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Die Entdeckung der Evolution


Das Buch besticht zunächst durch seine Aufmachung und die fast immer hervorragenden Illustrationen. Dabei sind außer oft gezeigten auch neue Bildbeispiele ausgewählt worden.

David Young, Professor am Zoologischen Institut der Universität Melbourne (Australien), verkündet im Vorwort den Plan, die Entstehungsgeschichte der Evolutionstheorie chronologisch in allgemeinverständlicher Form zu schildern. Diesem Anspruch wird der Text jedoch in keiner Weise gerecht. Die Ausführungen beschränken sich auf eine Naturgeschichte; ihre Einbettung in die geistigen und gesellschaftlichen Strömungen der Zeit wird kaum erwähnt, geschweige denn ausgeleuchtet.

Der Autor verwirrt den Leser zudem durch eine ungenaue Begrifflichkeit. So gebraucht er fast immer "Evolution" und "Evolutionstheorie" synonym und bezeichnet die organismische Evolution, um die allein es sich in dem Buch handelt, schlicht als "die Evolution", ohne Hinweis darauf, daß dies nur eine von vielen ist; verwiesen sei nur auf die Theorien zur Entwicklung des Kosmos.

Diese unkritische Haltung zum Gegenstand des Buches setzt sich in der unhistorischen Verwendung von Begriffen fort. So verschweigt Young, daß im 18. Jahrhundert die "Präformationstheorie" oder die "These von den eingerollten vorgeformten Keimen" als "Evolutionstheorie" bezeichnet wurde, und gibt keinen Hinweis auf den Bedeutungswandel des Begriffs "Reptilien", obwohl er ihn beispielsweise auf Seite 134 im altertümlichen, die Amphibien mit umfassenden Sinne gebraucht: "Bei den Reptilien wurde der erste der großen ,Labyrinthodontia' [einer Klasse ausgestorbener Lurche] im Karbon Deutschlands entdeckt."

Im folgenden macht sich dann immer stärker die Verengung des Blickwinkels auf die Geschichte der Theorien der Anpassung und der Selektion bemerkbar. Was Young unter dieser Perspektive für unwichtig hält, läßt er einfach weg. Dies ist um so schmerzlicher, als gerade die große Vielfalt theoretischer Entwürfe besonders im Laufe des 19. Jahrhunderts entscheidend für die Ausprägung der Theorie Charles Darwins (1809 bis 1882) war.

Auf die Betonung der Selektion als des wesentlichen Evolutionsfaktors ist das ganze Werk ausgerichtet, und dabei wird auch manchmal Wesentliches in der Geschichtsschreibung unterschlagen: Wer den Philosophen Herbert Spencer (1820 bis 1903) und Darwins Vetter, den Naturforscher und Schriftsteller Francis Galton (1822 bis 1911), erwähnt, darf nicht über Sozialdarwinismus und Eugenik schweigen – vor allem nicht, wenn er für die Evolutionstheorie den "Übergang von der wissenschaftlichen Interpretation zur großen Philosophie" beschwört (Seite 256).

Zur Veranschaulichung meiner Kritik diene ein kurzes Textbeispiel (Seite 98): "Die Vorstellung, daß alle Tiere nach einem gemeinsamen Plan konstruiert sind, fand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer mehr Anhänger. Sie war eng verknüpft mit der Idee der Seinskette und ein wichtiger Teil der romantischen Naturphilosophie jener Zeit. Unter diesem Einfluß arbeitete Geoffroy Saint-Hilaire an einer vergleichenden Anatomie, die auf dem Prinzip der Einheit des Plans aufbaute. In bewußtem Gegensatz zu Cuviers Ansatz sollte sie eine Wissenschaft der reinen Struktur sein und klammerte funktionale Betrachtungen aus. Er verglich die Struktur sich entsprechender Skeletteile bei verschiedenen Wirbeltieren."

Abgesehen davon, daß man die "Idee der Seinskette" und die "romantische Naturphilosophie" nicht in einen Topf werfen kann, ohne beiden Unrecht zu tun, hat der französische Naturforscher Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772 bis 1843) seine Theorie aus seinen eigenen philosophischen Grundüberzeugungen entwickelt, und zwar lange bevor sein Fachkollege Georges Baron de Cuvier (1769 bis 1832) seinen Ansatz auch nur andeutungsweise formuliert hatte. Näheres findet sich in "The Cuvier-Geoffroy Debate" von Tobby Appel (Oxford University Press 1987). Hier kann auch jeder nachlesen, daß Geoffroy keineswegs funktionale Betrachtungen ausklammerter; sie hatten nur einen anderen Stellenwert als bei Cuvier.

Diesem Beispiel könnte man noch viele weitere hinzufügen. Als abschließende Beurteilung kann ich nur Youngs Ansicht über Robert Chambers "Vestiges of the History of Creation" zitieren (Seite 121): "Vor allen Dingen störten sich Wissenschaftler an den Ungenauigkeiten des Buches, das jegliche Sorgfalt vermissen ließ."



Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1995, Seite 126
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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