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Die betriebliche Ausbildung - das klassische Modell kann und muß reformiert werden


Eine vielleicht typische Szene: Eine ausländische Delegation, die zehnte in diesem Jahr, informiert sich über das duale Ausbildungssystem und besucht mehrere Betriebe. Am selben Tag appellieren die Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT), des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH) und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) an die Unternehmen, mehr Jugendliche auszubilden. Der DIHT schlägt 23 neue Berufsprofile in Zukunftsbranchen vor und fordert, die Rahmenbedingungen des Systems günstiger zu gestalten.

Die ausländische Delegation zeigt sich beeindruckt von der geringen Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik sowie von dem finanziellen und pädagogischen Engagement der Betriebe und ihrer Ausbilder. Sie verabschiedet sich indes mit der Bemerkung, zwar sei das Grundprinzip der deutschen beruflichen Ausbildung nachahmenswert, das Reglement jedoch viel zu kompliziert und dicht.

Ausländischen Beobachtern war die Starrheit des dualen Systems schon immer aufgefallen. In Deutschland hat die Wirtschaft diese Kritik ebenfalls seit langem geäußert; ernst nahm man sie aber erst, als die Lehrlingszahlen zurückgingen. In den achtziger Jahren ließ sich die Entwicklung noch mit dem Rückgang der Zahl der Schulabgänger aufgrund des sogenannten Pillenknicks in der Bevölkerungsstatistik nach den geburtenstarken Jahrgängen in den sechziger Jahren begründen. Anfang der neunziger Jahre wurden jedoch die Strukturprobleme der Wirtschaft und die Umbrüche am Arbeitsmarkt unübersehbar, und damit reduzierten sich die Lehrstellen erheblich. Ein deutliches Mißverhältnis zwischen dem Angebot der Betriebe und der Nachfrage nach Ausbildungsplätzen entstand allerdings erst, als die Zahl der Schulabgänger in den letzten Jahren wieder stieg.

Es kann nicht die Rede davon sein, daß sich die Unternehmen jemals aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung hätten stehlen wollen. Das ist zu belegen: Derzeit bilden 147060 Unternehmen im Bereich der Industrie- und Handelskammern (IHK) junge Menschen aus. Seit zwei Jahren ist deren Zahl gestiegen, auch die der Lehrlinge. Die Trendwende wurde 1995 erreicht und stabilisierte sich im letzten Jahr bei den der IHK zugehörigen Unternehmen. Der Zuwachs konzentrierte sich jedoch noch auf die klassischen Wirtschaftszweige; dieser Tendenz muß man nun dringend und mit Maßnahmen von nachhaltiger Wirkung entgegenwirken.

Unbestritten ist sicherlich, daß in den letzten 25 Jahren das Niveau der beruflichen Ausbildung angehoben werden konnte. Dies zu wissen und festzuhalten ist aus Sicht des DIHT wichtig auch für die Planung künftiger Reformschritte. Im Vergleich zum staatlichen System der allgemeinen Bildung, also zu den Schulen und Hochschulen, hat das der beruflichen Bildung einen guten Standard.

Gleichwohl befindet sich dieses System in einer paradoxen Situation. Immer mehr junge Menschen bewerten zwar seinen Nutzen für ihre spätere Erwerbstätigkeit hoch. So durchläuft denn auch ein immer größerer Anteil der Schulabgänger die duale Berufsausbildung; zur Zeit sind es etwa 70 Prozent eines Jahrgangs. Zugleich hat sich jedoch der Nutzen für die Ausbildungsbetriebe, die das System hauptsächlich finanzieren, sehr verringert. Gerade kleinere Unternehmen zeigen darum immer weniger Bereitschaft auszubilden. Verschärft wird diese Situation durch den hohen Kostendruck aufgrund härteren Wettbewerbs auf den europäischen und internationalen Märkten – mit den bekannten Auswirkungen auf die Beschäftigungslage.

Zudem unterrichten sich die Führungskräfte deutscher Unternehmen eingehender über die Verhältnisse im Ausland; das beeinflußt auch ihre Entscheidungen im Inland. Sie vergleichen die Effizienz und Flexibilität der Ausbildungssysteme und stellen dabei deutliche Schwächen beim deutschen dualen System fest. Ziel von Reformen muß deshalb aus Sicht des DIHT sein, daß die berufliche Bildung wieder sowohl für Unternehmen als auch für die Teilnehmer gleichermaßen von großem Nutzen ist und daß es gesellschaftlich uneingeschränkt akzeptiert wird.


Veränderungen beim Nachwuchs

Die Reformen müssen bei den Rahmenbedingungen ansetzen. Zum einen hat sich nicht nur die Kopfstärke, sondern auch die Struktur der Bewerberkohorten geändert. Die Schulabschlüsse haben in der Bundesrepublik von 1975 bis 1994 kontinuierlich ein höheres Niveau erreicht: Die Zahl der Hauptschulabgänger ist von 41 auf 25 Prozent gesunken, die der Realschulabgänger im gleichen Zeitraum von 38 auf 42 Prozent gestiegen und die der Abiturienten sogar von 21 auf 33 Prozent.

Nun verlassen dennoch jährlich rund 70000 bis 100000 Jugendliche ohne oder mit nur schlechtem Abschluß die Hauptschule. Die Ausbildungschancen dieser Gruppe sinken fortwährend – weniger wegen des Mangels an Lehrstellen als wegen höherer Anforderungen der modernisierten Ausbildungsordnungen. Die Kultusminister sind darum aufgefordert, endlich die Ausbildungsreife zu verbessern.

Andererseits haben immer mehr auszubildende Jugendliche die Realschule oder das Gymnasium besucht. Mithin steigen auch ihre Ansprüche an das duale System. Eine Anpassung an das bessere Lernvermögen ist aber nur durch Verkürzen der Ausbildung möglich. Unzufrieden werden viele solche Jugendliche auch, wenn die Berufsschule sie unterfordert, weil ihr Fächerkanon immer noch auf den früher typischen 15- bis 16jährigen Schulabgänger mit einer geringeren Allgemeinbildung zugeschnitten ist.

Zugleich beginnen immer mehr Jugendliche nach abgeschlossener Berufsausbildung ein Hochschulstudium, und das bei ohnehin steigenden Studentenzahlen. Somit ist zu fragen, ob Abiturienten nicht besser gleich studieren sollten, damit sie nicht die knappen Ausbildungsplätze belegen. Wenn immer häufiger leistungsstarke Absolventen der betrieblichen Ausbildung an die Hochschulen wechseln, zahlen sich auch die Aufwendungen der Firmen für sie im Rahmen des dualen Systems nicht aus.


Veränderungen im Beschäftigungssystem

Zum anderen beeinträchtigen die strukturellen Probleme im beruflichen Bildungssystem selbst dessen Attraktivität für die Ausbildungsbetriebe nachhaltig: Obwohl sich die Arbeitsprozesse immer schneller wandeln, ist es bis heute bei allgemeinverbindlichen Ausbildungsordnungen mit sehr schwerfälligen und langwierigen Anpassungsmöglichkeiten geblieben. Für die Unternehmen vor allem im gewerblich-technischen Bereich wird es immer schwieriger, Nachwuchskräfte so auszubilden, daß sie den praktischen Anforderungen wirklich gerecht werden können.

In neuen Wirtschaftszweigen, insbesondere im stark wachsenden Dienstleistungssektor, gibt es viele der erforderlichen Ausbildungsgänge zum anerkannten Fachberuf noch gar nicht. Deshalb suchen zahlreiche Jugendliche, die sich für diese Bereiche interessieren, nach Möglichkeiten einer Qualifizierung außerhalb des Berufsbildungsgesetzes. Das Versäumnis, daß man auf die Verschiebungen im Beschäftigungssystem nicht rechtzeitig und schnell mit der Kreation neuer anerkannter Berufe reagiert hat, bewirkte zudem, daß die Unternehmen in den neuen Wirtschaftszweigen sich gar nicht erst mit dem dualen Ausbildungssystem identifiziert haben.

Während große Unternehmen ihren Führungsnachwuchs meist aus dem akademischen Bereich rekrutieren, bevorzugen kleine und mittlere traditionell Absolventen der beruflichen Weiterbildung mit einem Prüfungszertifikat der Industrie- und Handelskammer. Bislang tut sich jedoch eine große Lücke auf zwischen dem mehr praktischen Können der Meister und Fachwirte und dem reicheren theoretischen Wissen der Akademiker. Das macht den Unternehmen zu schaffen, denn es fehlen ihnen gerade solche mittleren Qualifikationsstufen, um etwa Abiturienten nach der Ausbildung im Betrieb halten und auf eine Tätigkeit in höheren Verantwortungsbereichen vorbereiten zu können.

Erst in jüngster Zeit beginnt sich diese Lücke durch den Grad des Technischen Betriebswirts (IHK) und des IHK-Betriebswirts langsam zu schließen. Den aktuellen Erfordernissen entsprechend, haben überdies die Unternehmen inzwischen zusätzliche Ausbildungsgänge – teils außerhalb des Berufsbildungsgesetzes, teils im Hochschulbereich – entwickelt und differenzieren damit nun schon seit längerem außerhalb des klassischen dualen Systems.


Leitlinien einer Reform

Aus dieser Bestandsaufnahme ergibt sich zwingend ein Anforderungskatalog für Reformen. Das System der Berufsbildung muß, damit es eine echte Alternative zum System der höheren Allgemeinbildung werden kann,

- ein eigenes, unverwechselbares Profil bekommen,

- zumindest gleiche, wenn nicht bessere Berufschancen eröffnen als ein Hochschulstudium,

- um seiner selbst willen geschätzt werden, statt als zweite Wahl oder Notlösung zu gelten,

- einen Stellenwert haben, der sich aus dem ihm innewohnenden Nutzen sowohl für die Auszubildenden als auch die Betriebe ableitet,

- von allen gesellschaftlichen Gruppen akzeptiert werden und in allen Wirtschaftszweigen mit eigenen Profilen vertreten sein,

- und es darf künftig nicht mehr unter einem starren Tarifsystem leiden, sondern muß sich eigenständig weiterentwickeln.

Die Kernfragen bei Überlegungen über die Zukunft des dualen Systems sind: Welche Qualifikationsprofile benötigt die Wirtschaft? Und wer ertüchtigt dafür am besten? Der berufliche Bildungsweg wird dann attraktiv sein, wenn er zeitgemäße und stabile Kompetenzen vermittelt. Die Unternehmen haben ihre technischen und organisatorischen Strukturen nach Marktanforderungen auszurichten, die sich immer rascher wandeln, und müssen sich stärker als in der Vergangenheit auf Wünsche von Auftraggebern und Abnehmern hin orientieren; deshalb werden zunehmend fachlich übergreifende Fähigkeiten und Haltungen verlangt: Kooperationsbereitschaft, Flexibilität, Denken in Zusammenhängen und Systemen, Qualitätsbewußtsein sowie Verantwortung gegenüber den Kunden und Kollegen, für Sachwerte und die Umwelt; zudem sind die sogenannten Prozeßkompetenzen entscheidend, ebenso Selbstvertrauen und Aufgeschlossenheit für den gesamtgesellschaftlichen Wandel selbst.

An radikalen Ideen für eine neuartige berufliche Ausbildung mangelt es nicht. So wurde zum Beispiel vorgeschlagen, das Berufsprinzip als starres Muster spezialisierter Tätigkeit überhaupt aufzulösen zugunsten sogenannter Qualifika-tions-Collagen. Das würde bedeuten, daß sich Auszubildende und Unternehmen aus einer Fülle unterschiedlicher kleiner Module jeweils eigene, spezifische Qualifikations-Menüs zusammenstellen könnten. Damit ließen sich sowohl persönliche Begabungen und Vorlieben als auch betriebliche Interessen sicherlich recht genau treffen. Fraglich ist aber, in welchem Maße die Resultate beider Wahlprozesse einander entsprächen; auf jeden Fall würde durch die Variabilität des Modells die Transparenz der Qualifikationsniveaus aufgelöst, die Mobilität der Teilnehmer – wenn auch nicht im Denken und Handeln – eingeschränkt und die Aussagekraft von Zeugnissen für andere Unternehmen verringert.

Mit solchen Versuchen, gegenwärtige Schwierigkeiten zu überkommen, werden leicht neue gravierende Probleme geschaffen. Hingegen ist die klassische Ausbildung mit der darauf aufbauenden Weiterbildung nach Ansicht des DIHT hervorragend geeignet, die geforderten Qualifikationen auch in Zukunft praxisnah und in beiderseitigem Interesse zu vermitteln. Der Lernort Betrieb hat momentan nicht zuletzt deswegen eine Renaissance, weil er wie kein anderer soziale und methodisch-prozessuale Kompetenzen vermitteln kann, und zwar auf jeder Qualifikationsebene.

Allerdings muß die Ausbildung flexibler werden. Die geltenden Ausbildungsordnungen entsprechen offensichtlich – ähnlich den Flächentarifverträgen – immer weniger dem sich rasch wandelnden Bedarf der Unternehmen und dem Interesse der Bewerber. Viele Berufsbilder stehen hinter der neuen betrieblichen Realität zurück; die Vermittlung überholter Inhalte ist unnütz und kostspielig, und es bleibt zu wenig Raum für zeitgerechte Differenzierungen.

Gelänge es, Ausbildungsordnungen – wie dies die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung, der Wirtschaft und den Gewerkschaften anstrebt – in immer kürzeren Fristen bedarfsgemäß zu entwickeln und zu aktualisieren, könnte auch das Angebot an Lehrstellen erhöht werden. Dazu gehört der beschleunigte Erlaß neuer Ausbildungsberufe. Der DIHT hat kürzlich 23 Profile vorgeschlagen und damit Initiativen im Mediensektor, in der Informations- und Kommunikationswirtschaft sowie anderen modernen Dienstleistungen ausgelöst, die zügig zu Ergebnissen kamen.

Das Satellitenmodell

Ein zukunftsorientierter Reformansatz für flexible Strukturen könnte nach Ansicht des DIHT darin liegen, zwar am Beruf als einer Einheit wesentlicher verbindlicher Qualifikaktionen festzuhalten, um diese Kernkompetenz herum jedoch attraktive und bedarfsgerechte Wahlpflicht-Bausteine anzubieten. Wir nennen dieses Konzept das Satellitenmodell. Die Kombination von Pflicht- und Wahlpflichtprogrammen hätte den Vorteil, daß der Beruf zwar als solcher erhalten bliebe, die Ausbildung darin aber flexibel und rasch der sich wandelnden Arbeitswelt angepaßt werden könnte.

Nach diesem Modell konzipieren wir etwa die neue Berufsfamilie der Dienstleistungskaufleute. Dabei soll es sich um selbständige Berufe handeln, die in ihrer Grundleistung und Kundenorientierung gleichartige zentrale Qualifikationen enthalten, aber in ihrer fachlichen Kompetenz auf die jeweilige Branche ausgerichtet sind.

Es liegt auf der Hand, daß solche Lösungen Unternehmen aller Größen nützen werden, weil die Ausbildung besser ihren Strukturen angepaßt sein kann. Die Ausbildungsbetriebe sparen Kosten, da für die Prüfung nichts Unnötiges mehr vermittelt werden muß. Dafür können die Wahlpflichtprogramme Stoffe aufnehmen, die bisher der Weiterbildung vorbehalten waren. Zum Vorschlag, für Bewerber mit höherer Schulvorbildung die Lehrzeit pauschal zu verkürzen, gibt es damit eine Alternative: Die Ausbildung kann inhaltlich gezielt angereichert werden. Das Interesse der Jugendlichen wird damit sicherlich besser als bisher befriedigt, denn sie erlernen nun einen Beruf, der sie fachlich spezialisiert und damit ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöht – und der dennoch ihre berufliche Flexibilität und Mobilität sichert. Auch Auslandsaufenthalte, ob in deutschen oder anderen Unternehmen, könnten in ein solches Programm eingebaut werden.

Der Grundsatz, daß alle Ausbildungsgänge im Berufsbildungssystem auf den Hauptschulabschluß aufbauen, ist obsolet geworden. Deshalb plädieren wir einerseits für Berufsstrukturen, die bei einheitlicher Ausbildungsdauer sowohl die bessere Lernfähigkeit von Bewerbern wie auch die gestiegenen Ansprüche der Betriebe berücksichtigen. Andererseits brauchen lernschwache Jugendliche ebenfalls neue Ausbildungsmöglichkeiten. Für sie sind unseres Erachtens Stufenberufe sowie zwei- oder dreijährige Lehrzeiten für spezielle Berufe geeignet; es kommen aber auch – wenn dies nicht durchsetzbar wäre – Modulmodelle in Frage.


Konsequenzen für Berufsschule und Weiterbildung

Die Konsequenzen für die Berufsschulen werden beachtlich sein. Dringend notwendig ist eine Neuorganisation der jetzigen Stundenkontingente, damit die betriebliche Ausbildungszeit wieder erhöht werden kann – dieses Problem muß innerhalb eines Jahres gelöst sein. Mit den flexibleren und differenzierten Berufsstrukturen steigen überdies die inhaltlichen Ansprüche an die Berufsschulen. Ein breiter Fächerkanon, aktivierende und leistungsgerechte Methoden sowie flexible Organisationsformen bieten neue Chancen. Die Berufsschule wird sozusagen kundenorientierter und somit für Schüler und Lehrer gleichermaßen attraktiver sein.

Ähnliches gilt für die berufliche Weiterbildung. Erforderlich sind Strukturen und Verfahren, die in Zeiten dramatischer Umbrüche schneller neue Normen schaffen. Bestehende Festsetzungen sind regelmäßig und rasch an die Qualifikationserfordernisse anzupassen. Auch dafür kann unseres Erachtens das Satellitenmodell als Muster dienen.

Wichtig ist, daß neben der Weiterbildungsstufe I "Industriemeister/Fachmeister – Fachwirte/Fachkaufleute" die Weiterbildungsstufe II "Technischer Betriebswirt – Betriebswirt" als Teil des beruflichen Bildungssystems ausgebaut und bei Bedarf ergänzt wird. Damit würde dieses System aus drei Stufen bestehen: der Ausbildung und den beiden Weiterbildungsstufen.

Ein derart gestufter beruflicher Bildungsweg ist der einzige, auf dem Erfahrungen und betriebliche Verantwortung der Absolventen parallel zu ihren theoretischen Qualifikationen anwachsen. Mit einem solchen Modell sind wir in Deutschland auch besser für die Abstimmungen mit unseren europäischen Nachbarn gerüstet, die Stufungen aus Tradition gewohnt sind.

Wirtschaft und Gewerkschaften stimmen darin überein, die sogenannte Anpassungsweiterbildung ordnungsfrei zu halten. Für die Industrie- und Handelskammern haben wir zum Beispiel das Modulmodell der IHK-Fachkräfte entwickelt. Verschiedene Zertifikatslehrgänge werden je nach Bedarf gekoppelt, um schrittweise wachsende Verantwortung in die Breite zu ermöglichen. Damit läßt sich flexibel auf den sich immer mehr differenzierenden und sich stets wandelnden Qualifikationsbedarf sowie auf flachere Hierarchien in den Betrieben eingehen. Noch konsequenter wäre freilich der Schritt zum lernenden Unternehmen, das Arbeits- und Lernprozesse kombiniert und darin die Führungskräfte einbindet.

Das erfolgreiche duale Prinzip dehnt sich zu Recht immer mehr auch auf den tertiären Sektor – die Hochschulen – aus. Erstmals hat die Kultusministerkonferenz den Lernort Betrieb als komplementär für die staatlichen Berufsakademien offiziell anerkannt; und der Wissenschaftsrat hat kürzlich das Erarbeiten dualer Modelle auch an Fachhochschulen empfohlen. Damit wird eine entsprechende Vereinbarung des DIHT mit den Fachhochschulrektoren in ersten Schritten umgesetzt, und die Gleichwertigkeit der dualen Ausbildungsstränge rückt näher: Während sich die Hochschulen um einen stärkeren Bezug zur Praxis bemühen, haben die Unternehmen Bildungsgänge geschaffen, die auf das gleiche Niveau führen, doch dabei kostengünstiger und risikoärmer sind. Der gleichsam offene Raum zwischen Lehre und Studium wird von den Wirtschafts- und Berufsakademien attraktiv gefüllt.


Wer zahlt?

Das duale Bildungssystems kann nur in dem Maße erfolgreich sein, wie es gelingt, eine systemgerechte Finanzierung sicherstellen. Das gilt für Schul-, Hochschul- und berufliche Bildung gleichermaßen. Der Staat kann immer weniger der erforderlichen Mittel aufbringen, und der Druck etwa auf Studenten, sich an den Kosten zu beteiligen, hat schon erheblich zugenommen. Studiengebühren hätten auch den Vorzug, den Studenten zum zahlenden Kunden von Dienstleistungen zu machen und seine Posi-tion gegenüber den Hochschullehrern zu stärken.


Überbetriebliche Finanzierung der Ausbildung

Für die berufliche Ausbildung fordern besonders die Gewerkschaften einen überbetrieblichen Finanzierungsfonds. Diese Forderung ist alt, scheint aber nun angesichts knapper Lehrstellen erneut erwägenswert. Sie beruht jedoch auf falschen Voraussetzungen, weil die Gewerkschaften unterstellen, daß die Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen langfristig sinken werde. Diese Gefahr bestünde indes nur, wenn das Ausbildungssystem so wenig flexibel, so wenig differenziert und so unvollständig wie derzeit bliebe. Wird aber das Dienstleistungsprodukt Ausbildung entsprechend verbessert, werden Unternehmen auch bereit sein zu zahlen. Daß sie ihre Verantwortung tragen wollen, belegen die hohen und noch steigenden Zahlen der Auszubildenden.

Die Einrichtung eines Fonds hätte einen gegenteiligen Effekt: Es wäre geradezu aberwitzig, wenn sich das betriebliche Ausbildungssystem mit Hilfe eines neuen Finanzierungsmodells von seinen betrieblichen Wurzeln zugunsten außerbetrieblicher Bildungsstätten lösen wollte, während doch gerade der tertiäre Bildungssektor den Lernort Betrieb für sich zu entdecken beginnt.

Die Qualität eines Ausbildungssystems ist an seiner Nähe zum Beschäftigungssystem zu messen. Darin liegt die Stärke der deutschen Grundkonzeptes. An neuen Brücken zu den modernen Wirtschaftszweigen, die auch die Chancen für mehr Beschäftigung erhöhen, wird gearbeitet; in drei bis vier Jahren dürften rund 20 neue Ausbildungsberufe entstanden sein. Ein in dieser Weise dynamisch gestaltetes betriebliches Ausbildungssystem ist nach Auffassung des DIHT einer der wichtigsten Standortfaktoren für die deutsche Wirtschaft.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 38
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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