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Die Entdeckung tierischen Bewußtseins


Die Frage tierischen Bewußtseins sollte zum festen Bestandteil der Biologie werden, so die Oxforder Zoologin Marian Dawkins am Schluß ihres Buches. Wer wie ich die Zeit der Verhaltensforschung miterlebt hat, in der jeder Hinweis auf Bewußtsein bei Tieren als unwissenschaftlich abgetan wurde, vermag erst zu ermessen, welcher Paradigmenwechsel – die "kognitive Wende" der Verhaltenswissenschaften – hinter diesem Anspruch steckt. In den siebziger Jahren durfte zum Beispiel die höchste Hirnleistung von Tieren nicht als das benannt werden, was sie ist, nämlich "Einsicht", weil ein solcher Begriff angeblich nicht beweisbare Bewußtseinsprozesse einschließt.

Inzwischen mehren sich die empirischen Befunde, daß Menschenaffen Bewußtseinsstufen erreichen, die einen bestimmten, wenn auch noch nicht klar umgrenzten Grad sozialer Kognition einschließen: die Einsichtnahme, das Verständnis des Innenlebens des Sozialpartners, was eine Art von Selbstbewußtsein voraussetzt (siehe meinen Artikel "Intelligenz von Orang-Utans", Spektrum der Wissenschaft, November 1994, Seite 78). Dennoch: Mißverständnisse und voreilige Überinterpretationen tierischer Verhaltensleistungen bestehen fort.

Das Anliegen der Autorin ist denn auch zunächst eine Übersicht scheinbarer Intelligenz- und Bewußtseinsleistungen. Die zahlreichen Beispiele tierischer Hirnleistungen sollen aber nicht nur den wissenschaftlichen Skeptiker ebenso wie den überzeugten Tierliebhaber zum nochmaligen Überdenken ihrer Positionen anregen, sondern auch zu einem neuen Verständnis beitragen: Tiere sind zwar nicht so intelligent wie wir, aber ihre Leistungen sind keinesfalls weniger komplex; die Einschätzung, daß Tierverhalten primitiv oder gar automatisch sei, entlarvt sich als Vorurteil.

Ist komplexes Verhalten aber immer auch bewußtes Verhalten? Die weitere Suche nach tierischem Bewußtsein führt über etliche Beispiele aus Freiland- und Laborstudien zu der Erkenntnis, daß komplexe Leistungen einerseits durch stammesgeschichtlich erworbene "Faustregeln" erklärbar sind, in manchen Fällen aber auch die experimentell kontrollierte und statistisch abgesicherte kognitive Deutung "Denkleistung" zulassen, selbst wenn die Versuchstiere Vögel oder Ratten sind. Die Annahme, Tiere seien um so intelligenter, je ähnlicher sie uns sind, erweist sich somit ebenfalls als Vorurteil.

Der Nachweis tierischen Denkens ist noch kein Beweis für Bewußtsein. Als entscheidender erscheint vielen die Fähigkeit zu subjektiven Gefühlen. Haben Tiere also ein Seelenleben? Marian Dawkins entwickelt ihre Antwort erneut kritisch-vorsichtig; zumindest für einige Arten gibt sie plausible Argumente: Es gibt Tiere, die "angenehme" und "unangenehme" Gefühle bewußt erleben.

Die "Bilanz der Beweise" (so die Überschrift des Schlußkapitels), diskutiert vor dem Hintergrund möglicher und vor allem testbarer Bewußtseinsfunktionen, läßt nach Ansicht der Autorin nur den Schluß zu: Tiere haben Bewußtsein, und dessen weitere Erforschung ist sehr wohl wissenschaftlich möglich. Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit hat sich umgekehrt: Nach heutigem Wissen ist es "definitiv unwissenschaftlich", Tieren Bewußtsein abzusprechen. Marian Dawkins weiß aber auch, daß der unabdingbare Schluß auf tierisches Bewußtsein ein "Analogiesprung" bleibt.

Wenn etwas verwundert in den differenzierten und subtilen Fallanalysen tierischer Verhaltensleistungen, dann daß die Autorin gerade jene Bewußtseinsindizien gänzlich außer acht läßt, die sich aus den eingangs schon erwähnten jüngsten Befunden zur sozialen Kognition bei Menschenaffen ergeben. Selbst im Literaturverzeichnis fehlt jeder Hinweis etwa auf die klassische Arbeit von David Premack und Guy Woodruff: "Does the chimpanzee have a theory of mind?" (1978) oder die jüngsten Arbeiten (von 1990 und 1992) von Daniel Povinelli und seinen Mitarbeitern.

Gleichwohl ist das Buch nicht nur ein Querschnitt moderner Verhaltensbiologie, das heißt auch kognitiver Ethologie; es ist zudem ein Beleg dafür, daß heutige Biologie mehr sein kann als die modernen Modefächer Biochemie und Molekulargenetik.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1995, Seite 129
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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