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Die Erfindung des Politischen. Eine Theorie reflexiver Modernisierung


Wie modern ist die Moderne? Hat sie in den westlichen demokratisch-kapitalistischen Industriegesellschaften ihre letzte, endgültige Gestalt erfahren? Ist gar, wie man nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Sozialismus in manchen Publikationen lesen konnte, die Gesellschaftsgeschichte überhaupt an ihr Ende gekommen? Oder ist die allenthalben spürbar gewordene Weltunordnung berechtigter Anlaß, die hehren Prinzipien der Moderne, der Aufklärung entlehnt, endgültig und radikal zu verabschieden und nach der Postmoderne zu suchen?

Der Münchener Soziologe Ulrich Beck erteilt beiden – in der soziologischen Diskussion repräsentativ vertretenen – Auffassungen eine klare Absage. Bereits 1986 hatte er in seinem Buch "Risikogesellschaft" die These unterbreitet, daß sich auch ohne großes politisches Donnergrollen, gleichsam "auf den leisen Sohlen der Normalität", ein tiefgreifender politischer Wandel vollziehe: Die Konturen der klassischen Industriegesellschaft lösten sich auf, nicht durch Revolution und Klassenkampf, wie je nach politischem Standort erhofft oder befürchtet, sondern durch die Eigendynamik der wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Innovationen. Der Bruch werde spürbar im Entstehen von Gefahrenpotentialen, die sich ungewollt auch gegen die Grundlagen der Industriegesellschaft selbst richten. Der Übergang zur Risikogesellschaft signalisiere, daß die Gesellschaft sich auf dem Weg in eine andere Moderne befinde.

Entschuldigte Beck 1986 die Schärfe seiner Polemik noch mit dem Hinweis, er habe auch eigene Einwände kräftig in die Flucht schlagen müssen, so ist in seinem neuen Buch für freundliche Rückversicherungen kein Platz mehr. In den sieben Jahren zwischen dem Erscheinen beider Bücher hat der Autor nicht nur das theoretische Fundament seiner Auffassungen vertieft, es wurde auch "ein Stück mehr Zukunft sichtbar". Damit sind nicht nur Umweltkatastrophen wie jene von Tschernobyl gemeint, sondern auch das Ende des Ost-West-Gegensatzes. Wenn Kollegen seiner Disziplin darin eine Bestätigung ihrer These finden, daß es zur industriellen Moderne keine Alternative gebe, sieht Beck Veränderungen allenthalben. Nicht nur die Ost-West-Weltordnung sei zerbrochen, auch die Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten des westlich-demokratischen Kapitalismus lösten sich auf. Die soziologische Wissenschaft bedürfe einer konzeptionellen Renaissance, die aber ohne intensive und kontroverse Diskussion theoretischer und politischer Leitideen nicht zu haben sei.

Beck greift hier auf seine bereits früher entwickelte Theorie einer reflexiven Modernisierung zurück. Sie öffnet theoretische und methodische Zugänge zum Verständnis jener dynamischen Modernisierungsprozesse, die sich letztlich ungeplant und ungewollt gegen die Grundlagen der Industriegesellschaft selbst richten. Im Unterschied zu seinen früheren Büchern, die wesentlich das Risikosyndrom – die neue Globalität der Gefahren – zum Inhalt hatten, legt er in der vorliegenden Arbeit den Akzent auf die politischen Konsequenzen.

Wieviel Unsicherheit, wieviel Auflösung verträgt der Mensch? Beck hat kein Interesse daran, dies auszuloten und einer ohnehin eher pessimistischen Grundstimmung neue Nahrung zu geben. Sein Buch ist eine Suche nach politischen Alternativen, genauer: nach Formen, Begriffen, Institutionen und Konzepten des Politischen, die den globalen Herausforderungen der Industriezivilisation an der Jahrtausendwende gerecht werden.

Der scheinbar paradoxe Titel von der Erfindung des Politischen spiegelt einen sehr einfachen Tatbestand wider. Geschichte der Politik ist immer auch eine Geschichte politischer Erfindungen. Sie begleiten nicht nur den gesellschaftlichen Wandel, sondern sind eine seiner wesentlichen Voraussetzungen.

Beck unterscheidet einerseits zwischen offizieller und Subpolitik, andererseits – hinsichtlich der Qualität politischen Handelns – zwischen regelgeleiteter und reflexiver (regelverändernder) Politik. Die erste Unterscheidung bringt zum Ausdruck, daß sich Politik zunehmend jenseits der klassischen Institutionen vollzieht und die bislang üblichen Politikkoordinaten verläßt. In der Gestalt von Bürgerinitiativen, die zum Teil gegen den erheblichen Widerstand des politischen Establishments wichtige Zukunftsthemen auf die Tagungsordnung setzten, glaubt Beck eine Renaissance politischer Subjektivität ausmachen zu können. Die zweite Unterscheidung macht erkennbar, welche Qualität politischen Handelns angesichts der heutigen globalen Herausforderungen notwendig ist. Regelgeleitete Politik reproduziert den üblichen "Ringkampf der Parteien um die Futtertröge und Steuerungshebel der Macht". Dagegen zielt eine regelverändernde Politik auf politische Innovationen, auf eine tatsächliche Erfindung des Politischen.

Spürbar ist Becks Bemühen, nicht nur im engen Zirkel der Fachkollegen gelesen und verstanden zu werden. Seine Sprache ist bildhaft, nimmt viele Anleihen aus Literatur und bildender Kunst auf, die sein Anliegen noch wirkungsvoller transportieren sollen. Manch eingefleischter Akademiker, der die trockene Expertensprache hinter Becks Argumentation nicht wiedererkennt, mag darüber die Nase rümpfen und Populismus wittern. Die verwendeten Stilmittel verselbständigen sich bei Beck jedoch nicht, sondern sind stets auf die anschauliche Propagierung des Gesamtkonzeptes gerichtet.

Jener Teil des Buches, in dem Beck die Koordinaten des Politischen neu ziehen möchte, leidet darunter, daß zu viele Themen eher angerissen als gründlich abgehandelt werden. Konzentration hätte hier sicherlich gut getan, auch auf die Gefahr hin, einen wichtigen Gedanken für ein neues Buch aufsparen zu müssen.

So spricht Beck, im Kontext einer Theorie der reflexiven Modernisierung einleuchtend, von der Notwendigkeit einer "Rationalitätsreform", die dem Grundrecht auf Irrtum Rechnung trage, erkennt darin ein "Jahrhundertthema" – und läßt es nach drei Seiten bereits wieder fallen. Zu stark unter- und eingeordnet ist auch die Behandlung neu entstehender politischer Institutionen, die dem Legitimationsverfall der technisch-industriellen Entwicklung begegnen könnten. Entscheidet sich aber nicht gerade hier, bei der Suche nach neuen "Foren und Formen konsensstiftender Zusammenarbeit zwischen Industrie, Politik, Wissenschaft und Bevölkerung", ob und inwieweit dem Projekt einer regelverändernden Politik tatsächlich Erfolg beschieden sein könnte?

Becks neues Buch setzt notwendige Akzente in der Auseinandersetzung um die Perspektiven gesellschaftlicher Entwicklung und politischen Handelns. Seine Argumentation richtet er vor allem gegen den Unwillen einer Gesellschaft, sich der historischen Strukturkrise des Systems westlicher Industriegesellschaften zu stellen.

Der Autor ist sich des Spagats bewußt, den er zwischen Pessimismus und Weltverbesserungs-Ideologie üben muß. Er zeigt Wege auf, die politisches Handeln ermöglichen können und – vielleicht – den gordischen Knoten einer Selbstblockade durchschlagen, den diese Gesellschaft zu knüpfen droht. Eine Erfolgsgarantie liefert er nicht mit.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1994, Seite 130
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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