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Die Gehirnaktivität beim Schachspielen

Mit der Positronen-Emissions-Tomographie konnten Forscher kognitive Prozesse, die bei der Analyse einer Schachstellung ablaufen, separieren und lokalisieren.


"Ich hatte das Schachbrett mit seinen Figuren nach innen projiziert... ich empfand mein Gehirn aufgefrischt und durch die ständige Denkdisziplin sogar noch gleichsam neu geschliffen", ließ Stefan Zweig den eingesperrten Protagonisten seiner "Schachnovelle" (1943) berichten, der einzig im geistigen Duell gegen sich selbst Ablenkung zu finden vermochte. "Ich konnte nur Schach denken, nur in Schachbewegungen, Schachproblemen; manchmal wachte ich mit feuchter Stirn auf und erkannte, daß ich sogar im Schlaf unbewußt weitergespielt haben mußte, und wenn ich von Menschen träumte, so geschah es ausschließlich in den Bewegungen des Läufers, des Turms, im Vor- und Zurück des Rösselsprungs."

Diese in den Wahnsinn abdriftende "geistige Überreizung", die uns der Dichter nachempfindbar machte, indem wiederum sein eigenes Gehirn sie erst als Idee und dann in geschriebenen Wörtern erschuf, wird Wissenschaftlern so niemals zugänglich sein. Doch mit modernen bildgebenden Verfahren, in erster Linie der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und der Kernspin-Tomographie, ist es seit einigen Jahren möglich, im Rahmen kognitionspsychologischer Experimente faszinierende Einblicke in die Funktionsweise der neuronalen Systeme zu erhalten, welche für die höheren Hirnfunktionen verantwortlich sind (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1994, Seite 56). Auf diese Weise kann man dem Gehirn gleichsam beim Denken zusehen.

Wurde aber bislang hauptsächlich die Verarbeitung einzelner Tätigkeiten wie Lesen, Sprechen und Hören oder das Erinnern gelernter Wörter lokalisiert, versucht man mittlerweile auch, das Wechselspiel verschiedener Hirnregionen aufzudecken, die gemeinsam aktiv werden, wenn der Mensch komplexe geistige Tätigkeiten ausführt. Dazu zählt zweifellos das Schachspiel.

Paolo Nichelli, Jordan Grafman und ihre Mitarbeiter am Institut für neurologische Störungen und Schlaganfall der amerikanischen Gesundheitsinstitute in Bethesda (Maryland) haben zu diesem Zweck zehn gesunden rechtshändigen Männern verschiedene Schachstellungen am Computerbildschirm präsentiert und die beim Betrachten und Analysieren ablaufenden Gehirnaktivitäten mit PET untersucht ("Nature", Band 369, Seite 191). Alle Versuchspersonen praktizierten das Spiel seit mindestens vier Jahren und nahmen regelmäßig auch an Turnieren teil.

Mit PET weist man die Gammastrahlung nach, die entsteht, wenn Positronen und Elektronen zusammentreffen und sich dabei gegenseitig vernichten. Die Positronen stammen aus dem Zerfall von Sauerstoff-15-Atomen, die man, in Wassermoleküle eingebaut, den Versuchspersonen kurz vor der Aufgabe injiziert. Hirnregionen mit gesteigerter Aktivität werden stärker durchblutet, so daß auch mehr radioaktiv markiertes Wasser dorthin gelangt und auf den Tomogrammen an den entsprechenden Stellen helle Flecken erzeugt.

Um die hierarchisch gegliederten Hirnfunktionen voneinander unterscheiden zu können, verfolgten Nichelli und Grafman die Strategie, die Komplexität der Aufgaben schrittweise zu steigern und aus Differenzbildern aufeinanderfolgender PET-Aufnahmen zu erschließen, welche Stellen der Großhirnrinde jeweils zusätzlich aktiv wurden.

Bei der ersten Aufgabe ging es lediglich um die Unterscheidung zwischen Schwarz und Weiß; dazu mußten die Versuchspersonen angeben, ob sich eine weiße oder schwarze Figur auf dem Brett befand. Als nächstes kam das Erkennen räumlicher Beziehungen hinzu: Es war festzustellen, welche Farbe jene Figur hatte, die am nächsten bei einer vorgegebenen stand. Die dritte Aufgabe erforderte zusätzlich die Anwendung von Schachregeln – die Probanden sollten etwa beurteilen, ob ein weißer Turm einen schwarzen Springer schlagen könne. Das letzte und komplizierteste Problem schließlich implizierte das gedankliche Durchspielen verschiedener Möglichkeiten. Es galt festzustellen, ob der Spieler einer bestimmten Farbe seinen Gegner im nächsten Zug mattsetzen könne. Verlangt war jeweils eine Ja-Nein-Antwort, die durch das Drücken einer Taste zu geben war.

Tatsächlich zeigte sich, daß bei den einzelnen Aufgaben jeweils verschiedene, klar umgrenzte Hirnregionen aktiv wurden. Solange die Versuchspersonen beispielsweise nur die räumliche Beziehung zwischen mehreren Figuren zu erkennen brauchten, waren ein Bereich an der Grenze von Scheitel- und Hinterhauptlappen beider Hirnhälften, die linke mittlere Schläfenwindung und die obere linke prämotorische Rinde aktiv (links im Bild auf Seite 22).

Dies deckt sich mit den Ergebnissen früherer Untersuchungen, wonach die Verarbeitung komplexer Aspekte visueller Sinneseindrücke auf zwei getrennten Bahnen im Gehirn abläuft. Die eine zieht vom Schläfen- zum Hinterhauptlappen und dient dem Erkennen von Objekten (hier Schachfiguren). Die andere erstreckt sich vom Hinterhaupt- in den Scheitellappen und ist für das Auffinden räumlicher Beziehungen zuständig (hier die Positionen der Figuren). In der prämotorischen Rinde schließlich wird die Bewegungskoordination geplant.

Das Abrufen der Regeln – die nächstschwierigere Aufgabe – erhöhte die Durchblutung an verschiedenen Stellen im linken Schläfenlappen und im Hippocampus (dem Ammonshorn), einer eingerollten Region am unteren inneren Rand des Schläfenlappens, die wesentlich am Speichern und Wiederabrufen von Gedächtnisinhalten mitwirkt (mitten im Bild). Überraschenderweise zeigte sich auch eine kleine aktive Stelle im Kleinhirn, dessen Hauptaufgabe in der Steuerung von Lage und Bewegungen des Körpers besteht. Erst kürzlich hatte man erkannt, daß es außerdem an kognitiven Prozessen beteiligt ist.

Bei der Mattsetzungsaufgabe schließlich zeichnete sich zum einen wiederum der Bereich an der Grenze zwischen Hinterhaupt- und Scheitellappen beider Hemisphären im Tomogramm ab. (}Grafman und seine Kollegen führen dies auf die Bildung mentaler Repräsentationen der vorgestellten Zugsequenzen und das rasche gedankliche Hin- und Herspringen zwischen den verschiedenen Möglichkeiten zurück.

Zum anderen sind aber auch verschiedene Bereiche im Stirnlappen aktiviert. Einer liegt in der motorischen Rinde und dürfte mit den Augenbewegungen zusammenhängen, die beim gedanklichen Durchspielen verschiedener Züge auf dem Brett unwillkürlich auftreten. Aktivitäten in der präfrontalen Rinde führen die Wissenschaftler dagegen darauf zurück, daß diese Hirnregion gewissermaßen der Arbeitsspeicher des Gehirns ist, der als Organisationszentrale das Wissen für die Planung und sequentielle Ausführung der Endspielstrategien zusammenführt und integriert (siehe "Das Arbeitsgedächtnis" von Patricia S. Goldman-Rakic, Spektrum der Wissenschaft, November 1992, Seite 94). Die Funktion dieser Region war lange Zeit unklar, weil ihre Beschädigung keine offensichtlichen neurologischen Ausfälle verursacht.

Die PET-Studie hat gezeigt, daß komplexe mentale Leistungen durch das Zusammenwirken funktional unterscheidbarer, hierarchisch gegliederter Gehirnaktivitäten zustande kommen, die als modulartige Funktionseinheiten jeweils einfachere Teilaufgaben bearbeiten. Als nächstes wollen Grafman und seine Kollegen erforschen, was im Gehirn passiert, wenn Menschen die Moral einer Geschichte herausfinden.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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