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Anatomie: Die Hand – Geniestreich der Evolution.

Ihr Einfluss auf Gehirn, Sprache und Kultur des Menschen. Klett-Cotta, Stuttgart 2000. 416 Seiten, DM 48,–.


Frank R. Wilson ist Neurologe und war medizinischer Direktor des Peter F. Ostwald Health Program for Performing Artists an der medizinischen Fakultät der Universität von Kalifornien in San Francisco. Er befasst sich vorrangig mit berufsbedingten Krankheiten professioneller Musiker, und da gerade diese entscheidend auf die virtuose Kontrolle ihrer Hände angewiesen sind, wundert es nicht, dass Wilson die Hand zum Gegenstand eines über 400 Seiten starken Buches macht.

Dabei entpuppt er sich als obsessiver Sammler. Aus den unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen, in denen der Handgebrauch eine wichtige Rolle spielt, hat er Material zusammengetragen. Von der Kunst des Puppenspiels ist die Rede und von euphorisierten Autofreaks, die nichts anderes zu tun haben, als ihre Hochgeschwindigkeitsgeschosse zusammenzuschrauben. Wilson lässt sich über heilende Hände in der Feldenkrais-Therapie aus, über Quintino Marucci alias Slydini, den König der Taschenspieler, oder über einen Maître de cuisine, der in San Francisco die Gaumen seiner Kundschaft mit mexikanischen Köstlichkeiten verzaubert.

In diesen flüssig geschriebenen Geschichten erstöbert der Interessierte allerorten wissenswerte Informationen. Nur beim Zusammendenken dieser Exkursionen geht einem der Autor nicht sehr hilfreich zur Hand. So ähnelt die Lektüre des Buches dem Lustwandeln in einem halbverwilderten Garten, wo es immer wieder Plätze gibt, die zum Verweilen einladen. Eine übergeordnete Struktur jedoch, die diese Plätze von einer höheren Warte zu einem organischen Ganzen zusammenbindet, ist, wenn überhaupt, nur mit großer Mühe auszumachen.

Immerhin beschreibt Wilson zunächst eingehend, fundiert und gleichwohl kurzweilig die Anatomie der Hand. Dabei macht er deutlich, dass auch scheinbar belanglose Änderungen der Anatomie erhebliche funktionelle Konsequenzen nach sich ziehen können. Auf den ersten Blick sehen die Hände der Menschenaffen den unseren ziemlich ähnlich. Trotzdem können beispielsweise Schimpansen weder gezielt werfen noch geschickt mit einer Nähnadel hantieren. Warum? Wilson beschreibt anschaulich, wie kleine Veränderungen der Handwurzelknochen oder der Länge und Rotationsfähigkeit des Daumens neue Greifformen möglich machten, darunter sehr variable Präzisionsgriffe, durch welche wir bestimmte Werkzeuge erst gebrauchen können. Ebenfalls sehr wichtig ist die Fähigkeit, zum Beispiel Stöcke in direkter Verlängerung des Armes sicher zu führen. Dadurch erreicht man beim Schlagen ein wesentlich höheres Drehmoment und beim Werfen eine höhere Zielgenauigkeit, beides nicht unerhebliche Vorteile im evolutionären Daseinskampf.

An dieser Stelle hätte man nun gerade von einem Neurologen erwartet, dass er auf die Besonderheiten von Wurfbewegungen eingeht, die auf ausgesprochen elaborierte neuronale Steuerungsmechanismen angewiesen sind. Werfen ist deshalb ein so komplexer Vorgang, weil er im Moment der Ausführung nicht mehr korrigiert werden kann. Versucht man es trotzdem, misslingt die Aktion, wie jeder Sportler weiß, der etwa beim Torschuss oder Schmetterball bewusst in das motorische Programm eingreift und dann zu viel Zeit zum Nachdenken verbraucht.

Somit muss das Gehirn bei ballistischen Bewegungen mit unerhörter Präzision die gesamte Folge auszuführender Bewegungen im Voraus berechnet haben. Glaubt man nun dem bekannten Neurophysiologen William Calvin, dann ist gerade das Erzeugen von Folgen, von Handlungsketten, eine sehr wichtige menschliche Eigenschaft. Auch die gesprochene Sprache besteht aus vorab zurechtgelegten Handlungsketten. Es ist somit zumindest einigermaßen plausibel zu vermuten, dass im Kontext des frühmenschlichen Handgebrauchs neuronale Strukturen entstanden, die später auch in anderen Zusammenhängen verwendet werden konnten.

Obwohl Wilson fortlaufend deklamiert, dass die Hand für die Entstehung der Sprache unabdingbar war, wird diese These argumentativ nicht so recht unterfüttert, und der wissbegierige Leser wartet vergeblich darauf, in die vernetzte Beziehung von Hand und Hirn eingeführt zu werden. Wenn sich der Autor zu diesem Thema dann doch einmal äußert, versteckt er seine Ausführungen in einem Wust von Anmerkungen. Ist die komplexe Wechselbeziehung von Hand und Hirn im amerikanischen Original der Schere des Lektorats zum Opfer gefallen, das den Leser zeitgeistgerecht vor schwerer verdauli-cher Kost bewahren wollte, um ihm statt dessen lieber mit Häppchen den Mund wässrig zu machen?

Wie dem auch sei: Das Buch zerfällt in zwei Teile. Einerseits eine detaillierte und trotzdem unterhaltsame Analyse der Anatomie, die einer stringenten Linie folgt. In diesem Zusammenhang sind die eingeflochtenen Anekdoten durchaus belebend. Dann aber zerfasert das Buch in viele Seitenverzweigungen, die keine rechte Orientierung mehr erkennen lassen. In diesem Teil bleibt es dem Leser selbst überlassen, die dargebotenen Informationen schlüssig zusammenzudenken.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2000, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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