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Design künstlicher Proteine mit neuen Eigenschaften


Proteine, gemeinhin auch als Eiweißstoffe bekannt, sind die wichtigsten Funktionsträger in der belebten Natur. Als Enzyme, Hormone, Rezeptoren und Antikörper, Stütz-, Gerüst-, Struktur-, Transport- und Speicherproteine erfüllen sie eine Vielzahl von Aufgaben innerhalb und außerhalb von Zellen. Die chemische Struktur ist unmittelbar in den Genen codiert. Ihre Universalität hat schon vor vielen Jahren zum Einsatz dieser Biomoleküle in speziellen Anwendungen motiviert. Beispielsweise dienen bestimmte Enzyme als Biokatalysatoren in chemischen Synthesen. Blutgerinnungsfaktoren, Botenstoffe wie das Wachstumshormon und insbesondere Antikörper werden für die medizinische Diagnostik und Therapie immer wichtiger. Bislang nutzt man im wesentlichen natürliche Proteine, die mitunter schon mit gentechnischen Verfahren produziert werden. Neuerdings vermag man aber auch künstliche mit gänzlich neuen Eigenschaften zu entwerfen. Mittels Proteindesign könnte es beispielsweise bald gelingen, Biokatalysatoren regelrecht maßzuschneidern. Deren Einsatz wäre rein chemischen Reaktionen in vieler Hinsicht überlegen, vor allem durch höhere Ausbeute, geringeren Anfall von Nebenprodukten sowie Rohstoff- und Energieersparnis. Allerdings ist die molekulare Struktur von Proteinen äußerst komplex, eine Neukonstruktion deshalb problematisch. Chemisch betrachtet gehören sie zur Stoffklasse der Polypeptide, setzen sich also aus Aminosäuren als monomeren Bausteinen zusammen. Die sind jeweils durch Peptidbindungen, also einheitliche Bindungen von Amino- und Carboxylgruppen verknüpft. Deshalb nennt man solche Moleküle aus wenigen Aminosäuren Oligopeptide (nach griechisch oligos, klein oder wenig), größere Ketten Polypeptide (nach griechisch polys, viele); Längen bis zu mehreren zehntausend Einheiten sind durchaus möglich. Die periodische Aneinanderreihung der Monomere zu einem unverzweigten Polymer ist zwar chemisch einfach. Doch lassen sich die 20 verschiedenen natürlichen Aminosäuren in enormer Vielfalt kombinieren: Allein für ein eher kurzes Polypeptid aus nur 200 Bausteinen sind schon 20200 beziehungsweise 10260 Sequenzvarianten denkbar. Eine biologische Funktion oder biochemische Aktivität kommt aber erst zustande, wenn sich dieses fadenförmige Molekül richtig faltet, das heißt eine genau definierte Raumstruktur einnimmt. Nur dann nehmen beispielsweise die Aminosäuren im aktiven Zentrum eines Enzyms die Position ein, die für den katalytischen Umsatz eines Substrats erforderlich ist. Es besteht – außer um die Peptidbindungen selbst – freie Drehbarkeit um die chemischen Bindungen entlang der Polypeptidkette und entlang der Seitenketten der einzelnen Aminosäuren. Dadurch ergibt sich bei gegebener Aminosäuresequenz eine astronomische Zahl möglicher räumlicher Anordnungen, sogenannter Konformationen. Im Prinzip entspricht jedoch nur eine davon dem korrekt gefalteten funktionellen Protein. Diese native Konformation ist bereits in der Aminosäuresequenz der Polypeptidkette festgelegt – die Information dafür ist jedoch bislang noch nicht entschlüsselbar.

Molekulares Modellieren und Biocomputing

Konformation und Funktion natürlich vorkommender Proteine sind auf der Basis der Aminosäuresequenz allein nicht einfach zu verstehen. Immerhin läßt sich die räumliche Struktur in vielen Fällen mittels Röntgenstrukturanalyse experimentell aufklären. Ein Beispiel ist das Retinol-Bindungsprotein, das für den Transport von Vitamin A – Retinol – im Blut zuständig ist. Es besteht aus 183 Aminosäuren und enthält insgesamt fast 3000 Atome – zu viele für die direkte Anschauung etwa mittels eines mechanischen Modells, das dann auch kaum zu handhaben wäre.

Abhilfe schaffen computerbasierte numerische und graphische Methoden, die unter dem Begriff computer aided molecular design oder kurz molecular modeling zusammengefaßt werden. Dem Proteinchemiker ist es damit möglich geworden, Strukturen so zu visualisieren, daß ihre verschiedenen Merkmale anschaulich werden, etwa die räumliche Faltung der Polypeptidkette, die Anordnung von Aminosäuren in einer Bindungstasche, ihre Kontakte zum Ligand oder Substrat und vieles mehr.

Freilich läßt sich all dies kaum in einer einzigen Darstellung wiedergeben. Färbt man die einzelnen Atome nach Elementen ein (Bild 1 a), ist es häufig wesentlich übersichtlicher, dabei auf die Wasserstoffatome zu verzichten (Bild 1 b). Mitunter blendet man auch die Seitenketten der Aminosäuren aus, um Faltung und Topographie der Polypeptidkette besser zu veranschaulichen (Bild 1 c). Eine Gesamtdarstellung nach Art eines Kalottenmodells hingegen verdeutlicht den Einfluß von Aminosäuren an der Moleküloberfläche auf bestimmte Eigenschaften des Proteins (Bild 1 d).

Doch auch andere Darstellungsformen lassen sich wählen, bei denen nicht die Atome, sondern etwa Oberflächenbereiche nach elektrostatischem Potential oder hydrophobem Charakter farbcodiert sind. Einblick in das Innere des Proteins wie in sein aktives Zentrum oder in eine Bindungstasche gewinnt man, indem die räumliche Darstellung an interessanten Stellen aufgeschnitten wird. Besonders hilfreich ist dann die Visualisierung in Form einer Stereodarstellung, in der die räumliche Anordnung der einzelnen chemischen Gruppen deutlich wird.

Die visuelle Aufbereitung ist allerdings nur der erste Schritt beim molekularen Modellieren. Moderne Graphikprogramme ermöglichen auch weitergehende Operationen. So läßt sich die dargestellte Proteinstruktur gezielt manipulieren, indem man beispielsweise Aminosäuren austauscht oder deren Orientierung variiert.

Solche konstruktiven Veränderungen von Bekanntem – basierend auf Erfahrungen – stehen zumeist am Anfang eines Proteindesign-Projekts. Begleitend zu diesem interaktiven Prozeß sollen Modellrechnungen helfen, die Auswirkungen auf die Gesamtstruktur beziehungsweise auf die Funktion des Proteins abzuschätzen. Insbesondere sucht man dazu Konformationen minimaler Energie oder simuliert die Dynamik des hypothetischen Moleküls. Während diese klassischen Methoden auf einer physikalischen Beschreibung durch sogenannte Kraftfelder beruhen, gewinnen nunmehr solche Verfahren an Bedeutung, welche auf einer statistischen Analyse der rapide wachsende Zahl aufgeklärter Proteinstrukturen basieren.

In den letzten Jahren hat sich das Biocomputing als neues Forschungsgebiet etabliert. Besondere Bedeutung erhält es durch die Erfolge verschiedener Genom-Sequenzierungsprogramme, weil man dabei immer mehr Polypeptidsequenzen ermittelt, denen bislang unbekannte Proteine entsprechen. Diese Informationen gewinnen indes erst Sinn, wenn es gelingt, Struktur und Funktion dieser Proteine mittels Biocomputing zu prognostizieren.


Der Proteindesign-Zyklus

Im Unterschied dazu bildet beim Proteindesign eine gewünschte Funktion beziehungsweise Proteinstruktur den Ausgangspunkt. Gesucht ist also die Polypeptidsequenz, welche die dafür erforderliche dreidimensionale Faltung annimmt. Das Molecular Modeling schafft dafür eine Basis, seine Anwendung ist aber nur ein Schritt von mehreren, auch experimentellen. Die einzelnen Projektphasen stellt man häufig als Zyklus dar (Bild 2). Nachdem ein Computermodell entwickelt und daraus eine Aminosäuresequenz für das künstliche Protein abgeleitet worden ist, muß das dafür codierende Strukturgen hergestellt werden. Entweder geschieht das durch chemische Synthese oder – weniger aufwendig – durch lokale Variation eines schon vorhandenen Gens.

Die neuartige genetische Information läßt sich dann mit den Methoden der biologischen Synthese umsetzen, meistens indem man sie in ein Bakterium wie Escherichia coli einbringt. Da die Polypeptidketten in aller Regel zu lang sind, um sie mit chemischen Methoden zu synthetisieren, haben erst gentechnische Verfahren das Proteindesign in der Praxis möglich gemacht. Daran schließt sich die Abtrennung von den wirtseigenen Proteinen an. Dies war bis vor wenigen Jahren ein aufwendiger Prozeß, der für jeden Einzelfall neu ausgearbeitet werden mußte. Seit kurzem sind jedoch standardisierte Verfahren etabliert, bei denen dem neu konstruierten Protein eine Aminosäuresequenz angehängt wird, die dem Gesamtprotein steuerbare Bindungseigenschaften vermittelt. Diese nutzt man in einer sogenannten Affinitäts-Chromatographie zu dessen Reinigung.

Um die Funktion des so isolierten Biopolymers zu erproben, kommen je nach Ziel des Projekts verschiedene biochemische oder biophysikalische Methoden in Frage. Am Ende des Proteindesign-Zyklus steht schließlich die strukturelle Charakterisierung, entweder durch die Röntgenstrukturanalyse oder durch Kernspinresonanz-Spektroskopie. Diese aufwendigen Verfahren kommen vor allem dann in Betracht, wenn das konstruierte Protein nicht die Erwartungen erfüllt: Der Vergleich zwischen experimentell bestimmter Struktur und ursprünglichem Computermodell zeigt Fehler in der Planung auf, die in weiteren Design-Zyklen nach und nach korrigiert werden.


Eine erfolgreiche Anwendung

Ein Beispiel aus unserem Labor ist das Einführen einer Bindungsstelle für Metall-Ionen auf der Oberfläche des bereits erwähnten Retinol-Bindungsproteins (RBP). Dazu wurde die bekannte Raumstruktur der Carboanhydrase, eines Enzyms der roten Blutkörperchen, quasi als Vorlage genutzt (Bild 3 a). Im aktiven Zentrum des Enzyms wird ein Zink-Ion von drei Aminosäuren des Typs Histidin gebunden. Es sorgt dafür, daß das gasförmige Zellatmungsprodukt Kohlendioxid im Blut als Hydrogencarbonat gelöst wird.

Entscheidend für die Stärke der Bindung des Zink-Ions ist die genaue räumliche Ausrichtung der Aminosäure- Seitenketten, die Bestandteil eines sogenannten antiparallelen Beta-Faltblatts sind (außer der schraubenförmigen Helix ist das Faltblatt eine der wichtigsten Sekundärstrukturen der Proteine). Etwas Vergleichbares gibt es im zentralen Strukturelement des RBP – das Beta-Faß (Bild 3 b).

Durch molekulares Modellieren ermittelten wir eine Stelle auf dieser Struktur, an der sich drei Histidin-Seitenketten in möglichst ebensolcher räumlichen Orientierung anordnen ließen wie in der Carboanhydrase. Allerdings befindet sich die Bindungsstelle dort auf der konkav gekrümmten Seite der Faltblattstruktur, während sie im RBP auf der konvexen Außenseite des Beta-Fasses untergebracht werden mußte. Doch ließen sich schließlich zwei geeignete Positionen identifizieren, an denen drei Histidin-Reste aufgrund der lokalen geometrischen Gegebenheiten gut anzuordnen waren; eine davon ist in Bild 3 c dargestellt. In anschließenden Experimenten ersetzten wir dafür im RBP-Gen die Codierung der ursprünglich im Protein vorhandenen drei Aminosäuren durch die für Histidin und stellten die als RBP/H3(A) bezeichnete künstliche Variante gentechnisch her.

Untersuchungen an dem gereinigten Protein zur Bindung von Metall-Ionen belegten eine spezifische und hohe Affinität für Zink-Ionen (Bild 3 d). Außerdem stabilisierte das komplexierte Metall-Ion die räumliche Struktur des Proteins. Und überdies war das gebundene Metall an der Oberfläche der Struktur so gut zugänglich, daß es einen weiteren Liganden spezifisch binden konnte; das nutzten wir, um ein besonders effizientes Reinigungsverfahren für das neuartige Protein zu entwickeln.

Ein ähnliches, allerdings weitaus komplizierteres Projekt ist das Konstruieren eines künstlichen Antikörpers. Solche Wirkstoffe für therapeutische Zwecke zu gewinnen erfordert bislang das Immunisieren von Tieren. Es wäre zu wünschen, statt dessen auf die Biotechnik zurückgreifen und auch Tierversuche einschränken zu können.

Allerdings besteht die Bindungsstelle bei Antikörper-Proteinen aus immerhin etwa 30 Aminosäuren, die zudem auf sechs Abschnitte der Polypeptidketten verteilt sind. Bei der konstruktiven Veränderung einer Region mit derartiger Ausdehnung sind Vorhersagen von Struktur und Funktion bislang noch relativ ungenau.

Es ist aber abzusehen, daß das Proteindesign in naher Zukunft ermöglichen wird, gänzlich neue molekulare Werkzeuge für die industrielle Produktion sowie für die medizinische Anwendung rational zu planen und herzustellen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1996, Seite 110
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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