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Design für die Sinne - physio- und psychokonforme Gestaltung für Blinde


Die Möglichkeiten, die moderne Informations- und Kommunikationstechnologien eröffnen, können häufig diejenigen nicht nutzen, die sie am dringlichsten brauchen: Menschen, die unter der Beeinträchtigung oder dem gänzlichen Fehlen bestimmter Sinne leiden.

Zur Wahrnehmung von dreidimensionalen Objekten dienen Auge, Hand und Ohr. "Wenn ein Verwender seine Sinne nutzt, um sich in der Umwelt zurechtzufinden, so muß die Produktgestaltung dieser Gegebenheit Rechnung tragen und entsprechende Sinnesreize in der Objektwelt anbieten", hatte Heinz H. Schmitz-Maibauer als Doktorand an der Universität Köln in seiner Dissertation ("Der Stoff als Mittel anmutungshafter Produktgestaltung") schon 1978 konstatiert.

Wie viele kaum je hinterfragte, weil selbstverständliche Faktoren aber in diese ihrerseits scheinbar selbstverständliche Forderung eingehen, hat sich nun im Design-Forschungsprojekt "Blindengerechte Gestaltung" an der Universität Gesamthochschule Essen gezeigt: Erst die dezidierte Entwicklung von spezifisch tauglichen Geräten vermag eine eingehendere Vorstellung davon zu vermitteln, was es heißt, den Menschen – ob körperbehindert oder nicht – mit seiner subjektiven Wahrnehmung, seinem individuellen Leistungsvermögen und seinen Wünschen für eine lebenswerte Umwelt in den Mittelpunkt der gestalterischen Bemühungen zu stellen.


Begreifen, um zu erkennen

Für die Integration blinder und hochgradig sehgeschädigter Menschen in die moderne Berufswelt sind spezielle Hilfsmittel für die Arbeit an Computern nötig, im engeren Sinne also solche für die elektronische Erfassung, Verarbeitung und Darstellung von Texten und Daten. Sie müssen – außer daß sie eine Kompensation der Beeinträchtigung bieten – nicht nur wie sonst übliche Geräte optimal zu bedienen sein, dem letzten Stand der Technik entsprechen und kostengünstig gefertigt werden können, sondern auch dem Bedürfnis dieser sensiblen Personengruppe nach guter und zeitgemäßer Gestaltung entsprechen. Bei unserem Projekt sahen wir uns deshalb zunächst vor grundsätzliche Fragen gestellt: Welche Gestaltelemente signalisieren für Blinde oder sehgeschädigte Menschen die Vorder- oder Rückseite eines Objekts? Können gleiche Formelemente in unterschiedlichen Größen – als Teile einer Produktfamilie – tastend wiedererkannt werden? Welche Werkstoffe und welche Oberflächentexturen sind der wahrnehmenden Hand angenehm oder unangenehm? Gibt es anmutungshafte Wechselbeziehungen zwischen der haptisch wahrgenommenen Gestalt eines Objekts und seiner technisch-funktionalen Qualität? Damit war klar, daß die Lösung unserer Aufgabe nicht eine Adaptation herkömmlicher Produktmuster durch bloßes Ersetzen oder Verlagern einzelner Funktionen sein konnte; vielmehr war vor der eigentlichen Entwicklungsarbeit zu untersuchen, welche Gestaltqualitäten prinzipiell blindenspezifisch sind. Eines der wichtigsten Ergebnisse war, daß die haptische Wahrnehmung – wie bei Normalsichtigen die visuelle – auf die optimale Gestaltung und Sinnhaftigkeit ausge-richtet ist und auch nur dann dem Benutzer den Charakter des In-Ordnung-Seins vermittelt. Blinde erwarten von der guten Gestalt eines Gerätes Ordnung, Symmetrie, Prägnanz und die Konzentration auf das Wesentliche. Ihre Wahrnehmung richtet sich sehr viel konzentrierter als die von Menschen, die über ein Sinnessystem mehr verfügen, auf jede für sie erkennbare Information, die sie dann auch auswerten. Gestaltinformationen, die nicht auf einen Zweck hin ausgerichtet sind, sowie ungeklärte Balancen zwischen Formen oder Formübergängen, nicht als signifikant erscheinende Asymmetrien, aber auch modische Formelemente oder anderes Beiwerk können an Gebrauchsgeräten irreführend wirken. Jegliche falsche Bedeutungskodierung muß mithin bei einer blindengerechten Produktgestaltung ausgeschlossen werden. Die Konzentration Blinder auf ihren Tastsinn macht sie auch sensibel für feinste Unterschiede in den Geräteoberflächen. Texturen werden eindeutiger wahrgenommen als von Normalsichtigen Farben; ihre Polymorphie ist derjenigen der Farben sogar – was Sehende schwerlich nachvollziehen können – zumindest gleich. Durch das Material und die Herstellung bedingte Oberflächentexturen können deshalb zur Differenzierung und Organisation von Gerätelandschaften eingesetzt werden. Sie dienen zusammen mit der Materialtemperatur – dem Grad der Ableitung von Körperwärme – und dem Körperklang eines Gerätes sowohl pragmatischen wie semantischen Zwecken. Positive und negative Qualitätsanmutungen werden bei Blinden über die haptische Erscheinung stimuliert und auf die Gesamtqualität eines Gerätes übertragen. Konkret bedeutete dies: Für Blinde signalisiert die flache Seite eines Objekts eher die Front als eine hohe Form. Rauhe und warme Oberflächen sind sympathischer als glatte und kalte; beispielsweise bieten polierte Metalle dem streichenden Finger kaum Widerstand und leiten die Körperwärme unangenehm ab. Geordnete und symmetrische Strukturen an einem Objekt können – über ihre funktionale Notwendigkeit hinaus – durchaus die Anmutung von Zuverlässigkeit und guter Gebrauchsqualität vermitteln. In weiterführenden ergonomischen Studien haben wir uns insbesondere mit der Anordnung und Funktionsweise der 8-Punkt-Braille-Tastatur und der 8-Punkt-Braille-Lesezeile beschäftigt. Die wichtigsten Anreger und Kritiker waren dabei blinde Fachleute, die täglich mit elektronischen Datenverarbeitungsgeräten umgehen, aber auch Schüler aus dem Internat der Blindenstudienanstalt in Marburg an der Lahn. Die Ergebnisse dieser gemeinsamen Arbeit sind eine typische Anordnung der Braille-Tasten (Bild 1) und die nach hinten geneigte Lesefläche der Braille-Schriftzeile (Bild 2). Beide Merkmale haben wir denn auch zu signifikanten Kriterien der Gestaltung erhoben, des weiteren die kabellose Verbindung aller Gerätekomponenten neben- und übereinander – ein Erfordernis, das sich aus den Erhebungen zu den Dimensionierungen von Blindenarbeitsplätzen ergab. Bei der Konzeption und Entwicklung der Gerätelinie legten wir zwei unterschiedliche Marketing-Konzepte zugrunde. Zum einen sollten die professionellen Anwender in der Datenverarbeitung mit der Kombination einer normalen Computertastatur und einer 80-Zeichen-Braille-Lesezeile angesprochen werden. Zum anderen wollten wir auch den eher privaten Anwendern mit einem Eingabe- und Speichergerät (Laptop) für Brailleschrift, einer kleineren und preiswerteren 20- oder 40-Zeichen-Lesezeile, einer Braille-Schreibmaschine und einem Braille-Drucker die Möglichkeit geben, moderne Kommunikationstechnik zu nutzen. Beide Ansätze ließen sich allerdings kombinieren, so daß schließlich ein einheitliches, in beiden Bereichen einzusetzendes modulares Blinden-Gerä-tesystem realisiert werden konnte. Die abschließende Erfolgskontrolle mit umfangreichen Untersuchungen und Tests bestätigte dieses Konzept. Seit 1991 ist das System in Produktion. Es erhielt 1992 vom Design Zentrum Nordrhein-Westfalen die Auszeichnung für höchste innovative Design-Qualität. Meine Mitarbeiter und mich hat das Forschungsprojekt "Blindengerechte Gestaltung" dafür sensibilisiert, in welchem Maße manche Trends im Industrie- und speziell im Kommunikations-Design zur allenthalben zu registrierenden Reizüberflutung beitragen. Doch wie mehrere direkt nebeneinander stehende Marktschreier nur Lärm produzieren, bewirken auch gestalterische Lösungen, die menschliche Wahrnehmungskapazitäten außer acht lassen oder absichtlich überfordern, daß sich die potentiellen Nutzer Augen und Ohren zuhalten. Sinnvolles Design hat die Aufgabe, ordnend und beruhigend auf die Sinne einzuwirken und ihnen Orientierungshilfe zu bieten – ästhetisch stimulierend, aber ohne schmälernde Auswirkungen auf das physische und psychische Wohlbefinden. Die konkrete Auseinandersetzung mit Defiziten der Wahrnehmungsfähigkeit ist dabei besonders hilfreich, weil dann das Problematische am vermeintlich Selbstverständlichen offenbar wird. Friedbert Obitz ist Professor für Industrial Design / Konzeption und Entwurf an der Universität Gesamthochschule Essen. Er studierte Industrial Design an der Werkkunstschule Hannover, arbeitete anschließend bei der Firma Siemens und dem amerikanischen Designer Eliot Noyes und wurde 1968 Dozent an der Werkkunstschule Krefeld und 1973 Professor an der Fachhochschule Niederrhein; 1979 erhielt er den Ruf nach Essen. Das modulare Blinden-Gerätesystem ist unter seiner Projektleitung in Forschungskooperation mit der Blista EHG in Marburg an der Lahn und den Studenten Udo Dörich, Jörg Ibach, Yorgo Liebsch, Christian Marx, Stefanie Radtke und Christian Smarslik sowie mit wissenschaftlicher Mitarbeit von Bruno Sijmons und Lothar Ziegler entwickelt worden.

Literaturhinweise


– Die Sinne und der Prozess der Wahrnehmung. Von J. J. Gibson. Bern 1973.

– Gesetze des Sehens. Von Wolfgang Metzger. Frankfurt am Main 1975.

– Blindengerechte Gestaltung. Von Friedbert Obitz. Designforschungsbericht, Essen 1992.

– Ganzheitpsychologie. Von Friedrich Sanders und Hans Volkelt. München 1967.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1994, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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