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Die kommenden Plagen. Neue Krankheiten in einer gefährdeten Welt

Aus dem Amerikanischen
von Tatjana Kruse.
S. Fischer, Frankfurt am Main 1996.
1020 Seiten, DM 68,-.

Noch nie war die Medizin – mit Wissen und mit Bekämpfungsmitteln – gegen die Mikroorganismen so wohlgerüstet wie heute. Aber noch nie, so scheint es, haben Viren, Bakterien und Parasiten an so vielen Fronten gleichzeitig angegriffen wie jetzt.

Allein im ersten Halbjahr 1996 hat das amerikanische Center for Disease Control in Atlanta (Georgia) 14 kleinere und größere Epidemien registriert: von mitunter tödlichen Lebensmittelvergiftungen durch eine neue Variante des Darmbakteriums Escherichia coli über vancomycin-resistente Mageninfektionen durch Enterokokken in New Yorker Krankenhäusern bis zu Lungenentzündungen durch eine neue Art des Hantavirus.

Was sind die Ursachen dieser offensichtlichen Diskrepanz zwischen theoretischen Kenntnissen und praktischer Hilflosigkeit? Antwort gibt das vorliegende Mammutwerk; sein Inhaltsverzeichnis gleicht einem Vademecum aller derzeit bedeutenden Infektionskrankheiten. Die Autorin Laurie Garrett hat Biochemie an der Universität von Kalifornien in Berkeley studiert und sich in den USA seit vielen Jahren einen Namen als engagierte und ambitionierte Wissenschaftsjournalistin gemacht.

Dies ist kein Buch für den Nachttisch oder die Mittagspause. Es verlangt dem Leser viel ab, vermittelt eine Unmenge Fakten, gibt Denkanstöße und ist in letzter Konsequenz ein dramatischer Appell an die Menschheit, krankheitsauslösende Mikroorganismen als Bestandteile des gesamten Ökosystems zu betrachten.

Es ist immer eine Kombination von Faktoren, die Krankheitserreger veranlassen, sich neue Lebensräume zu suchen; aber auch unser eigenes Verhalten begünstigt Epidemien. "Neuerlich auftretende Krankheiten in einer aus dem Gleichgewicht geratenen Welt" wäre der Untertitel der amerikanischen Originalausgabe zu übersetzen. Diese Botschaft zieht sich wie ein roter Faden durch jene 15 Kapitel des Buches, die sich mit einzelnen Krankheitserregern beschäftigen. Je weniger wir von ihnen wissen und je komplexer sie in das Ökosystem eingebunden sind, desto größer ist das Risiko, daß die Menschen von einer neuen Seuche oder von einem Ausbruch eines bekannten, aber bewältigt geglaubten Erregers überrascht werden.

Ein Musterbeispiel dafür ist die Rückkehr der Cholera nach Südamerika, das rund 100 Jahre frei von der Seuche war. Eingeschleppt hatte die Erreger 1991 ein chinesischer Frachter, der an der peruanischen Küste seine Ballasttanks leerte. Wegen des im diesem Jahr besonders heftigen El Niño war die Wassertemperatur ungewöhnlich hoch, so daß sich Vibrio cholerae in Kleinkrebsen und Muscheln vermehren konnte – eine ökologische Nische, von der die Bakteriologen bis dahin nichts wußten. Da rohe Meeresfrüchte in Peru als kulinarische Köstlichkeit (ceviche) gelten, gelangten die Erreger aus den Küstengewässern direkt auf den Tisch der Einwohner Limas. Nach den ersten Erkrankungen häuften sich rasch die Cholerafälle in der Hauptstadt aufgrund mangelhafter Abwasserbeseitigung und der desolaten Trinkwasserversorgung.

Innerhalb weniger Wochen konnte die Epidemie auf das Umland und die anderen Andenstaaten übergreifen. Denn zum einen erhöht der verbreitete Genuß von Cocablättern das Erkrankungsrisiko: Der zur Freisetzung des Cocains mitgekaute Kalk neutralisiert die Magensäure, was wiederum die Infektion mit Vibrionen begünstigt; zum anderen sind die Bewohner der Andenländer häufig genetisch gerade für eine solche Infektion prädisponiert.

Nach 400000 Erkrankungen im ersten Seuchenjahr hat sich die Situation etwas stabilisiert. Doch wirklich cholerafrei wird der südamerikanische Kontinent auf absehbare Zeit wohl nicht mehr.

Wer Vibrio cholerae und andere exotische Erreger für ein auf arme Länder beschränktes Problem hält, wird von Laurie Garrett mit an Besessenheit grenzender Akribie eines anderen belehrt. Von AIDS bis zur Zystizerkose (dem Befall mit Larven des Schweinebandwurms), von Geschlechtskrankheiten bis zur Hirnhautentzündung, von tropischen Virosen und Tuberkulose bis zu Krankheiten, die durch den Gebrauch von Vaginaltampons verursacht oder durch eine Organtransplantation übertragen werden – das globale Infektionspotential ist erschreckend.

Drei Klassen von Krankheiten werden nach Meinung der Autorin in den kommenden Jahren für die industralisierte wie auch für die Dritte Welt die entscheidenden Plagen sein: die große Gruppe von Geschlechtskrankheiten, die Tuberkulose und AIDS. Deren Erörterung nimmt dementsprechend etwa ein Viertel des gesamten Textes ein. Es spricht für die Autorin, daß sie auch hier zutreffend und systematisch die sozialen und politischen Hintergründe der dramatischen Zunahme dieser Kankheiten in den letzten Jahrzehnten aufzeigt. Die gesundheitlichen Folgen der Verslumung unserer Großstädte, die Unfähigkeit der Politiker der Dritten Welt, selbst minimale Gesundheitsbedürfnisse ihrer Bevölkerung zu befriedigen, wirtschaftliche Globalisierung und die Mobilität der Menschen behandelt Laurie Garrett genauso umfassend wie die molekularen Mechanismen der Resistenzentwicklung von Bakterien.

Mit 856 Textseiten sowie einem Anhang, der mehr als 1800 Fußnoten und Literaturzitaten, dazu ein detailliertes Stichwortverzeichnis enthält, liegt hier ein enzyklopädisches Werk vor, ein Katalog von Zustandsanalysen und Zukunftsaussichten, wie er bislang weder als Fach- noch als populärwissenschaftliches Sachbuch existierte.

Die zentrale Botschaft ist: Nur wenn die Menschen das äußerst facettenreiche Ökosystem unseres Planeten zu verstehen und zu schätzen lernen, werden sie auch irgendwann begreifen, wie politische, wirtschaftliche und soziale Aktionen auf der Makroebene die immens vielfältige Welt der Mikroorganismen beeinflussen.

"Die Natur ist nicht gütig", erklärte der amerikanische Nobelpreisträger Joshua Lederberg vor einigen Jahren auf einem infektionsmedizinischen Kongreß, "das Überleben der menschlichen Spezies ist kein vorherbestimmtes evolutionäres Programm." Diese unerfreuliche Wahrheit formuliert Laurie Garrett am Ende des letzten Kapitels in der für sie charakteristischen Schreibweise:

"Der Umfang der Homo-sapiens-Population nimmt zu und wird zur Jahrtausendwende die Sechs-Milliarden-Grenze überschreiten... Wenn – wie einige es prognostiziert haben – 100 Millionen Menschen dieser Population mit HIV infiziert sein werden, verfügen die Mikroben über einen enormen Pool an immunschwachen Petrischalen auf zwei Beinen, in denen sie blühen und gedeihen, Gene tauschen und sich endlosen evolutionären Experimenten unterziehen können."

Was bleibt am Ende einer überaus fesselnden und nachdenklich stimmenden Lektüre zu kritisieren? Vorwiegend Formales. Die Autorin läßt sich in ihrer Detailversessenheit häufig vom Thema ablenken, was das Lesen beschwerlich macht. Man vermißt einen kritischen Lektor, der Wesentliches von Unwesentlichem getrennt und die Überfülle an Wissensstoff auf ein überschaubares Maß reduziert hätte. Wie häufig bei enzyklopädischen Ansprüchen schleichen sich zudem bei Randthemen Ungenauigkeiten oder sogar Fehler ein. So ist die Beschreibung parasitärer Tropenkrankheiten, beispielsweise der Bilharziose, zum Teil blanker Unsinn. Und auch der deutsche Verlag muß sich die Kritik gefallen lassen, daß die Übersetzerin offensichtlich bei weitem überfordert war und allein gelassen wurde. So sind Fachtermini falsch übersetzt und ganze Abschnitte durch unzureichende Kenntnis infektionsmedizinischer Zusammenhänge nahezu unverständlich. Wie immer auch der Kostendruck bei der Übersetzung eines solchen Mammutwerkes ist, der fachkundige Leser wendet sich bei solcher Schlamperei mit Grausen und greift lieber auf das amerikanische Original zurück.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1996, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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