigen Akkord im tiefen Tonbereich. Deutliche Frequenz- oder Lautstärkeschwankungen bei dem einzelnen Ton sprechen für ein problematisches Windsystem.

Guter Wind für schöne Töne

Derartige Druckschwingungen verursacht vor allem die Trägheit des Balges. Wenn das Spielen zusätzlicher Töne mehr Wind verbraucht, sinkt sein Deckel nach unten und öffnet damit gleichzeitig das Rollventil, sodass vom Gebläse mehr Luft nachkommen kann. Umgekehrt steigt beim Loslassen von Tasten der Balgdeckel wieder nach oben und schließt dabei das Ventil, um die Windzufuhr zu drosseln. Deckel und Gewichte verhalten sich aber träge und hinken bei schnellem Drücken und Loslassen von Tasten im Wechsel der Sollbewegung hinterher: Die Luft im Balg sollte komprimiert werden, doch der Deckel bewegt sich noch nach oben – sie wird entspannt. Umgekehrt geht der Balg beim Lösen einer Taste nicht sofort auf – die Luft wird weiter komprimiert. Diese Störung ruft die erwähnten Druckschwingungen hervor.

Den Messungen zufolge beeinflussen das Volumen des Balges und die Abmessungen des Rollventils Stärke und Abklingzeit des unangenehmen Effekts. Wir haben am Fraunhofer-Institut ein Computerprogramm entwickelt, das mit einfachen, an den Messergebnissen orientierten Berechnungsmethoden in mehreren Schritten eine optimale Planung des Windsystems ermöglicht. Zunächst wird der maximale Windverbrauch anhand von Pfeifenabmessungen und experimentell ermittelten strömungstechnischen Parametern berechnet, danach die erforderlichen Abmessungen der Windkanäle bestimmt. Zur Optimierung lassen sich die gewünschte Stärke der Druckschwankung und ihre Abklingzeit eingeben. Hier wird ein einfaches physikalisches Modell benutzt. Wie schon vorher erwähnt wurde, reagiert das System Balg/Rollventil mit einer kurzen Verzögerung. In dieser Zeit fließt eine kleine Menge Luft. Das Verhältnis dieses Volumens zum Balgvolumen entspricht genau dem der Druckschwingungsamplitude zum Betriebsdruck. Mit anderen Worten: Je größer der Balg ist, umso kleiner werden die Druckschwankungen. Die Zeit, in der sie abklingen, lässt sich über den Druckabfall an der Öffnung des Rollventils verringern, beispielsweise durch eine schmale, lange Öffnung.

Der Orgelbau ist ein traditionelles Kunsthandwerk: Von dem elektrischen Gebläse abgesehen entsprechen heutige Instrumente in ihrer Bauweise denen von vor 400 Jahren. Druckschwankungen lassen sich in einem herkömmlichen Windsystem aber lediglich minimieren, nicht ganz beseitigen. Eine Alternative zu diesem System wären zum Beispiel offene Windsysteme mit einem Auslass- statt einem Einlassventil. Das reduziert sowohl die Stärke der Druckschwingungen als auch ihre Abklingzeit. Noch weiter ginge eine elektronische Steuerung: Dabei misst ein Sensor den aktuellen Druck im Windkasten, eine Regelelektronik bedient entsprechend das Auslassventil. So bleibt der Winddruck unabhängig vom Luftverbrauch immer konstant. Tests an Modellen verliefen erfolgreich. Nun ist es an den Projektpartnern, die praktische Umsetzung anzugehen.

Literaturhinweise


Orgelpfeifen. Von Neville H. Fletcher und Suzanne Thwaites in: Die Physik der Musikinstrumente. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, S. 32, 2. Auflage, 1998.

The problem of organ wind from an organist’s viewpoint. Von G. D. Wagner in: ISO Information, Heft 30, S. 24, 1989.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2001, Seite 76
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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