Direkt zum Inhalt

Die beredten Skelette von Tell Abu Hureyra

Mit dem Übergang zum Ackerbau wurde das Leben der Menschen nicht unbedingt leichter. So hatte die tägliche Mühsal des Getreidemahlens bei den Frauen einer der frühen dörflichen Siedlungen charakteristischen Knochen- und Gelenkverschleiß zur Folge, und die Nahrungsumstellung bedingte Zahn- und Zahnfleischerkrankungen.

Ein Bild vom Leben der Menschen in vorgeschichtlicher Zeit läßt sich nur mit detektivischer Arbeit gewinnen: Die Indizien – hauptsächlich Knochen, dauerhafte Artefakte und Reste von Wohnstätten – sind spärlich.

Als Paläontologin am Londoner Naturhistorischen Museum wußte ich, daß eine Sammlung menschlicher Skelette aus der beginnenden und frühen Jungsteinzeit des Nahen Ostens – also aus der Periode, als dort erstmals auf der Erde der Übergang zum Ackerbau versucht wurde – nach England gelangt war. Die Gebeine stammen vom Tell (Hügel) Abu Hureyra, den Relikten einer großen Siedlung am Euphrat im heutigen Nordsyrien. Diese Stätte barg Spuren von Pionieren der Zivilisation aus mehr als vier Jahrtausenden. Ausgegraben hatte sie an mehreren Stellen 1972 und 1973 eine Gruppe unter Leitung von Andrew M.T. Moore, der damals an der Universität Oxford tätig war; die acht Meter hohen Fundschichten überflutete kurz darauf der neue Tabqa-Stausee (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1979, Seite 84).

Geborgen wurden auch Teile der Skelette von wohl 162 Individuen, darunter 75 Kindern; von denen der 87 Erwachsenen ließen sich wiederum 44 als weiblich und 27 als männlich identifizieren. Meine Kollegen und mich interessierte, ob daran etwas über die Lebensbedingungen bei der Umstellung vom Jäger- und Sammlertum auf zunehmende Versorgung mit landwirtschaftlichen Produkten zu erkennen wäre. Tatsächlich hatten nicht nur Krankheiten, sondern auch die täglichen Verrichtungen und die Ernährungsweise deutliche Spuren an Knochen und Zähnen hinterlassen – besonders an denen der Frauen.


Mühsal der Seßhaftigkeit

Abu Hureyra war während zweier Phasen besiedelt. Vor etwa 11500 bis vor 10000 Jahren, also im ausgehenden Mesolithikum gerade vor dem Aufkommen des Ackerbaus, ernährten die ersten Bewohner sich wohl noch vor allem von der Jagd, die besonders im Frühjahr lohnte, wenn große Antilopenherden nach Norden zum Euphrat zogen, und von verschiedensten wilden Pflanzen. So sammelten sie unter anderem die Samen von Gräsern (darunter Wildformen späterer Zuchtgetreide) sowie Beeren des Zürgelbaums und Pistazien.

Unerklärlicherweise war der Ort dann 200 Jahre lang verlassen, bis sich Menschen der frühen Jungsteinzeit wiederum dort einrichteten. Diese Bewohner kultivierten bereits eine Reihe von Pflanzen – an Getreide Emmer, Einkorn, Hafer und Gerste sowie an Hülsenfrüchten Linsen und Kichererbsen. (Hier ging, wie an der östlichen Mittelmeerküste und im südlichen Anatolien, der Ackerbau der Viehzucht voraus; in den ältesten bäuerlichen Gemeinwesen am Zagrosgebirge beidseits der heutigen Grenze zwischen Iran und Irak wurden hingegen noch früher Schafe und dann auch Ziegen gehalten. Die Redaktion.)

Besonders die Zubereitung des Korns war offenbar langwierig und anstrengend. Die tägliche Mühsal läßt sich an den Gebeinen regelrecht ablesen – und auch, wie in der Gesellschaft die Arbeit verteilt war.

Uns fiel gleich zu Anfang auf, daß die obere Wirbelsäule mancher Individuen sehr stark oder gar übermäßig beansprucht gewesen war. Sie müssen oft auf dem Kopf schwere Lasten getragen haben, wohl hauptsächlich erlegtes Wild, geerntete Feldfrüchte und Baumaterialien. Am deutlichsten war dies bei den Jugendlichen, deren Skelett sich unter solchen Belastungen noch besonders leicht verformt: Die hakenförmigen Vorsprünge der Halswirbel sind vergrößert, ein Zeichen, daß sich reaktiv stützende Elemente ausbildeten, so daß der Kopf unter dem Gewicht besser stabilisierbar wurde. Mitunter stellten wir auch degenerative Veränderungen an den Nackenwirbeln fest, die von zu starkem Druck herrühren könnten (Bild 2 links).

Solche Beeinträchtigungen waren jedoch nicht allzu häufig. Allgemein scheint der Gesundheitszustand der Menschen recht gut gewesen zu sein – ausgenommen zwei Knochendeformierungen, die sich vielfach fanden: Kollaps des untersten Brustwirbels und schwere Arthritis der großen Zehen (Bild 1, linkes Photo, und Bild 2 rechts). Wie an den Muskelansatzstellen erkennbar ist, hatten die Betroffenen zugleich sehr muskulöse Arme und Beine. Sie müssen also eine körperlich anstrengende, einseitige Arbeit verrichtet haben.

Eine Zeitlang spielten wir mit dem Gedanken, ob die frühen Einwohner von Abu Hureyra wohl irgendeinen verschleißenden Sport getrieben hätten; aber Ballerinen mit verkrüppelten Zehen kann man sich für die Jungsteinzeit denn doch nicht vorstellen. So blieb die Sache rätselhaft, bis einem Kollegen im Urlaub in Ägypten auffiel, daß alle knieend betenden Figuren auf Tempelwänden die Zehen aufsetzen und sie dabei stark zum Rist hin abknicken. Hatte vielleicht eine ähnliche Fußhaltung, bei einer häufigen Tätigkeit, die Arthritis ausgelöst?

Moores Team hatte in den Häusern längliche, in der Mitte sattelförmig ausgeschliffene Mahl- und kleinere, abgerundete Reibsteine gefunden. Mir schien es plausibel, daß die Menschen darauf im Knien stundenlang Körner zerrieben und dabei ihre großen Zehen ruiniert hatten (Bild 1 links). Gordon Hillman von der Universität London, der die Pflanzenreste des Fundorts untersuchte, wandte dagegen ein, auch beim Entspelzen von Getreide mit Mörser und Stößel hätte man lange unbequem hocken müssen (Bild 2 Mitte links). Es ist aber zu vermuten, daß zwar die Wirbelsäulenschäden von beiden Arbeiten herrühren, kaum jedoch die Deformationen der großen Zehen, denn am Mörser konnte man die Stellung wechseln, beim Mahlen aber nicht.

Jedenfalls dürfte die Zubereitung von Getreidemahlzeiten von allen unablässig nötigen Arbeiten die beschwerlichste gewesen sein – wie bis in die Gegenwart bei vielen Naturvölkern. Weil geschälte und angequetschte Körner sich nicht lange halten, mußte jeden Tag eine frische Ration im Mörser entspelzt und auf der Handmühle zu Mehl zerrieben werden. Beides wird Stunden gedauert haben.

Die Utensilien dürften bei den Ausgrabungen noch am Ort des Gebrauchs gewesen sein, denn rundum fanden sich Getreidereste. Der Mahlstein lag auf dem Boden, nicht wie in späteren Zeiten erhöht auf einem Untersatz. Wer daran arbeitete, mußte zwangsläufig knien, und zwar der Kraft halber mit aufgesetzten Zehen. Die Frau (denn dies war aller Wahrscheinlichkeit nach Frauenarbeit, wie wir noch sehen werden) schüttete einige Körner darauf; dann schob sie mit beiden Händen den kleineren Reibstein darüber, hob ihn an und zog ihn mit Schwung zurück. Dabei mußte sie sich weit vorbeugen, bis ihr Oberkörper fast eine Parallele zum Boden bildete und die Arme nahezu senkrecht standen, sonst hätte sie den Reibstein nicht wieder in die Ausgangsposition bringen können.

Bei diesen Bewegungen werden vor allem der Deltamuskel am Schulteransatz und der Bizeps am Oberarm beansprucht: Der eine ist sowohl beim Senken als auch beim Vor- und Rückführen sowie bei der Außen- und Innenrotation des Arms in Funktion, der andere, wenn der Arm im Schultergelenk nach vorn geführt und wenn der Unterarm gebeugt sowie die Elle um die Speiche gedreht wird. Die Ansatzstellen des Deltamuskels am Oberarmknochen und besonders die des Bizeps an der Speiche im Unterarm sind entsprechend übermäßig ausgeprägt, und zwar an jedem Arm gleich stark – Stößel und Reibstein wurden also unter großer Anstrengung mit beiden Händen zugleich bewegt.


Die Knochenarbeit der Frauen

Stundenlanges Knien strapaziert auch die Knie selbst, das Vor- und Zurückschwingen des Körpers beim Mahlen unter gleichzeitiger Druckausübung zudem die Hüftgelenke und besonders die untere Wirbelsäule. Entsprechende Veränderungen und Schäden weisen etliche der Gebeine auf. Bei jedem Zug waren auch die Oberschenkelknochen erheblichem Biegestress ausgesetzt; wohl deshalb entwickelten sich auf der Rückseite verstärkende Strukturen; außerdem wurden sie mit der Zeit deformiert – nämlich gebogen. An den Knien, sozusagen den Drehpunkten der Bewegung, vergrößerten sich die Gelenkoberflächen um verknöcherte Erweiterungen (Bild 1, Photo rechts). Daß in manchen Fällen auch der letzte Brustwirbel Abnutzungsspuren aufweist kann entweder daran liegen, daß die Arme mit dem Reibstein zu weit vorschwangen und vor dem Mahlstein aufschlugen (Bild 2 Mitte rechts) oder daß sie zu wuchtig in die Ausgangsposition zurückgezogen wurden.

Wohl der Hebelwirkung wegen wurden die Füße mit den Zehen aufgesetzt, wobei die große Zehe den meisten Druck abfangen mußte. Deren Grundgelenk ist in der Regel vergrößert und oft geschädigt (Bild 1, linkes Photo). Offenbar war auch der Knorpel abgenutzt, denn die Knochenenden wirken wie glattpoliert, als hätten sie sich aneinander gerieben. Bei einigen Individuen waren diese Gelenke arthritisch entzündet, und zwar in einem Fall das rechte viel stärker als das linke. Vielleicht pflegte diese Person zwischendurch den linken Fuß auf dem rechten auszuruhen (Bild 2 rechts oben); doch läßt sich eine Infektion nicht ausschließen. Immerhin hat eben diese Fußstellung die ägyptische Statue einer Getreide mahlenden Dienerin.

Derart ausgeprägte morphologische Veränderungen am Skelett treten nur auf, wenn man die Knochen und Gelenke im Wachstumsalter stark belastet, und zwar täglich stundenlang. Das ist mancherorts durchaus heute noch Brauch. In seinem Reisebericht aus der Sahara ("A Desert Dies") schrieb kürzlich der Autor Michael Aster: "In der Oase schienen die Mühlen des Lebens mit eigener Geschwindigkeit zu mahlen. Für die Frauen galt dies sogar im Wortsinne, denn sie verbrachten einen Großteil ihrer Zeit mit dem Mahlen von Getreide auf Handmühlen... Oft schaute ich Hawa zu, wie sie jeweils einige Körner auf den Stein tat, zerrieb und das Mehl alle paar Minuten in ein Gefäß kehrte. Nach ungefähr einer Stunde löste ihre vielleicht neunjährige Tochter sie ab und setzte die Arbeit eifrig fort. Es mag Stunden dauern, bis das Mehl für eine Mahlzeit reicht."

Ich erwähnte schon, daß vermutlich meistens Frauen und Mädchen diese Arbeit taten. Nun waren aber die Skelette ziemlich fragmentarisch und mitunter auch noch durcheinandergeraten, so daß wir uns, um deren Geschlecht zu bestimmen, an charakteristische anatomische Unterschiede von einzelnen Knochen oder Knochenpartien halten mußten. Man weiß zum Beispiel, daß bei Männern der Mittelfußknochen, an dem der große Zeh ansetzt, im allgemeinen länger ist als bei Frauen; und in der Sammlung waren zumeist die kleineren Exemplare dieses Knochens krankhaft verändert – also wohl die von Frauen und Mädchen. Wie es scheint, war das Mahlen vornehmlich deren Aufgabe.

Demnach dürften die Bewohner von Abu Hureyra erkannt haben, daß auch in einer Gemeinschaft, die Seßhaftigkeit sozusagen erst erprobt, eine lockere Rollenverteilung beim Beschaffen und Bereiten der Nahrung am effizientesten ist: Man darf annehmen, daß die Männer zur Jagd gingen und nach dem Aufkommen des Ackerbaus den Boden bearbeiteten (Bild 4), die Frauen hingegen die Hausarbeiten übernahmen. Dies muß allerdings nicht bedeuten, daß die Geschlechter nicht gleichgestellt oder die Aufgaben nicht gleichwertig gewesen wären; darauf komme ich noch zurück.


Zahnschäden

Das grob zerriebene und schlecht gereinigte Getreide hinterließ seine Spuren bei jedermann am Gebiß. Anscheinend hat man Steinchen und ganz gebliebene, harte Körner nicht sorgfältig ausgelesen, denn auf raster-elektronenmikroskopischen Aufnahmen sind viele winzige Aussplitterungen im Zahnschmelz zu erkennen, und wir fanden zudem eine große Zahl abgebrochener Zähne. Aus anderen Schäden ist auf häufige Zahnfleischentzündungen zu schließen; anscheinend enthielt das Mehl auch reichlich Grannen und Spelzen, die sich in die Zahnzwischenräume setzten.

Karies dagegen gab es kaum. Das Mehl hat man wohl noch nicht so fein ausgemahlen und derart zubereitet, daß die Stärke vom Speichel rasch in Zucker gespalten wurde und die Bakterien im Mund ein günstiges Milieu vorfanden.

Der Steinabrieb von den Handmühlen wirkte wie Schmirgelpulver. Die Bewohner von Abu Hureyra hatten durchweg stark abgenutzte Zähne und vielfach in jungen Jahren bereits einige verloren.

Die harten, scharfkantigen Steinstäubchen im Mehl waren bis in die Gegenwart ein Problem, wo immer einfache Handmühlen benutzt wurden. Doch verstehen heutzutage Frauen in Dörfern des Nahen Ostens so geschickt mit Sieben umzugehen, daß sie in einem Arbeitsgang zumindest Körner, Spreu und Steinchen gesondert trennen.

Vielleicht begann die Entwicklung dafür geeigneter Gerätschaften bereits in den frühen bäuerlichen Gemeinschaften. In jüngeren Schichten von Abu Hureyra fanden die Archäologen immerhin Abdrücke von Matten – was beweist, daß die Bewohner die Technik des Flechtens spätestens dann beherrschten. Wir wissen nicht, ob sie damals schon Siebe herzustellen wußten, doch fällt auf, daß die Zahnabnutzung in späteren Phasen der Besiedlung deutlich geringer war.

Flechtwerk war eine wichtige Erfindung; zum Beispiel konnten die frühen Bauern das geerntete Getreide in Körben besser nach Hause tragen. In diesem Zusammenhang ist wieder ein Befund an Gebissen von Abu Hureyra interessant: Einige Individuen der späteren Phasen hatten an den Vorderzähnen merkwürdige Rillen quer von einem Mundwinkel zum anderen. Nun kann man aus Grashalmen, Binsen, Rindenbast oder Stroh festere und dickere Seile oder Stränge herstellen, indem man einen Zopf flicht. Schlingt man etwa so drei Binsen ineinander, bietet es sich an, die mit den Händen gerade nicht bewegte im Mund zu halten (Bild 3 rechts). So machen es jedenfalls heutige Paiute-Indianerinnen im Westen der Vereinigten Staaten, wie Clark S. Larsen von der Universität von Nord-Carolina in Chapel Hill dokumentiert hat. Ihre Vorderzähne werden dadurch mit der Zeit fast genauso eingekerbt wie die Gebisse von Abu Hureyra.


Örtliche Arbeitsteilung

Schädel mit diesen prägnanten Rillen an den Vorderzähnen lagen auffälligerweise alle im selben Bereich der Siedlung. Anscheinend hatten einige dort ansässige Bewohner sich vornehmlich auf das Flechthandwerk verlegt.

Arbeitsteilung und zunehmende Spezialisierung sind bei seßhafter Lebensweise durchaus zu erwarten. Wenn manche Mitglieder der Gemeinschaft sich bei einer bestimmten Tätigkeit besonders geschickt anstellen, wird sie ihnen bald viel rascher von der Hand gehen, und vielleicht finden sie sogar neue Lösungen für ein Problem. Schließlich wird ihr Produkt so begehrt, daß ihnen die übrigen Anwohner dafür andere Arbeiten abnehmen oder die Kommune mit dem Überschuß Tauschhandel treiben kann.

In einem weiteren Siedlungsareal scheint noch ein Handwerkszweig ansässig gewesen zu sein, denn einige der hier gefundenen Frauenschädel haben Unterkiefer mit stark vergrößerten Gelenkflächen und außerdem sehr ungleichmäßig abgenutzte Vorderzähne – die unteren waren außen, die oberen innen manchmal bis zur Wurzel abgeschliffen.

Nun hat Tetsuya Kamegai von der Universität der Präfektur Iwate in Morioka (Japan) ähnliche charakteristische Abnutzungsspuren bei den Maoris in Neuseeland gesehen, die harte Pflanzenstengel kauen, um Fasern für Schnüre zu gewinnen; und J.D. Jennings von der Universität von Utah in Salt Lake City beschrieb vor Jahren die Abdrücke von abgenutzten Zähnen in ausgespuckten Bällchen pflanzlichen Materials, die zu Tausenden in einer Höhle westlich des Utah-Sees – Danger Cave – lagen: Die dort lebenden frühen Amerikaner hatten Riedgras gekaut, vielleicht um die Fasern zu gewinnen, aber auch aus gekauten Binsen Schnüre und Matten geflochten. Vor allem Gräser sind wegen ihres Silicatgehalts sehr abrasiv. Nach meiner Ansicht erklärt das die typische Abnutzung einiger Gebisse von Abu Hureyra.

Vor ungefähr 7300 Jahren setzte dort mit der Neuerung der Töpferei ein gesellschaftlicher Umschwung ein. In den Gefäßen ließ sich das Getreide einweichen und weichkochen. Von dieser Zeit an hatten die Menschen auch nicht mehr so stark abgenutzte und beschädigte Zähne; das sieht man auf raster-elektronenmikroskopischen Aufnahmen deutlich.

Mehlsuppen, Grützbrei und gebackene Fladen sind schmackhafter und leichter verdaulich. Das war ein enormer Fortschritt mit sozialen Folgen. Beispielsweise wäre die Frau, an deren Unterkiefer wir eine nicht völlig ausgeheilte Fraktur feststellten, vordem bestimmt verhungert. Entscheidender war aber, daß nun Kleinkinder nicht mehr ausschließlich auf Muttermilch angewiesen waren und auch Schwangere und Stillende sich kohlenhydratreich – also energetisch günstig – zu ernähren vermochten. Die Frauen konnten also mehr Kinder in kürzeren Abständen bekommen.

Auf eine höhere Geburtenrate nach Aufkommen der Keramik deutet der nun wesentlich höhere Anteil kindlicher Skelette. Daß zugleich mehr Kinder starben, könnte an häufigeren Infektionen liegen, weil die Bevölkerungsdichte und damit die Ansteckungsgefahr stieg. Manche der Kinderschädel haben verdickte, narbige Augenhöhlen; wahrscheinlich waren dies Auswirkungen von Anämien infolge langwierigen Parasitenbefalls.

Nun trat auch Zahnkaries auf. Die Stärke von gekochten oder gebackenen Getreideprodukten wird besser aufgeschlossen; die daraus entstehenden Monosaccharide (Zucker) sind wasserlöslich, und Reste dieser Speisen kleben leicht an den Zähnen – für Bakterien ein vorzügliches Milieu.


Das Reich der Frau

Abu Hureyra wurde vor rund 7000 Jahren, wie damals viele andere jungsteinzeitliche Dörfer im Nahen Osten, verlassen – weshalb, das weiß man nicht. Krankheit und Hungersnot können ebenso der Anlaß gewesen sein wie eine Klimaverschlechterung.

Zumindest soweit dies die Bestattungen erkennen lassen, waren Frauen und Männer bis zum Untergang des Ortes einander gleichgestellt, wenn sie auch in einer strukturierten Gesellschaft lebten. Die Rollenverteilung scheint aber während der neolithischen Entwicklung prägnanter geworden zu sein.

So ist aufschlußreich, daß unter den Fußböden der Wohnstätten viel mehr Frauen als Männer beigesetzt worden waren. Man pflegte auch Gräber in den Höfen anzulegen, aber die Frauen beließ man in ihrer Domäne, wo sie gearbeitet und die meiste Zeit verbracht hatten. Vielleicht könnte man sagen, daß sich ihr Einflußbereich, gewissermaßen ihr Territorium, mit ihrem Wirkungskreis deckte – bis über den Tod hinaus. John Gold von der Oxford Brookes Universität wertet diese räumliche, auf Kompetenz beruhende Differenzierung als einen wesentlichen Ausdruck von sozialer Ordnung.

Die unterschiedlichen Geschlechterrollen waren die Grundlage weiterer Spezialisierungen in einer frühen seßhaften Gemeinschaft, zum Beispiel handwerklicher. Allein der Ackerbau stellte manche bislang nicht gekannte Anforderung. Der Boden mußte vorbereitet, die Saat ausgebracht, das Getreidefeld bewässert und vor dem Wild geschützt sowie schließlich die Ernte eingebracht werden – all diese Aufgaben stimulierten die Entwicklung von Geräten und Hilfsmitteln und damit von neuen Technologien. Die ersten Bauern mußten vieles erfinden, seien es Zäune, Körbe oder irdene Gefäße; und sicherlich stellte sich dann heraus, daß manche Einwohner einer Siedlung sie versierter als andere zu verfertigen und zu handhaben wußten.

In den Relikten von Tell Abu Hureyra ist solch ein fortschreitender Wandel zu erkennen, der auf vielerlei Neuerungen beruhte. Aber diese Errungenschaften zogen, wie die an den Skeletten abzulesenden körperlichen Belastungen und gesundheitlichen Schäden zeigen, bislang unbekannte Schwierigkeiten nach sich, die man jetzt ihrerseits lösen mußte. Indem der Mensch sich das Nötigste zum Leben nicht mehr nur in der Natur suchte, sondern sich mit dem Anbau von Pflanzen (und anderwärts mit der Zucht gezähmter Tiere) eigene, relativ zuverlässige Nahrungsquellen schuf und sicherte, begann auf neuartige Weise ein Kampf um bessere Existenzbedingungen, der bis zum heutigen Tage anhält. Die Siedlung am Euphrat repräsentiert somit den ersten Schritt in die Zivilisation. Nach anderen Merkmalen wie Anhäufung von Besitz, Klassenunterschieden oder Institutionen einer Elite sucht man hier noch vergebens.

Literaturhinweise

- The Excavation of Tell Abu Hureyra in Syria: A Preliminary Report. Von A.M.T. Moore in: Proceedings of the Prehistoric Society, Band 41, Seiten 50 bis 77, Dezember 1975.

– Dental Modifications and Tool Use in the Western Great Basin. Von Clark Spencer Larsen in: American Journal of Physical Anthropology, Band 67, Heft 4, Seiten 393 bis 402, August 1985.

– Seed Preparation in the Mesolithic: The Osteological Evidence. Von T. Molleson in: Antiquity, Band 63, Heft 239, Seiten 356 bis 362, Juni 1989.

– Dental Evidence for Dietary Change at Abu Hureyra. Von Theya Molleson und Karen Jones in: Journal of Archaeological Science, Band 18, Heft 5, Seiten 525 bis 539, September 1991.

– Dietary Change and the Effects of Food Preparation on Microwear Patterns in the Late Neolithic of Abu Hureyra, Northern Syria. Von T. Molleson, K. Jones und S. Jones in: Journal of Human Evolution, Band 24, Heft 6, Seiten 455 bis 468, Juni 1993.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1994, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum Geschichte – Die Mär vom Matriarchat

Lebten die Menschen während der Altsteinzeit im Matriarchat? Huldigten die Jäger und Sammler gar einem Kult der »Großen Göttin«? Eine nüchterne Analyse zeigt, warum der Gedanke so nahe liegt und doch so fern der Wirklichkeit sein dürfte. Denn die Beweislage ist dünn.

Spektrum Geschichte – Göbekli Tepe

Erst der Tempel, dann die Stadt – diese Entwicklung bahnte angeblich unserer Zivilisation den Weg. Doch Neufunde aus Anatolien widerlegen diese These: Göbekli Tepe, der früheste Tempel der Welt, war womöglich ein frühes Dorf, bewohnt von Jägern und Sammlern.

Spektrum - Die Woche – Die Mär vom Matriarchat

Lebten die Menschen einst im Matriarchat? Im Kult der »Großen Göttin«? Lesen Sie in dieser Ausgabe, warum der Gedanke so naheliegt und doch so fern der Wirklichkeit sein dürfte. Außerdem: ein Stern, der einen Riesenplaneten verschlungen hat, und die Frage, ob Haustiere glücklich machen.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.