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Die gedachte Natur. Ursprung, Geschichte, Sinn und Grenzen der Naturwissenschaft


„Die Naturwissenschaftler hat man viel zu lang allein wursteln lassen!“ So ungefähr hörte man bislang die Kritiker. Heute seufzen manche der Kritisierten selbst darüber, daß ihre neuzeitliche Erfolgsgeschichte erkauft wurde mit der Abtrennung von der philosophisch-theologischen Sphäre. Dabei hatte im frühneuzeitlichen Aufbruch der Theologe Nikolaus von Kues (1401 bis 1464) die Naturwissenschaften überaus angeregt. Erst später kam – markiert durch das Inquisitionsverfahren gegen Galileo Galilei (1564 bis 1642) – ein klimatischer Rückschlag.

Der Tübinger Biophysiker, Molekular- und Entwicklungsbiologe Alfred Gierer sieht es an der Zeit, einen Schlußpunkt dieser Auseinanderentwicklung zu setzen. Schon 1985 trat er mit dem Buch „Die Physik, das Leben und die Seele“ (besprochen in Spektrum der Wissenschaft, November 1986, Seite 135) vor die Öffentlichkeit. In diesem früheren Werk, welches er im vorliegenden zu Beginn rekapituliert, stellte er seine Ideen zu „Anspruch und Grenzen der Naturwissenschaften“ vor und wandte die von ihm so genannte und formulierte „Finitistische Erkenntnistheorie“ auf die Leib-Seele-Frage an.

Kurz gesagt: Selbst wenn man den physikalischen Inhalt des Gehirns vollständig (soweit es das quantenmechanische Unbestimmtheitsprinzip gestattet) kennen würde, wäre es nicht möglich, seine „Dispositionen“, das heißt Absichten, Tendenzen und Strategien, die sich auf eine offene Zukunft beziehen, zu „dekodieren“, herauszufinden. Denn da-zu sind mehr Operationen nötig, als die Zahl der im Kosmos je existierenden Elementarteilchen erlaubt. Eine Disposition wäre beispielsweise: „Wenn der Winter sehr kalt wird, reise ich in den Süden.“ Interessanterweise liegt besagte Unmöglichkeit weniger am Gehirn als an der Umgebung, bei der mikroskopische Ereignisse, für welche das Unbestimmtheitsprinzip relevant ist, in makroskopische Zustände umschlagen können.

Gierer stellt den finitistischen Ansatz nur recht kurz vor; er müßte wohl noch in Argument und Gegenargument ausführlicher vertreten werden. Geht es wirklich um das Dekodieren und nicht vielmehr um die Konstruierbarkeit des Gehirns als eines gerichtet arbeitenden Systems, und spielt dabei nicht gerade das Ausregulieren von Umweltvarianten eine Rolle?

Der Autor widerspricht einem harten Leib-Seele-Physikalismus: Nicht alles, was formalisierbar ist – wie solche Dispositionen des Gehirns –, ist vom physikalischen Substrat aus nachvollziehbar. Gegen den Anspruch einer vollständigen formalen Theorie der Leib-Seele-Beziehung führt Gierer auch Kurt Gödels Entdeckung der Unentscheidbarkeit an: Innerhalb eines formalen Systems ist der Beweis seiner eigenen Wi-derspruchsfreiheit nicht zu führen. Somit sind in bezug auf die Leib-Seele-Frage die Argumente zu Anspruch und Grenzen der Naturwissenschaft beisammen.

Zu den Erfolgen der Naturwissenschaft gesellt sich – umfassend –, daß die Gesetze der Physik auch bei den komplexesten Phänomenen, wie es biologische oder gar seelische sind, ihre Gültigkeit nicht verlieren und somit die „Einheit der Natur“ gestiftet wird. Gerade die am Leib-Seele-Verhältnis geschilderte unvollständige Ableitbarkeit der Phänomene aus dem physikalischen Substrat markiert aber auch die Grenze dieses Einheitsanspruchs.

Gierers neues Buch ist ein Versuch, die Philosophiegeschichte, mit besonderer Berücksichtigung des Nikolaus von Kues, unter dem Blick des heutigen naturwissenschaftlichen Weltbilds zu sehen. Nach den Wechselbädern von Ansprüchen und Grenzerfahrungen, welche die Naturwissenschaft in diesem Jahrhundert durchlitt, gilt nun nach dem Vorbild von Hase und Igel: Die Philosophie ist längst schon da. Gierer plädiert für eine „naturphilosophische Perspektive“ im Sinne einer Verbindung zwischen der Naturwissenschaft und der Geschichte theoretischen Denkens. So erscheint Naturwissenschaft geradezu als Teil der menschlichen Kulturgeschichte.

Wer die Neuinstallierung einer Naturphilosophie erhoffte, mag enttäuscht sein. Es bleibt beim behutsamen Umgang mit geeignet erscheinenden Ideen der Geistesgeschichte. Ihrer bedient man sich als eines „Spektrums von Deutungsansätzen“ – mit dem Prärogativ der Nachfahrenden zum „kreativen Mißverständnis“. In seiner historischen Skizze spannt Gierer von den ionischen Griechen aus den Bogen des Natur-Denkens in Okzident und (islamischem) Orient.

Warum aber widmet er sich so besonders jenem 1401 in Kues an der Mosel Geborenen, der bis zu seinem Tode neben seiner aufreibenden Kirchenkarriere noch Gelegenheit fand, eine vielseitige theologische Philosophie zu entwickeln? Er wurde Vorausdenker nicht nur der neuzeitlichen Wissenschaften, sondern auch aktueller Anspruchs- und Grenzgedanken – etwa in der Betonung des Kreativen, quasi Eigenschöpferischen im menschlichen Erkennen.

Gierer findet auch die Bedeutung zukunftsträchtig, welche Cusanus in der Mathematik und im Experiment sieht. Beim Experiment kommt schon die prinzipielle Meßunschärfe vor, wie sie die Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelationen viel später genauer definierten. Des Cusaners Gedanken zur Kosmologie nehmen den Naturphilosophen Giordano Bruno (1548 bis 1600) vorweg und wirken modern in ihrer Abstraktheit: Die Welt ist endlich, aber unbegrenzt. Gierer veranschaulicht das mit der Kugeloberfläche, der ebenfalls Mitte und Grenze fehlen. Das – für Nikolaus theologisch bedeutsame – Konzept von Einfaltung und Ausfaltung gemahnt Gierer, mit aller Vorsicht, die er beim Kriechen über „dünnes Eis“ für sich reklamiert, an Strukturmerkmale moderner Naturgesetze: hier das zeitlose Naturgesetz, dort seine Ausfaltung in der Dimension Zeit. Gierer bringt an dieser Stelle das Stichwort der Selbstorganisation. Sogar die finitistische Theorie ist mit den kleinsten Grundbausteinen, die Cusanus postulierte, angedacht: „Die Vielheit aller Dinge fällt unter eine bestimmte Zahl, wenn diese uns auch unbekannt ist.“

So fand Gierer einen Helden wie maßgeschneidert, um eine Reihe der philosophischen Elemente aufzurufen, welche die modernen Naturwissenschaften begleiten. Fachphilosophischen Kriterien entzieht sich der Autor ausdrücklich. Er bleibt der Naturwissenschaftler, der einen solchen Rahmen in wenig ambitiöser Sprache sich zurechtlegt und dazu nach der lässig ausgestreckten Hand der philosophischen Tradition greift. Insgesamt kam ein Buch heraus, das – eher stichwortartig – eine engverstrebte, dichte Einführung zu diesem geschichtlichen und aktuellen Thema bietet, bereichert mit originellen Sichtweisen im Detail.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1993, Seite 119
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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