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Die deutsche Forschung auf dem Prüfstand

Die Vor- und Nachteile unseres Wissenschaftssystems lotete eine Podiumsdiskussion des Max-Planck-Forums aus. Ein Resümee der Debatte sowie die wichtigsten Reaktionen aus dem Internet-Forum von Spektrum Online bringen wir hier.

Forschung muss offen sein nach allen Seiten, um die Herausforderungen der Zukunft erfolgreich meistern zu können. Dies war die Quintessenz eines Max-Planck-Forums im März dieses Jahres in München.

Zu der Gesprächsrunde hatte die Max-Planck-Gesellschaft gemeinsam mit den Zeitschriften "Spektrum der Wissenschaft", "Nature" und den "VDI-Nachrichten" namhafte Professoren eingeladen: Hubert Markl, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft (MPG), Hans-Jürgen Warnecke, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft (FhG), Olaf Kübler, Präsident der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich, Klaus-Dieter Vöhringer, Forschungsvorstand der Daimler-Chrysler AG, und Gregor Morfill, Direktor am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching.

Zu dieser neuen Offenheit gehört nach Meinung der Gesprächsteilnehmer auch die am Beispiel der "Green Card" noch kontrovers diskutierte Bereitschaft, qualifizierte Wissenschaftler aus Nicht-EU-Ländern aufzunehmen und ihnen eine Arbeitserlaubnis zu erteilen. "Wir sollten in diesem Zusammenhang nach den USA schauen", empfahl Klaus-Dieter Vöhringer. "Fast die gesamte Wissenschaftselite und ein großer Teil der fähigsten Industrieforscher kommen dort aus dem Ausland." Hubert Markl dachte schon einen Schritt weiter: "Wir sind in immer stärkerem Maße aufnahmefähig für Menschen aus dem Ausland. Aber wir müssen sie auch wieder gehen lassen, wir müssen sie ermutigen, dass sie mit dem, was sie hier gelernt haben, wieder zurückgehen. Sonst wird das ein neuer Ausbeutungswettbewerb gegenüber der Dritten Welt."

Entstanden ist diese Situation in Deutschland, weil Nachwuchs in den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächern fehlt. Der MPG-Präsident nannte hierfür vor allem zwei Ursachen: "Wir haben auf der einen Seite einen kurzfristigen Trend: Die Industrie hat noch vor wenigen Jahren die Einstellungszahlen für Naturwissenschaftler dramatisch zurückgefahren. Das hat bei den Studierwilligen eine starke Überreaktion ausgelöst. Auf der anderen Seite gibt es einen säkularen Trend: Die Kinderzahl nimmt ab, der Anteil der älteren Bevölkerung zu. Wir müssen da-rauf achten, dass wir trotzdem ein produktives Land bleiben, in Zusammenarbeit mit anderen Ländern."

Die Schweiz geht diesen Weg der Offenheit schon länger: Wie Olaf Kübler sagte, war die ETH Zürich schon immer sehr international eingestellt. "Im Augenblick haben bei den Doktoranden 40 Prozent keinen Schweizer Pass", so Kübler, "bei den Professoren 50 Prozent. Bei den Diplomanden sind allerdings weniger als 10 Prozent aus dem Ausland."

Offenheit sei aber nicht nur gegenüber dem Ausland nötig, so betonten die Teilnehmer des Max-Planck-Forums; man müsse sie auch gegenüber anderen Disziplinen zeigen. Gerade die inter- und transdisziplinäre Forschung habe in den vergangenen Jahren die größten Erfolge errungen und sei auch künftig am aussichtsreichsten. So sei die Einteilung in Grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung häufig überholt: "Dies ist eine Fiktion, mit der wir lange lebten“, meinte Markl, „obwohl sie auch früher schon nicht stimmte. Wir haben die Welt schön eingeteilt und geordnet und meinten, dass erst Grundlagen erforscht werden, dann führt man die Ergebnisse in Anwendungen über, und danach werden sie der Industrie übergeben, die daraus Produkte macht. In Wirklichkeit waren Anregungen aus der Praxis für die Forschung immer schon ein wichtiger Antrieb."

Dass die auch heute noch praktizierte Abgrenzung zwischen den Disziplinen manchmal Nachteile für die praktische Arbeit hat, illustrierte der Astrophysiker Morfill: "Viele gute interdisziplinäre Ideen kommen nicht zum Zug, weil sich keiner dafür zuständig fühlt." Oft gebe es Schwierigkeiten, gerade für Fächer übergreifende Ideen innerhalb der bestehenden Strukturen Fördermittel zu bekommen: „Visionen, die über die Fachgrenzen hinausgehen, fallen oft zwischen alle Stühle.“

Hans-Jürgen Warnecke legt als Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft großen Wert darauf, die fachübergreifenden Verbünde und die Vernetzung von Instituten zu fördern. "Dies ist jedoch ein Prozess, den man nicht befehlen kann", schränkte er ein, " das geht nicht von heute auf morgen. Wir betreiben das in der FhG schon seit einigen Jahren, und ich bin sicher, dass die Zukunft der Forschung in dieser interdisziplinären, institutsübergreifenden Zusammenarbeit liegt. Man kommt auf diese Weise zu völlig neuen, unerwarteten Lösungen und Erkenntnissen."

Gerade dieser ständige Austausch der Wissenschaftler untereinander ist es, der den Fortschritt der Wissenschaft garantiert. Wie sonst sollte Forschung ihrer Innovations- und Initiativ-Rolle gerecht werden? Die Diskussionsrunde war sich darin einig, dass es eines der schwierigsten Probleme ist, hier jeweils die richtige Vorgehensweise zu finden. Warnecke glaubt an die Selbststeuerung in der Scientific Community: "Zentral von oben kann man immer nur Schwerpunkte setzen, aber die Strategie, was man im Detail erforscht, das machen bei uns die einzelnen Institute, die Forschergruppen. Sie legen ihre Strategien für die nächsten Jahre selbst fest."

Schwerpunkte gibt auch das Unternehmen Daimler-Chrysler seinen Forschern vor. Klaus-Dieter Vöhringer zählte sie auf: "Es sind vier Megatrends:

- Die Forderung der Erreichung einer nachhaltigen Mobilität,

- die datenvernetzte Welt – jede Info ist für jeden zu jeder Zeit an jedem Ort erhältlich, mit allen Konsequenzen daraus,

- der Siegeszug der Elektronik und der Mechatronik mit all ihren Möglichkeiten in Funktion und Miniaturisierung, und

- die Möglichkeit, in Zukunft maßgeschneiderte Werkstoffe herzustellen, die in einer Kreislaufwirtschaft verwendet werden."

Dass man sich aber vor einer zu großen Praxisorientierung hüten muss, betonte Hubert Markl: "Die Max-Planck-Gesellschaft bedient sich eines Wettbewerbsverfahrens, in dem wir bei knappen Mitteln eine Konkurrenz der Vorschläge wirken lassen. Und in den Gremien zu bewerten suchen: Welcher ist unter diesen Vorschlägen zur Zeit der wissenschaftlich aussichtsreichste? Man darf sich nicht verlocken lassen, einfach nur zu fragen: Was ist das brennendste Problem? Das führt oft auf die falsche Spur."

Dass sich diese Strategie auch in der Praxis bewährt, bestätigte Gregor Morfill: "Das ist das Interessante in der MPG: Man erhält bestimmte personelle und finanzielle Rahmenbedingungen, innerhalb derer man dann frei ist, neue Dinge auszuprobieren. Natürlich wird man eine gewisse Kontinuität in der Forschung benötigen, besonders dort, wo die Problemstellungen der näheren Zukunft liegen. Aber ebenso wird man Visionen haben: Was würde ich gerne in 20 Jahren erreichen?"

Die Strukturierung von Max-Planck- und Fraunhofer-Gesellschaft in einzelne Institute kann bei einer schnellen Neuorientierung auf aktuelle Forschungsgebiete jedoch manchmal hinderlich sein. Hubert Markl hat dies schon erlebt: "Wenn ein Institut sich mit seiner Aufgabenstellung überlebt hat, oder wenn andere diese Aufgaben besser übernehmen können, dann muss man die Kraft und den Mut haben, aufzuhören, also das Institut zu schließen."

Freiheit in den Entscheidungen bedingt auch Offenheit im Umgang mit Gesellschaft und Öffentlichkeit. So forderte der FhG-Präsident: "Wissenschaft und Forscher müssen sich heutzutage damit abfinden, dass sie einen Teil ihrer Zeit – hoffentlich nicht den größten – zur Kommunikation mit anderen Disziplinen, aber auch mit anderen Gesellschafts- und Bevölkerungskreisen einschließlich Politik aufwenden müssen. Darum kommen wir nicht mehr herum."

Auch die Verbesserung der Chancen für den wissenschaftlichen Nachwuchs hat mit einer Öffnung zu tun. Olaf Kübler bedauerte: "Die starken Talente mit Lust an der Leistung und am Erfolg, die kriegt die ETH Zürich nicht, die kriegt die MPG nicht, und die kriegen auch die großen Firmen nicht. Solche jungen Leute machen heute ihre eigene Firma auf. Wir kriegen diese guten Leute nur dann, wenn wir innerhalb unserer Mauern hervorragende Start-up-Bedingungen schaffen. Wir müssen bei den jungen Leuten ungeteilte Verantwortung und auch Kompetenz zulassen." Eine Öffnung zu mehr Eigenverantwortung also.

Insgesamt befinde sich die deutsche Wissenschaft im Aufbruch, so empfand dies jedenfalls Olaf Kübler: "Ich habe den Eindruck, dass in der deutschen Forschungslandschaft zur Zeit ein Ruck passiert. Es ist der deutliche Wille da, zu neuen Ufern aufzubrechen."


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2000, Seite 100
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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