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Die Geschichte der Ingenieurbaukunst aus dem Geist des Humanismus

Deutsche Verlags-Anstalt,
Stuttgart 1996.
248 Seiten, DM 158,-.

Paulgerd Jesberg, Architekt, Journalist und Lehrbeauftragter für Architekturtheorie an der Fachhochschule Wiesbaden, hat dieses Buch "aus dem Geist des Humanismus" geschrieben. Dessen Potential will er mit seinem Gang durch die Geschichte dem Ingenieurbau eröffnen.

Nach einem kurzen Rückblick auf antike und mittelalterliche Vorbilder zeichnet er die Entwicklung der Ingenieurbaukunst chronologisch vom Florenz des 14. Jahrhunderts bis in die Gegenwart nach. Die wichtigsten Kapitel sind überschrieben mit "Bauen aus Humanismus", "Das architektonische Repertoire des Bauingenieurs" und "Ansätze zu einem neuen Humanismus im Bauen". Sie sind gedanklich auf das bauliche Konstruieren der Neuzeit ausgerichtet und sachlich gestützt auf Quellen, wie sie im deutschen Sprachraum rezipiert werden.

Was Jesberg mit Ingenieurbaukunst bezeichnet läßt sich am besten aus den zahlreichen Bildern herauslesen: Tragwerke können die Raumgestalt bestimmen; Pfeiler, Bögen, Kuppeln und Fachwerke haben also nicht nur statische, sondern auch ästhetische Funktionen. Im Text macht Jesberg dies deutlich mit dem Wladislaw-Saal in der Prager Burg von Benedikt Ried (um 1454 bis 1534) und mit dem Wendelstein der Burg zu Meißen von Meister Arnold von Westfalen (gestorben 1480). Als weitere Beispiele nennt er jene Bautypen wie Gewächshäuser, Passagen und Kaufhäuser, Bahnhöfe und Industrieanlagen, die sich im 19. Jahrhundert aufgrund neuer Aufgaben entwickelt haben. Im Rückblick sieht er eine Ingenieurbaukunst folgerichtig selbst in den Kathedralen der Gotik.

Das Wort Ingenieurbau hat bei ihm je nach Epoche verschiedene Bedeutungen. In bezug auf den Späthumanismus meint es eine Gesamtheit der mechanischen Künste, aus der "sich der Maschinenbau spezialisierend verabschiedet", anschließend das fortschrittliche Bauen infolge neuzeitlicher Verwissenschaftlichung im Gegensatz zum allgemeinen, auf Tradition beruhenden Bauhandwerk. Schließlich verwendet Jesberg den Begriff im heutigen Sinne, der technische Leistungen an Gebäuden sowie technische Einzelbauwerke und ganze Teile städtischer Infrastruktur umfaßt, aber auch das Management von Bauvorhaben.

Ebenso unterschiedlich verwendet der Autor, beraten von Günther Böhme, Professor für Pädagogik, Bildungsgeschichte und Bildungsphilosophie in Frankfurt am Main, das Wort Humanismus: sowohl für jene Epoche der europäischen Geistesgeschichte, die auf die Antike zurückgreifend der Renaissance und der Reformation vorausging, als auch für ein Bildungsprogramm, eine Erkenntnistheorie oder eine geistige Haltung ganz allgemein, wobei nicht immer offensichtlich ist, was im Einzelfall gemeint ist; gleiches gilt für die Begriffe human und humanistisch.

Die breite Fassung der Schlüsselbegriffe erschwert die Lektüre trotz des zweifellos spannenden Themas. In den beiden als Meisterwerke der Ingenieurbaukunst genannten Beispielen zu Prag und zu Meißen sieht der Autor Aufgaben des Bauingenieurs, des Baumeisters oder des Zimmermanns, doch ohne Hinweis auf die damaligen Organisationsformen des Bauwesens. In beiden Werken seien es "hohe, lebendig gestaltete und lichterfüllte Räume", die ein Lebens- und Wohngefühl schaffen, das der Geisteshaltung des deutschen Späthumanismus entspreche. Wer aber diesen Effekt erzielt hat, bleibt für jenen Leser fraglich, der nicht bereit ist, ihn pauschal dem Humanismus zuzuschreiben. Es könnten die Meister und ihre Gesellen gewesen sein, aber auch die fürstlichen Bauherren und ihre weltgewandten Berater oder gar spätere Betrachter, die ihn nachträglich erst als solchen entdeckten.

"Handelt humanistisch, dann wird die technisch veränderte Welt von heute wieder besser werden!" So könnte das Credo des Buches lauten. Doch welcher Humanismus ist damit gemeint, wenn bereits die gotische Kathedrale als dessen "klassische Vollendung" erscheint? Welchen Einfluß hatte welcher Humanismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die neuartigen Hallenbauten, wenn er sich damals "auf bürgerliche Bildungsebenen" zurückzog? Die mit Stahl und Glas überdachten Passagen sind zwar laut Jesberg von Geisteshaltung und Lebenseinstellung des Humanismus inspiriert, doch gleichzeitig "eine Erfindung der Spekulanten in den Großstädten", die das Geschäft steigern, "da der Einkauf zum besonderen Erlebnis wird".

Wenn sich später im Bauen mit Beton die Grenzen zwischen Architektur und Ingenieurbau verwischen und daraus eine neue Freiheit im Bauen erwächst, so ermöglicht dies schöpferische Individualität und erfordert erhöhtes Verantwortungsbewußtsein. Dieser Zusammenhang läßt sich an den aufgeführten Biographien von Architekten und Ingenieuren wie François Hennebique (1842 bis 1921), Eduard Züblin (1850 bis 1916), Robert Maillart (1872 bis 1940), Emil Mörsch (1872 bis 1950), Eugène Freyssinet (1879 bis 1962), Pier Luigi Nervi (1891 bis 1979) und Le Corbusier (1887 bis 1965) nachvollziehen. Dürfen aber so verschiedene Konstrukteure auf einen "dritten Humanismus" zurückgeführt werden, der zum Reservoir für Eliten werden sollte, nachdem alternative Humanismen versagt hatten? Welche Antworten ergeben sich aus der ursprünglich anthropozentrischen Ausrichtung auf die ökologischen Fragen von heute?

Der Autor erinnert die Bauingenieure daran, daß sie mit ihren Tragwerken Räume gestalten können. Als theoretische Ergänzung der beruflichen Erfahrung genügt es jedoch, außer der Festigkeitslehre auch Ansätze der Wahrnehmungstheorie zu berücksichtigen. Ob und weshalb die Bauingenieure sich dazu auf Humanismus – welchen auch immer – einlassen müssen, ist nicht einleuchtend dargestellt. Eine Diskussion von Humanismus als mögliche Lebensform für die Gegenwart fehlt. Zu Beginn wird er als Quelle der Erkenntnis angeführt, doch am Ende werden die Bauingenieure zu Hilfe gerufen: Sie werden ausdrücklich aufgefordert, den Humanismus mit ingeniöser Tätigkeit zu erneuern und zu erweitern.

Das Buch ist eine Anregung, technisches Denken und Handeln mit verschiedenen geistigen Strömungen wie Liberalismus, Sozialismus und Materialismus in Beziehung zu setzen und die Ergebnisse auf das Bauingenieurwesen bezogen zu vergleichen. Unter den möglichen Standpunkten eignet sich dazu besonders jener der Ingenieurwissenschaft.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1996, Seite 122
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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