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Die Berechenbarkeit der Zukunft. Warum wir Vorhersagen machen können


Ist der Autor ein Scharlatan?

Auf den ersten Blick sieht es ganz so aus. Man steht einigermaßen fassungslos vor seinem dreisten Anspruch, so ziemlich die ganze Welt mit einer einzigen mathematischen Formel erklären zu können – und die ist noch nicht einmal besonders originell.

Mein Versuch, das Buch schnell und bequem an einer manifest absurden Behauptung oder Graphik als Unfug zu entlarven, schlug aber fehl. Dem flüchtigen Blick fallen allenfalls ein paar verbogene Kurven (Seiten 101 und 191) oder eine Skalenbeschriftung aus lauter Nullen (Seite 202) auf – Unsauberkeiten, nichts Wesentliches.

Vielmehr finden sich zunächst zahlreiche überzeugende Beispiele für eine legitime Anwendung der vorgeblichen Universalformel: Kaninchen besiedeln erstmals eine Insel; oder eine Tierart legt sich im Verlauf der Evolution eine neue Fähigkeit zu und besetzt erstmals eine entsprechende ökologische Nische. Nach bescheidenen Anfängen vermehren sich die Tiere immer rascher, bis der Zuwachs sich wegen eines Sättigungseffekts verlangsamt und schießlich zum Stillstand kommt. Nach dem gleichen Muster breitet sich eine Epidemie in einer begrenzten Bevölkerung aus, gewinnt ein Produkt, eine Einsicht, eine Ideologie oder auch eine Mode Anhänger. Ähnliches gilt für die wissenschaftliche oder künstlerische Produktion eines Menschen im Laufe seines Lebens: Die Anzahl seiner Werke steigt zunächst langsam, dann immer schneller, wenn sein kreatives Potential sich durch eine Art Lernpozeß entfaltet; in dem Maße, wie es seine Möglichkeiten erschöpft, verlangsamt sich der Anstieg.

In allen solchen Fällen ist es plausibel anzunehmen, daß der Zuwachs an Karnickeln, Infizierten, Bekehrten, Aufgeklärten, Anhängern einer Mode, Kunstwerken und so weiter einerseits der vorhandenen Anzahl, andererseits dem noch unausgeschöpften Potential proportional ist. Und schon ist man bei der logistischen Differentialgleichung (Spektrum der Wissenschaft, April 1995, Seite 66) und ihrer Lösung: Die Anzahl über der Zeit aufgetragen ergibt eine langgestreckt S-förmige, der Zuwachs über der Zeit eine glockenförmige Kurve.

Aus der Formel ergibt sich, daß die Glockenkurve spiegelsymmetrisch und die S-Kurve punktsymmetrisch ist. Das würde beispielsweise bedeuten, daß das Ende einer Modewelle so abläuft – mit umgekehrtem Vorzeichen – wie ihr Anfang und daß die letzten Werke eines Komponisten in genauso langsamer Folge fertig werden wie seine ersten Versuche. Insbesondere kann man, sofern die Formel zutrifft, die zweite Hälfte der Kurve, auch wenn sie noch in der Zukunft liegt, aus der ersten erschließen.

Theodore Modis, ein Physiker, der an der Columbia-Universität in New York und in Genf gelehrt hatte, wurde Strategieberater bei einem Computerhersteller und bekam von seinem neuen Arbeitgeber die Frage gestellt, wie viele Exemplare eines bestimmten Rechners der Markt wohl noch aufnehmen werde. Modis ging zu seinem Fachkollegen Cesare Marchetti vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalysen (IIASA) in Laxenburg bei Wien und lernte von ihm, zunächst widerstrebend, dann immer überzeugter, die Kunst der Prognose mit der logistischen Gleichung: Man finde diejenige S-Kurve, die am besten zu den bereits vorliegenden Daten paßt, und extrapoliere sie in die Zukunft. Das gibt einem beispielsweise eine Vorhersage, wann der Markt zu 90 Prozent mit einem Produkt gesättigt sein wird und wie viele Exemplare man wohl insgesamt wird absetzen können.

Das Verfahren liegt voll in diversen Trends, denn die Funktion ist nichtlinear und läuft gesetzmäßig auf ein Nullwachstum hinaus. Es ist auch sonst ganz in Ordnung – wenn die Voraussetzungen zutreffen. Ich versuchte dem nachzugehen und gelangte dabei definitiv zu der Überzeugung, daß Modis kein Scharlatan ist; denn er ist von entwaffnender Ehrlichkeit. Er führt getreulich zahlreiche Fälle auf, in denen seine S-Kurve nicht so recht paßt, und bietet für jeden Einzelfall eine Erklärung an.

Warum fügt sich die Anzahl der Werke von Johannes Brahms (1833 bis 1897) für die frühen Jahre bis 1852 nicht in die S-Kurve, die den ganzen Rest seines kreativen Lebens recht gut beschreibt? Modis verweist darauf, daß Brahms in seiner Jugend zunächst auf eine Pianistenlaufbahn hinsteuerte, bis er mit 20 Jahren "urplötzlich mit Inbrunst zu komponieren begann". Bereits 1854 hatte er das Versäumte nachgeholt und komponierte von da an mit seiner "natürlichen Geschwindigkeit".

Albert Einstein (1879 bis 1955) scheint zunächst ebenfalls nicht in das Schema zu passen, denn er publizierte in den letzten zehn Jahren seines Lebens nicht mit fallender, sondern mit annähernd konstanter Rate. Bei näherer Betrachtung, so Modis, stellt sich jedoch heraus, daß die meisten dieser letzten Werke keine wissenschaftlich neuen Gedanken enthalten, sondern Grußbotschaften, offene Briefe oder Neuauflagen älterer Werke sind. Läßt man diese weg, dann stimmt die S-Kurve wieder.

Die Filmproduktion Alfred Hitchcocks (1899 bis 1980) hat um 1955 eine deutliche Delle. Modis erklärt sie weg, indem er die Werke des Regisseurs in abendfüllende Spielfilme und Fernsehfilme einteilt und für jede Werkgruppe eine recht gut passende S-Kurve findet.

Je mehr Beispiele Modis bringt – Heiligsprechungen durch die katholische Kirche, Kohleförderung in Großbritannien, Expeditionen in die Neue Welt seit 1492, Nobelpreise an US-Amerikaner, Bau von Supertankern, Unfälle in Kernkraftwerken, Presseberichte darüber und vieles andere –, desto zahlreicher und damit beliebiger werden die Hilfserklärungen. In ihrer Gesamtheit wirken sie eher wie zurechtgebastelte Ausreden.

Der Grundgedanke ist: Alles, was einer S-Kurve folgt, ist natürlich, oder besser: Ausdruck einer fundamentalen Triebkraft, die, eben weil sie fundamental ist, einem einfachen logistischen Gesetz gehorcht – Kreativität, ein gesellschaftliches Bedürfnis, Marktkräfte, die bestrebt sind, jede verfügbare Nische auch wirklich zu füllen, und so weiter. Allen Abweichungen von der einfachen Form weist Modis den zweiten Rang zu: zufällige Fluktuationen, Unfälle, zum Scheitern verurteilte Eingriffe von außen in die Eigendynamik des Systems. Gesetzliche Vorschriften, die Entdeckung eines neuen Impfstoffs und selbst ein Weltkrieg könnten den Lauf der Dinge nur vorübergehend beeinflussen.

Der Versuch, auf eine geheimnisvolle Triebkraft zu schließen aus Daten, die dafür eigentlich nicht gut genug sind, ist an sich schon problematisch. Vollends absurd aber wird er an Beispielen wie der durchschnittlichen Kinderzahl amerikanischer Frauen. Aufgetragen über dem Lebensalter folgt sie einer S-Kurve – sehr genau sogar, weil die große Anzahl statistische Schwankungen ausgleicht.

Wie das? Was auch immer eine amerikanische Frau veranlaßt, Mutter zu werden: Es wächst mit Sicherheit nicht in ihrem Inneren heran wie eine Karnickelherde. Modis hütet sich zwar, so etwas explizit zu behaupten, beharrt aber darauf, die Kurve müsse symmetrisch sein, entgegen den physiologisch wohlbegründeten Tatsachen, die einen steilen Anstieg im Jugendalter und ein erheblich flacheres Einlaufen in das Maximum bei etwa 50 Jahren zeigen. Also schließt er messerscharf: "Der Nominalbeginn der Ausgleichskurve liegt bei 10 Jahren und zeigt damit an, daß die Fruchtbarkeitsperiode früher beginnt, als in der Gesellschaft beobachtet wird" (Seite 232).

Aber er ist so ehrlich, daß er uns an anderer Stelle auch die Ursache seines Fehlers zeigt: Die Glockenkurve zur logistischen Gleichung ist von einer Gaußschen Glockenkurve, wie sie aus der Statistik geläufig ist, kaum zu unterscheiden (Bild oben). Hinter der steckt aber eben nicht ein Wachstumsgesetz für eine geheimnisvolle Triebkraft, sondern der kumulierte Effekt vieler voneinander unabhängiger Zufallsereignisse.

Das heißt: Wo Modis eine S-Kurve findet, kann eine deterministische, der logistischen Gleichung folgende Triebkraft dahinter stecken – muß aber nicht. Das mathematische Verfahren ist ja gerade so gebaut, daß es die beobachteten Daten in eine S-Kurve und den Rest zerlegt, und zwar so, daß möglichst wenig Rest bleibt. Das eine zur Haupt- und das andere zur Nebensache zu erklären ist ein Akt der Interpretation, der aus dem unschuldigen Rechenverfahren keine Legitimation ziehen kann.

Zugegeben, es ist schon eindrucksvoll zu sehen, daß man das Absinken der (relativen) Sterblichkeit an Diphtherie bis heute aus den Daten bis 1933 präzise hätte vorausberechnen können, obgleich erst in jenem Jahr Schutzimpfungen gegen diese Krankheit in großem Maßstab eingeführt wurden. Hat also das Impfen überhaupt keine Wirkung gehabt? Modis selbst gibt darauf keine eindeutige Antwort. Die Diphtheriekurve vor 1933 ist so zackig, daß vermutlich ein weiter Bereich an S-Kurven sich mit nahezu gleichem Fehler daran anpassen läßt.

Eindeutiger ist die Kurve des Energieverbrauchs der USA mit dem durch die Ölkrise verursachten Knick Ende der siebziger Jahre (Bild unten). Modis legt eine einigermaßen passende S-Kurve durch die Daten und kommt zu der Prognose, daß der Energieverbrauch um 2110 bei reichlich dem Doppelten des Niveaus von 1980 einen stabilen Endzustand erreichen werde. Hätte er nur die beiden letzten Datenpunkte mit dem Knick weggelassen, wäre eine völlig andere Kurve mit wesentlich höherem Endwert herausgekommen.

Fazit: Das Erklärungsmuster des logistischen Wachstums trifft auf gewisse Prozesse zweifellos zu. Die entscheidende Frage aber, wie weit es trägt, ist aus den sehr durchwachsenen Daten allein nicht zu beantworten. Die Interpretationsakrobatik des Autors hilft da nicht weiter, solange er die ominösen Triebkräfte nicht dingfest machen kann; und das dürfte so gut wie unmöglich sein.

Der 56-Jahres-Zyklus der Innovationen, den er an einer ziemlich willkürlichen Auswahl von Wachstums- und Substitutionsprozessen zu belegen sucht, die Ablösung des Flugzeugs durch ein noch schnelleres Verkehrsmittel mit Blütezeit um 2058, eine noch ergiebigere Form der Energiegewinnung – alle diese Vorhersagen sind längst nicht so dumm wie das weiland übliche lineare Extrapolieren. Aber der dahintersteckende Ansatz ist wegen seiner Beliebigkeit als Prognosemittel kaum besser als der Kaffeesatz.

Marchetti vertritt die kühne These, ein Mensch sterbe (eines natürlichen Todes) dann und erst dann, wenn seine Kreativität erschöpft ist. Also, so Modis, müßte jeder Mensch aus der Kurve seiner schöpferischen Werke den Zeitpunkt seines Todes abschätzen können. Marchetti ist über sechzig Jahre alt und "produziert Abhandlungen am laufenden Band" – um länger zu leben, sagen Gerüchte.

Nun ja. Intensive geistige Betätigung wirkt nach allgemeiner Ansicht lebensverlängernd. Man muß ja nicht alles veröffentlichen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1995, Seite 111
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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