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Die Herrschaft der Regel. Zur Grundlagengeschichte des Computers


Was ist Wahrheit? Genauer, was ist Wahrheit in bezug auf mathematische Aussagen? In welchem Sinne ist der Satz des Pythagoras ("Bei jedem rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Flächeninhalte der beiden über den Katheten errichteten Quadrate gleich dem Flächeninhalt des über der Hypotenuse errichteten Quadrats") wahr? Und was bedeutet Existenz? Gibt es überhaupt Dreiecke? Und wenn ja, in welchem Sinne existieren Dreiecke? Existiert ein Dreieck in demselben Sinne wie etwa ein Tisch? Ein Dreieck ist ja kein Gegenstand der sinnfälligen Welt. Man kann keines zeichnen – die Seiten wären zum Beispiel stets zu dick.

Bis zum letzten Jahrhundert schien klar zu sein, daß man die Eigenschaften der mathematischen Objekte dem Inhalt der entsprechenden Begriffe zu entnehmen habe, dem, worauf diese deuten. Zum Begriff einer Geraden gehörte wie selbstverständlich, daß sie unendlich lang und unendlich dünn war. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aber wurde diese Auffassung aus vielerlei Gründen problematisch und führte zur sogenannten Grundlagenkrise der Mathematik. In deren Verlauf setzte sich schließlich die formalistische Auffassung durch: Mathematik sei reduzierbar auf einen rein formalen Prozeß, der im wesentlichen darin bestehe, Zeichenketten Schritt für Schritt nach wohldefinierten Regeln umzuformen, ohne dabei Bezug auf irgendeine Bedeutung dieser Zeichenketten zu nehmen.

Damit war die Mathematik gewissermaßen sinnentleert und zu einem reinen Spiel mit Zeichen auf Papier geworden. Ein solches Spiel kann aber, wie der britische Mathematiker Alan Turing (1912 bis 1954) dann in den dreißiger Jahren gezeigt hat, ebensogut auf einer Maschine ablaufen. Und was Turing vorausgedacht hatte, wurde dann in den vierziger Jahren tatsächlich realisiert – es entstand der Computer.

Bettina Heintz ist Soziologin, und das vorliegende Buch ist ihre Dissertation. Darin zeichnet sie die skizzierte Entwicklung im Detail nach und beleuchtet die Ereignisse aus der Sicht der Soziologie. Ihr Stil ist erfrischend, ihre Darstellung kenntnisreich und umfassend. Obwohl die Autorin keine Mathematikerin ist und das Buch zwar von Mathematik handelt, aber keine eigentliche Mathematik enthält, gelingt ihr eine auch für Mathematiker interessante Darstellung. Ob Nichtmathematiker die tiefe Bedeutung dessen erfassen können, worauf sie mit wenigen Worten hindeutet, und die Tragik, die nach meiner Ansicht im Gang der weiteren Entwicklung nach der scheinbaren Beilegung der Grundlagenkrise liegt, bleibe dahingestellt.

Im Zentrum der Auseinandersetzung steht der Zusammenhang zwischen Rationalisierung, Mathematik und Mechanisierung. Der erste Teil des Buches handelt von den innermathematischen Entwicklungen im ersten Drittel dieses Jahrhunderts und schildert, wie schließlich der Göttinger Mathematiker David Hilbert (1862 bis 1943) den formalistischen Standpunkt durchsetzte, der dann von Turing zu Ende gedacht wurde: Formalisierung und Mechanisierung sind bedeutungsäquivalente Prozesse.

Der zweite Teil handelt von der Beziehung zwischen Mathematik und Gesellschaft. War die mathematische Entwicklung allein bestimmt durch in der Sache liegende Gründe, oder war sie auch beeinflußt von dem sozialen Kontext, in dem die Auseinandersetzungen stattgefunden hatten? Bettina Heintz versucht zu zeigen, daß das mathematische Denken von Hilbert, Turing und ihren Kollegen auch von jenen Entwicklungen mitbestimmt war, die man in der Soziologie zu dieser Zeit unter dem Begriff Rationalisierung diskutierte, und stellt die Grundlagendebatte in den Kontext der damaligen Modernisierungskrise. (Mit diesem Terminus bündelt die Soziologie verschiedene Entwicklungen und ihre krisenhafte Zuspitzung, deren wesentliches Merkmal die Zergliederung in Einzelaspekte ist – in der Technik realisiert durch die Fließbandfertigung.)

Der dritte Teil des Buches befaßt sich mit der Geschichte der Erfindung des Computers und den Folgen dieser Erfindung. Es geht der Autorin darum zu zeigen, daß Turing mit seiner konzeptuellen Entkopplung von Hard- und Software, von gerätetetechnicher Apparatur und Algorithmus, eine theoretische Grundlage für die Entwicklung eines soziologischen Maschinenbegriffs bereitgestellt hat: Gegenstand der Techniksoziologie sind dann nicht Werkzeuge, Geräte und so weiter, sondern algorithmische Prozesse, realisiert in dem einen Fall durch Menschen, in dem anderen durch Maschinen.

Ein abschließendes Kapitel ist einer Diskussion der Grundannahmen und der Entwicklung der sogenannten künstlichen Intelligenz gewidmet. Nach einer gerafften Darstellung der Positionen der Befürworter und Gegner maschineller Intelligenz kommt die Autorin zu folgender Position: "Computer sind nicht überall einsetzbar, sondern nur dort, wo sich Menschen in ihrem Verhalten an klare Regeln halten", also in stark rationalisierten Handlungsbereichen. "Der Einsatz von Computern... setzt jenen historischen Wandlungsprozeß voraus, der ihn... erst denkbar gemacht hat. Die Computerisierung ist (also) nicht der Anfang, sondern der vorläufige Endpunkt einer Entwicklung, die viel früher begonnen und... dazu geführt hat, daß Menschen sich... regelhaft – maschinenähnlich – zu verhalten hatten... Ohne die tiefgreifende Umstrukturierung von Handlungsfeldern unter der Maxime der Regelhaftigkeit und Berechenbarkeit wäre nicht ein breites Spektrum menschlichen Handelns so weit normiert worden, daß seine maschinelle Imitation problemlos möglich wurde. Oder anders formuliert: Nur weil menschliches Handeln unter bestimmten Bedingungen tatsächlich mechanischen Charakter hat, konnten überhaupt Maschinen entwickelt werden, die den Anschein machen, intelligent zu sein."

Das Buch ist allen zu empfehlen, die sich dafür interessieren, wie es zur Erfindung des Computers kam, ja, wie es aus den gesellschaftlichen Entwicklungen heraus dazu kommen mußte. Es eröffnet eine Sicht auf den Computer als materielle Konkretisierung von Denk- und Handlungsgewohnheiten, die sich lange vor seiner Erfindung herausgebildet und gefestigt hatten.

Es sei noch angemerkt: Das eingangs geschilderte Rätsel der (mathematischen) Existenz und Wahrheit hat mit dem scheinbaren Sieg des Formalismus nicht seine Lösung gefunden; vielmehr ist dieser nur zu einer bequemen Rückzugsposition geworden, so daß die meisten Mathematiker heute wohl das Rätsel nicht mehr als brennende Frage erleben. Aber: Kaum einer der praktisch tätigen Mathematiker wird seine Tätigkeit als eine bloß formale sehen. So käme er nie auf neue Ideen. Die mathematische Intuition ist eben doch an einen Inhalt gebunden, der sich an die Symbole knüpft. Worin aber besteht dieser Inhalt?



Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1994, Seite 142
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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