Direkt zum Inhalt

Die Cambridge-Enzyklopädie der Sprache


"Unser Fach ist unüberschaubar geworden" – so oder ähnlich lautet das Lamento fast aller Wissenschaftler, und die Sprachwissenschaft macht keine Ausnahme. Mancherorts droht sie sich gar institutionell zu spalten in einen vorwiegend geschichtlich-kulturwissenschaftlich ausgerichteten Zweig und einen, der sich vor allem als Kognitionswissenschaft versteht. Zuweilen toben heftige Grabenkämpfe um den Alleinvertretungsanspruch. Um so gewagter mutet der Versuch an, die ganze Sprachwissenschaft in allen ihren Spielarten enzyklopädisch für interessierte Nicht-Linguisten darzustellen. David Crystal, Linguistikprofessor am University College in Bangor (Wales), hat viel riskiert – und die Bank gesprengt.

In neun Großkapiteln spricht er über Schreiben und Lesen, Hören und Verstehen, Sprache, Sprachen und Sprechen, von ägyptischen Hieroglyphen bis zur Wernicke-Aphasie: über alles! Der Versuchung, dem eigenen Spezialgebiet – der klinischen Linguistik und Sprachpathologie – besonders viel Aufmerksamkeit zu widmen, hat er widerstanden; jede Richtung der Sprachwissenschaft kommt zu ihrem Recht. Der historische Sprachwissenschaftler registriert erfreut, daß die wissenschaftsgeschichtlich bedingte Überbetonung der Indogermania fast überwunden ist: Im Kapitel 52, das bezeichnenderweise noch den Titel "Andere Sprachfamilien" trägt, werden die nicht-indogermanischen Sprachfamilien der ganzen Welt ausführlich, mit anschaulichen Karten ihrer Verbeitungsgebiete, vorgestellt.

Wer die fast 500 Seiten von Anfang bis Ende durchackert, wird einen erschöpfenden Überblick erwerben. Das werden freilich die wenigsten tun, aber – und das ist eine der vielen Stärken dieses Werks – man muß es auch gar nicht. Jedes der insgesamt 65 Unterkapitel ist für sich lesbar, der Haupttext durch Anekdoten, Beispiele, Abbildungen, Karten in Kästen aufgelockert – es lädt dazu ein, zu blättern, zu überspringen, sich festzulesen, mit einem Wort: auf Entdeckungsreise zu gehen.

Die erste Etappe der Expedition ist denn auch nicht der Beginn der Sprachwissenschaft, die frühesten dokumentierten Sprachen der Welt, frühkindlicher Spracherwerb oder sonst irgendein Anfang; Crystal holt den Reisenden vielmehr an seinem Standort ab. Im ersten Teil "Landläufige Ansichten über Sprache" knüpft er an alltägliche Erfahrungen an und räumt mit allerlei Vorstellungen auf, die in der etablierten Wissenschaft längst keine Rolle mehr spielen, aber noch in vielen Köpfen herumspuken. Bemerkenswert sachlich diskutiert er die Vorstellung, manche Sprachen seien anderen überlegen (Seiten 6/7), und setzt sich mit der Lautsymbolik auseinander (Seiten 174/175).

Auch in den folgenden Teilen greift der Text stets auf die Erfahrung des nicht linguistisch vorgebildeten Lesers zurück. Instruktive Beispiele und Hinweise zu praktischen Anwendungsmöglichkeiten forensischer Linguistik (Seite 20), zur Sprachtherapie (ab Seite 264) sowie zur Sprachplanung und Bildungspolitik (ab Seite 364) belehren den, der Sprachwissenschaft für ein intellektuelles Glasperlenspiel ohne praktischen Nutzwert hielt, gründlich eines besseren.

Die eher theoretischen Aspekte der Sprachwissenschaft kommen trotzdem nicht zu kurz; dabei ist es besonders schwierig, einen Mittelweg zwischen Überforderung des Lesers und verfälschender Vereinfachung zu finden. Crystal ist es gelungen, auch sehr abstrakte Sachverhalte verständlich und solide darzustellen. Vorbildlich ist Kapitel 28 "Der Laut in der Linguistik".

Nur eine einzige Panne ist mir aufgefallen: Auf der Karte der sprachlichen Minderheiten Europas (Seite 37) fehlen zum Beispiel die Sorben in Deutschland, in Italien die deutschsprachigen Südtiroler, die Griechen in Kalabrien und die Italo-Albaner, und in Griechenland bleiben die von offizieller Seite totgeschwiegenen Sprachminderheiten (Albanisch, die slawische Sprache Makedonisch und der rumänische Dialekt Aromunisch) unerwähnt. Außerdem geht die Karte in östlicher Richtung nicht weit genug; man wird auch das Schicksal der russischsprachigen Minder(?)heit in den baltischen Staaten mit Interesse verfolgen. Allerdings stammt das englische Original aus dem Jahre 1987; heute würde der Autor unter dem Eindruck der politischen Ereignisse wohl mehr Sorgfalt verwenden.

Ist es nun möglich, ein Buch, das sich ausgerechnet mit Sprache beschäftigt, auch nur einigermaßen adäquat zu übertragen?

Ja, denn die Übersetzer haben nicht nur die Vorlage in ein ansprechendes Deutsch umgegossen, sondern grundlegend bearbeitet und auf deutschsprachige Leser zugeschnitten. Alle englischen Beispiele zu ersetzen war weder möglich noch nötig: Erstens sind englische Sprachkenntnisse im deutschsprachigen Raum weit verbreitet. Zweitens sind einige Stellen so aufbereitet, daß der Leser mit durchschnittlichen Englischkenntnissen sie nachvollziehen kann, so etwa auf Seite 39, wo es um die unterschiedliche Stillage englischer Synonyme geht, durch Beifügung der Wortbedeutungen. Drittens soll man ja auch nicht nur etwas über die eigene Muttersprache erfahren; Crystal mutet deshalb auch seinen englischen Lesern deutsche und französische Appetithäppchen zu (so etwa schweizerdeutsche Zeitungsannoncen oder ein deutsches Lohnsteuerjahresausgleichsformular).

Oft aber hilft nichts, als anstelle der englischen Beispiele treffende deutsche zu finden: "hein Kerz für Inder" (Seite 263) ersetzt den Versprecher "caked a bake". Statt des Gedichts "How to get on in society" von John Betjeman bietet das Buch "Karrieren" von Kurt Tucholsky (Seite 38), statt "prune" aus dem amerikanischen Krankenhaus-Slang "ätzend" aus der deutschen Jugendsprache (Seite 53), statt einem aus dem Französischen rückübersetzten Mark Twain einen aus dem Japanischen rückübersetzten Goethe (Seite 346; Bild oben).

Damit nicht genug; um – der Absicht des Autors entsprechend – an den kulturellen Hintergrund des Lesers anzuknüpfen, haben die Bearbeiter nicht nur Ergänzungen eingefügt, sondern ganze Partien umgearbeitet. Statt des Abschnitts "How irregular is English spelling?" finden wir ab Seite 214 einen eigenen Artikel über die Problematik deutscher Rechtschreibung und auf Seite 30 statt einer Dialektkarte Englands, auf der die verschiedenen Wörter für "snack" verzeichnet sind, eine Seite aus dem Wortatlas der deutschen Umgangssprache, der uns über die geographische Verteilung von "Frikadelle", "Bulette", "Fleischküchle" und "Fleischpflanzerl" belehrt.

Lediglich bei der Literaturliste hat Ariane Böckler wohl des Guten zuviel getan. Da man ohnehin nicht gänzlich ohne englischsprachige Titel auskommt, wäre es wohl sinnvoller gewesen, die Bibliographie der Vorlage leicht angereichert zu übernehmen. Insgesamt aber haben die Übersetzer mit Sprachkenntnis, Sachkenntnis und Mut zu einem vorzüglichen Werk ein ebenso vorzügliches deutsches Pendant geschaffen.

Fazit: Die gelungene Kombination aus Theorie und Praxis entspricht dem im Vorwort (Seite IX) geäußerten Ziel, "Faszination und Nutzen der Sprachforschung zu vermitteln" und gleichzeitig Sensibilität für die "vielfältigen sprachlich bedingten und sprachlich lösbaren Probleme" zu wecken. Wenn dieser hohe Anspruch überhaupt von einem Buch eingelöst werden kann, dann von diesem.

Nur der prohibitiv hohe Preis wird es hindern, ein Bestseller zu werden. Vermutlich wollte man die deutsche Ausgabe so aufwendig gestalten wie die englische; aber was nützen die hehren Erwägungen, wenn das Prachtstück in Bibliotheken verstaubt? Wer sich aber dadurch nicht abschrecken läßt, hat sein Geld gut investiert: in hohen Informationswert und erstklassiges Schmökervergnügen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1994, Seite 126
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.