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Simulation: Die Evolution der Computerwürmer

Primitive, höchst abstrakte Nachbildungen lebender Organismen zeigen im Laufe der Generationen überraschende Veränderungen durch Mutation und Selektion.


Eine komplexe Struktur wie das Auge des Wirbeltiers ist eine harte Herausforderung für die Evolutionsheorie. Wer sehen kann, hat zwar offensichtlich einen enormen Selektionsvorteil gegenüber seinen blinden Konkurrenten; aber wie soll ein Auge entstehen, wenn es zuvor noch keines gab? Durch eine Folge von Mutationen, die jede für sich nur eine kleine Änderung bewirken, sagt die Theorie. Aber jede Zwischenstufe auf dem langen Weg zum Auge muss für sich schon vorteilhaft sein, sonst wäre sie längst ausgestorben, bevor die nächste Mutation eintreten konnte. Es fällt schwer, sich solche vorteilhaften Zwischenstufen vorzustellen. In diese Erklärungslücke stoßen die Kreationisten mit ihrer These, anstelle des blinden Zufalls der Mutation müsse ein "intelligenter Designer" gewaltet haben – also ein gezielter göttlicher Eingriff in den natürlichen Lauf der Dinge.

Andererseits haben die verschiedensten Tiergruppen unabhängig voneinander Augen "erfunden". Sehenkönnen ist offenbar so ungeheuer vorteilhaft, dass die blinde Evolution früher oder später einfach "darauf kommen musste". Insbesondere gibt es viele denkbare evolutionäre Wege zum Sehen. Jeder von ihnen ist vielleicht eine höchst unwahrscheinliche Anhäufung von Zufällen. Aber dass die Natur von den vielen denkbaren Wegen wenigstens einen findet, ist nicht mehr ganz so unwahrscheinlich.

Leider kann das klassische Werkzeug der Wissenschaft, das Experiment, zur Klärung solcher Fragen nicht viel beitragen. Einige zehntausend Generationen dauert es schon, bis das komplizierte Wechselspiel von Mutation und Selektion deutliche Wirkungen zeigt, und so lange kann ein Wissenschaftler kaum warten. Immerhin hat der Mikrobiologe Richard E. Lenski von der Universität von Michigan in East Lansing in einem Fall gezeigt, dass es verschiedene Wege zum gleichen Ziel gibt: Er füllte 1988 zwölf genetisch identische Populationen des Darmbakteriums Escherichia coli in Flaschen ab und setzte sie identischen Bedingungen aus. Bereits elf Jahre – oder 24000 Generationen – später konnte er durch plötzliche Änderung der Bedingungen feststellen, dass die zwölf "Völker" zwar sämtlich die Herausforderungen ihrer jeweiligen Umwelt bewältigt hatten, aber auf sehr unterschiedliche Weise.

Während selbst schnelllebige Bakterien noch Jahre geduldiger Hege erfordern, sind künstliche "Lebewesen", die nur als Software im Computer existieren, erheblich pflegeleichter, und ihre Generationenfolge ist noch weit rascher. Ihre Programmierer haben alles überflüssige Beiwerk weggelassen; deshalb sind die Tierchen auch nicht so farbenfroh wie die Monster aus den Computerspielen oder so kuschelig wie die "Creatures" (Spektrum der Wissenschaft 10/1996, S. 14), die immerhin zu einer gewissen Evolution fähig sind. Es erfordert schon hohes Abstraktionsvermögen, in ihnen überhaupt Eigenschaften echter lebender Organismen wiederzufinden.

Ein "Lebewesen" in der virtuellen Welt ist nichts weiter als ein Stück Computerprogramm, eine Folge elementarer Maschinenbefehle; nennen wir es einen "Wurm". Die ersten ihrer Art gediehen 1990 in der Software-Welt "Tierra" von Thomas Ray und erregten erhebliches Aufsehen. Ein Nachfolger von "Tierra" ist "Avida", geschrieben von Christoph Adami vom California Institute of Technology in Pasadena, der seit 1998 mit Lenski zusammenarbeitet. Mit zur Arbeitsgruppe gehören Charles Ofria aus der Informatik und Robert T. Pennock aus der philosophischen Fakultät der Universität von Michigan, der mehrere Bücher gegen den Kreationismus verfasst hat.

Der Unterschied zwischen Genotyp und Phänotyp, für Biologen von zentraler Bedeutung, ist bei den Würmern aus "Avida" kaum zu erkennen. Der Genotyp ist eine Kette von "Genen", deren jedes ein elementarer Maschinenbefehl ist, und der Phänotyp ist ein – durch die Software von "Avida" simulierter – Primitivcomputer, der diese Befehle der Reihe nach ausführt; er enthält nur ein paar Speicherplätze, Register und Instruktionszähler. Man darf an das Ablesen eines DNA-Strangs denken, eines ringförmigen übrigens, denn nach dem letzten Befehl kommt wieder der erste an die Reihe; aber sehr viel weiter geht die Analogie nicht.

Die Kunstwürmer können sich vermehren: Unter den 26 Instruktionen, die der Primitivcomputer versteht, ist auch eine, die das eigene Erbgut Stück für Stück an eine benachbarte Stelle der "Avida"-Welt kopiert. Die Kopie beginnt dann ihrerseits zu leben, das heißt, sich selbst als Programm auszuführen. Und natürlich gibt es die Kopierfehler, die den Biologen als Punktmutationen geläufig sind: Mit einer geringen Wahrscheinlichkeit wird zufallsabhängig ein zu kopierendes Gen durch ein anderes ersetzt, weggelassen oder um ein weiteres verlängert. Die Länge des Genoms variiert also im Laufe der Generationen, wie im echten Leben.

Auch virtuelle Würmer können – und müssen – fressen: Die Ausführung eines Programms verbraucht pro Instruktion eine gewisse Menge gedachter Energie; jeder Wurm bekommt bei seiner Geburt einen ersten Energievorrat mit. Aber während Lenski seinen Bakterien täglich etwas Glucose in die Flasche füllt und es ihnen überlässt, um die begrenzten Vorräte zu konkurrieren, kriegen die künstlichen Tierchen – von der Erstausstattung abgesehen – ihren Zucker nur für besondere Leistungen, wie im Zirkus.

Leben und Fortpflanzung der Computerwürmer

Welche Leistungen kann man von einem primitiven Computerprogramm verlangen? Rechnen! Die Schöpfer von Avida sehen es noch etwas fundamentaler und fordern nur, dass ihre Kreaturen logische Verknüpfungen richtig ausführen. Wenn ein Wurm zwei vorgegebene Bitketten einliest und eine weitere Bitkette ausgibt, die genau dort eine Eins hat, wo beide eingelesenen Ketten eine Eins hatten, dann hat er die logische Verknüpfung UND richtig ausgeführt und wird mit vier Stück Zucker, das heißt Einheiten virtueller Energie, belohnt; davon kann er wieder eine ganze Weile leben.

Im Prinzip ist er zu solchen Leistungen fähig, denn unter den 26 elementaren Instruktionen ist auch die logische Verknüpfung NAND ("NOT-AND"): Sie gibt eine Null aus, wenn beide Eingänge gleich 1 sind, sonst eine Eins. Jede überhaupt denkbare logische Verknüpfung zweier Eingänge lässt sich aus Anwendungen der Funktion NAND zusammensetzen. Allerdings sind manche Verknüpfungen schwieriger als andere, indem sie mehr Anwendungen von NAND erfordern. Die schwierigste unter ihnen heißt EQU wie equality (Gleichheit): Sie gibt genau dann eine Eins aus, wenn die beiden Eingangsgrößen gleich sind. Ein Wurm, der erfolgreich die Funktion EQU anwendet und das Ergebnis ausgibt, bekommt volle 32 Stück Zucker, während der Lohn für andere logische Funktionen eine Zweierpotenz zwischen 2 und 16 ist.

Damit ist die Fähigkeit, EQU zu berechnen, vergleichbar der Fähigkeit zu sehen: Sie bringt einen so großen Selektionsvorteil, dass sie sich alsbald in der ganzen Population durchsetzt, sowie auch nur ein Wurm sie erstmalig erwirbt. Die metabolische Aktivität der Würmer, sprich die Geschwindigkeit, mit der ihr Programm einschließlich der Fortpflanzung abläuft, hängt nämlich von ihrem Energievorrat ab. Jeder lebt auf einem Platz in einem – gedachten – Gitter aus 60×60 Plätzen. Ein neugeborenes Kind siedelt sich auf einem der Plätze unmittelbar neben der Mutter an und bringt dabei den bisherigen Inhaber dieses Platzes um. Es kommt also entscheidend darauf an, sich schneller zu vermehren als der Nachbar. Die Interaktion der Würmer beschränkt sich allerdings auf diese Art der Verdrängung; einen richtigen "Krieg der Kerne" mit Beschädigung des Gegners (Spektrum der Wissenschaft 1/1993, S. 10) gibt es nicht.

Andererseits ist EQU, ebenso wie Sehen, eine komplexe Fähigkeit: Sie erfordert eine große Anzahl von Mutationen, deren keine für sich allein besonders vorteilhaft ist. Die anderen Leistungen, für die es mittelgroße Mengen an Zucker gibt, sind EQU nicht besonders ähnlich. Man muss für EQU sogar Dinge tun, die für die anderen Funktionen eher nachteilig sind.

So jedenfalls sieht es nach dem Ergebnis der Experimente aus. Lenski, Adami und ihre Kollegen setzten in ihre Kunstwelt 3600 Urwürmer mit einem Genom der Länge 50, die zwar zur Vermehrung fähig sind, aber ansonsten zu nichts, was Zucker bringt. Die Mutationsrate ist dem natürlichen Vorbild nachempfunden: Durchschnittlich jede vierhundertste Instruktion wird beim Kopieren verfälscht, darüber hinaus wird mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Prozent eine Instruktion aus einem Genom gelöscht oder darin eingefügt. Da diese Mutationen vom Zufall bestimmt sind, geschieht dasselbe wie mit Lenskis zwölf Bakterienstämmen: Bei gleichen Ausgangsbedingungen und gleicher Umwelt verläuft die Entwicklung jedesmal anders. Anders als in der echten Natur kann man in der künstlichen Welt mehrere Evolutionswege durchspielen – und vor allem muss man sie nicht mühsam aus Fossilien rekonstruieren. Die ganze "Phylogenese" ist vollständig dokumentiert und mit bloßen Auge oder geeigneten Suchprogrammen erforschbar.

Evolution im Reagenzglas: der Avida-Computer

Die Forscher ließen ihre Modellwelt fünzigmal ablaufen, und zwar über eine Zeit, die ungefähr 16000 Generationen eines Urwurms entspricht. (Da längere Genome auch längere Zeit zur Fortpflanzung brauchen, hängt die Generationsdauer von der Größe des Tierchens ab.) In immerhin 23 von diesen 50 Fällen entwickelten sich EQU-fähige Würmer, und zwar jedesmal andere; ihre Genomlänge – die Anzahl ihrer Programmbefehle – variierte von 49 bis 356. Zumindest für diese spezielle Fähigkeit gibt es also sehr viele verschiedene Evolutionswege. Nachdem in einer Population erstmals die EQU-Fähigkeit aufgetreten war, ging sie nicht wieder verloren, auch wenn die EQU-fähigen Würmer weiter evolvierten und sich gelegentlich noch zusätzliche Fähigkeiten zulegten.

Einen der "Pionier-Würmer", die erstmals die EQU-Fähigkeit zeigten, haben die Forscher eingehend untersucht. Dadurch konnten sie unter anderem bestätigen, dass die so reich belohnte Fähigkeit tatsächlich komplex ist in dem Sinne, dass sie das Zusammenwirken zahlreicher Gene erfordert. Sie änderten systematisch jede einzelne der 60 Instruktionen ab, aus denen sein Genom bestand; daraufhin ging in 35 Fällen die EQU-Fähigkeit verloren. Bei den entsprechenden Würmern aus den anderen Progammläufen variierte die Anzahl der in diesem Sinne unerlässlichen Gene von 17 bis 43.

Muss es auf dem Weg zu der komplexen Fähigkeit Zwischenstufen geben, die ihrerseits vorteilhaft sind? Unterbleibt also die Entwicklung dieser Fähigkeit, wenn die Zwischenstufen keinen Vorteil einbringen? Die Forscher ließen die Welt abermals ablaufen, gaben aber diesmal für eine oder zwei der "niederen" Leistungen keinen Zucker. Einerlei welche das waren, die Fähigkeit, die ganz große Zuckerportion abzugreifen, entwickelte sich kaum seltener als bei der großzügigen Umwelt. Erst als den Würmern sämtliche kleinen Belohnungen vorenthalten wurden, brachte es keiner von ihnen mehr zu Höchstleistungen. Vielmehr wurden sie im Laufe der Zeit kürzer: Es gab eben nichts, wofür es sich gelohnt hätte, ein längeres Genom mit dem Nachteil verzögerter Fortpflanzung zu kultivieren. Auf einem kurzen Genom aber findet beim besten Willen keine EQU-Fähigkeit Platz.

Die Frage nach den Zwischenstufen hat also, zumindest für dieses Modellsystem, eine unerwartet komplizierte Antwort gefunden: Die Zwischenstufen selbst sind eigentlich nicht erforderlich. Aber die Umwelt muss die Entwicklung langer Genome begünstigen und vor allem ausreichend Zucker geben, um auch einige Exoten durchfüttern zu können.

Denn das ist ein weiteres Ergebnis der Untersuchungen: Der Weg zum Gipfel geht meistens durch ein Tal der Tränen. Die letzte, entscheidende Mutation, die dem Wurm die EQU-Fähigkeit brachte, hat in den meisten Fällen zugleich eine andere Fähigkeit zerstört, sodass sie eigentlich als schädlich einzuordnen wäre. Mehr noch: Die vorletzte Mutation beeinträchtigte ihren Träger häufig so stark, dass seine Nachkommenlinie bald ausgestorben wäre, wäre nicht wenig später die rettende letzte Mutation gekommen.

Noch kann man gegen das ganze Experiment der amerikanischen Informatiker die üblichen Einwände erheben: Es ist unklar, ob die Ergebnisse etwas über das echte Leben aussagen oder nur ein Artefakt der radikalen Vereinfachung sind. Vielleicht bildet das Computermodell eine zentrale Eigenschaft der echten Evolution nicht richtig ab, und wenn es nachgebessert wird, ist auf einmal alles ganz anders.

Aber schon jetzt eignet sich die Welt Avida, Theorien über die Evolution zu überprüfen – vorausgesetzt, die Theorie ist so allgemein, dass auch diese künstliche Welt darunter fällt. Jedermann ist eingeladen, eine Kopie von Avida aus dem Internet zu laden und damit seine eigene Welt zu betreiben. Mit weiteren überraschenden Ergebnissen ist zu rechnen.

Das Schönste fehlt ohnehin noch: Sex. Es ist gar nicht auszudenken, was alles passieren kann, wenn die Genome zweier Eltern, durch Zufall zusammengebracht, zusammenwirken.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2003, Seite 92
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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