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Die Lösung des Fermatschen Rätsels

Die berühmteste Beweisaufgabe des französischen Juristen und Amateurmathematikers Pierre de Fermat hielt mehr als drei Jahrhunderte lang den Bemühungen der größten Geister stand. Erst vor wenigen Jahren hat Andrew Wiles das Problem endgültig erledigt.

Im Juni vergangenen Jahres versammelten sich ungefähr 1000 Gelehrte aller Fachrichtungen in der Aula der Göttinger Universität, um mitzuerleben, wie Andrew J. Wiles (Bild 2) von der Universität Princeton (New Jersey) den Wolfskehl-Preis entgegennahm (Spektrum der Wissenschaft, August 1997, Seite 113). Diese Auszeichnung war 1907 für denjenigen ausgelobt worden, der als erster Pierre de Fermats berühmtesten Satz beweisen würde. Dotiert war sie mit einer Summe, die ursprünglich eine Kaufkraft von etwa drei Millionen Mark nach heutigem Geldwert hatte. Durch staatlich erzwungene Kriegsanleihen im Ersten und die Währungsreform nach dem Zweiten Weltkrieg waren 1948 nur noch 7500 Mark übrigge-blieben. In den 49 Jahren seither ist der Fonds durch Zins und Zinseszins wieder angewachsen, so daß im Sommer 1997 immerhin 75000 DM zu vergeben waren.

Aber das Entscheidende war etwas anderes: Für Wiles war ein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen und ein Jahrzehnt intensiver Bemühung erfolgreich abgeschlossen. Die in Göttingen versammelten Wissenschaftler applaudierten ihm auch, weil sein Beweis der Mathematik neue, revolutionäre Wege eröffnet.

Für seine Argumentation, die in der fachüblichen wortkargen Ausdrucksweise immerhin 130 Druckseiten umfaßt, mußte Wiles nämlich viele moderne Ideen seiner Disziplin aufgreifen und weiterentwickeln. Insbesondere war die in diesem Jahrhundert aufgestellte visionäre Vermutung der Japaner Goro Shimura und Yutaka Taniyama in Angriff zu nehmen, die einen Zusammenhang von algebraischer Geometrie und komplexer Analysis behauptet. Indem Wiles sie – teilweise – bewies, baute er eine Brücke zwischen diesen großen Gebieten. Von nun an werden Erkenntnisse in dem einen zugleich für das andere fruchtbar werden, und weiter voneinander entfernte mathematische Arbeitsfelder werden einander ebenfalls näherkommen.


Der Fürst der Amateure

Das Geburtenregister von Beaumont-de-Lomagne, einer kleinen Stadt in der Gascogne im Südwesten Frankreichs, verzeichnet unter dem 20. August 1601 die Geburt eines Pierre de Fermat. Höchstwahrscheinlich handelt es sich jedoch nicht um den Autor der widerborstigen Vermutung, denn dieser starb – wie sein Sohn Clément-Samuel schrieb – am 12. Januar 1665 in Castres im Alter von 57 Jahren. Es ist anzunehmen, daß der 1601 geborene Pierre nicht lange lebte und die Eltern seinem sechs Jahre später geborenen Bruder denselben Namen gaben. Das war bei der damals hohen Kindersterblichkeit durchaus üblich. Gewißheit ist nicht zu erlangen, denn die Kirchenbücher der Stadt für die Jahre 1607 bis 1611 sind verlorengegangen. Der historische Pierre de Fermat (Bild 1) jedenfalls wurde Jurist und machte Karriere als königlicher Magistrat am lokalen Parlament in Toulouse und als Friedensrichter an der Chambre de l'Édit de Nantes in Castres; diese Kammer war nach dem Edikt von Nantes, das 1598 den Hugenotten Religionsfreiheit zusicherte, eigens zur Schlichtung konfessioneller Streitigkeiten eingerichtet worden. Seine spärliche Freizeit widmete er seiner Leidenschaft, der Mathematik. Obwohl er sie nur nebenher betrieb, leistete er wesentliche Vorarbeiten für die Wahrscheinlichkeitstheorie sowie die Differential- und Integralrechnung. Isaac Newton (1643 bis 1727), einer der Begründer der modernen Analysis, bekannte, sein Werk basiere auf "Monsieur Fermats Methode des Tangenten-Zeichnens". Vor allem aber war Fermat ein Meister der Zahlentheorie, des Studiums der ganzen Zahlen und ihrer Beziehungen untereinander. Häufig schrieb er anderen Mathematikern über seine Ergebnisse und forderte sie zu geistigem Wettstreit auf. Dies und die Eigenheit, eigene Beweisführungen fast nie preiszugeben, erregten erheblichen Unmut. René Descartes (1596 bis 1650), Erfinder und Namensgeber der (kartesischen) Koordinatengeometrie, nannte Fermat einen "Gascogner" (diese – sachlich zutreffende – Bezeichnung ist im Französischen zugleich ein Schimpfwort mit der Bedeutung Prahlhans oder Aufschneider). Und der Engländer John Wallis (1616 bis 1703), einer der Pioniere der Infinitesimalrechnung, bezeichnete ihn einmal als "diesen verdammten Franzosen". Seine größte Herausforderung aber hat Fermat vermutlich gar nicht unter Fachkollegen verbreitet. Er schrieb sie nieder, als er um 1637 die "Arithmetika" des Diophantos von Alexandria (um 250 nach Christus) studierte, und zwar an der Stelle, wo positive rationale Lösungen der Gleichung a2+b2=c2 diskutiert werden. Diese Beziehung gilt nach dem Satz des Pythagoras für die Seiten a, b und c eines rechtwinkligen Dreiecks. Sie hat ganzzahlige Lösungen wie a=3, b=4, c=5 oder a=5, b=12, c=13. Es gibt unendlich viele solcher pythagoreischen Tripel. Fermat aber verallgemeinerte die Formel und betrachtete die ganze Familie der Gleichungen an+bn=cn, wobei n eine beliebige natürliche Zahl größer als 2 bezeichnet, und behauptete, daß keine dieser Gleichungen Lösungen in positiven ganzen (oder rationalen) Zahlen a, b, c habe. Nun erscheint es schon als höchst merkwürdig, daß es keine Fermat-Tripel (das heißt Lösungen a, b, c der Gleichung an+bn=cn) geben soll, wenn es doch unendlich viele pythagoreische Tripel gibt. Nicht nur das, Fermat glaubte, er könne seine Behauptung beweisen. Im Rückblick erscheint es als Boshaftigkeit eines Genies, daß er auf dem Rand dieser Seite der "Arithmetika" nur die sprichwörtlich gewordene Bemerkung notierte: "Für diese Behauptung habe ich einen wahrhaft wunderbaren Beweis gefunden, aber dieser Rand ist zu schmal, ihn zu fassen." Fermat schrieb mehrfach derartige Bemerkungen nieder, und nach seinem Tode veröffentlichte sein Sohn eine Ausgabe der "Arithmetika" mitsamt den Randnotizen. In der Folge wurden alle diese Behauptungen bewiesen, bis auf die eine, die daraufhin als "Fermats letzter Satz" berüchtigt wurde (es handelt sich also keineswegs um den letzten mathematischen Satz seines Lebens). Zahlreiche Forscher versuchten sich vergeblich daran, auch Leonhard Euler (1707 bis 1783), der größte Mathematiker des 18. Jahrhunderts (Bild 3). Sein Mißerfolg ließ ihm keine Ruhe, so daß er einen Freund bat, im Hause der Familie Fermat nachzuforschen, ob nicht vielleicht doch ein Stück Papier entscheidenden Inhalts erhalten geblieben sei. Für den Fall n=4 findet sich ein Beweis von Fermat selbst als Randbemerkung an anderer Stelle der "Arithmetika". Euler fand zwei Beweise für den Fall n=3. Im 19. Jahrhundert erzielte Sophie Germain (1776 bis 1831; Bild 4) – die wegen der Vorurteile gegen Mathematikerinnen unter dem Pseudonym Monsieur Leblanc korrespondierte – den ersten Durchbruch (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1992, Seite 80). Sie fand ein allgemeines Kriterium für die Richtigkeit von Fermats Behauptung in bezug auf solche Exponenten n, die Primzahlen sind mit der Eigenschaft, daß auch 2n+1 Primzahl ist. Ein Beispiel ist n=5, denn 2n+1=11 ist ebenso prim wie 5 selbst. Mit Hilfe von "Sophies Theorem" konnte Gustav Lejeune Dirichlet (1805 bis 1859), später Nachfolger von Carl Friedrich Gauß in Göttingen, noch als Student 1825 Fermats letzten Satz für n=5 beweisen (siehe auch Kasten Seite 98).

Ein Kindheitstraum

Der Arzt und Mathematiker Paul Wolfskehl (1856 bis 1906) hat sich vermutlich selbst viele Jahre lang vergeblich um die umfassende Lösung des großen Rätsels bemüht. Angeblich brachte diese Beschäftigung ihn, der an Multipler Sklerose erkrankt und gelähmt war, sogar von Selbstmordgedanken ab. In seinem Testament, das im Jahr nach seinem Tode in Kraft trat, stiftete er 100000 Goldmark dem, der als erster erfolgreich sein würde. Dies ermunterte Tausende von Amateuren zu Beweisversuchen. Aber auch Hunderte von Fachwissenschaftlern, darunter erstklassige Zahlentheoretiker, bemühten sich immer wieder vergeblich. Einer derjenigen, die sich zurückhielten, war David Hilbert (1862 bis 1943), der als der größte Mathematiker vom Anfang dieses Jahrhunderts gilt; er antwortete 1920 auf die Frage, warum er sich nie mit dem Problem beschäftigt habe: "Bevor ich damit beginnen könnte, müßte ich drei Jahre intensiven Studiums hineinstecken, und ich habe nicht so viel Zeit, daß ich sie an einen wahrscheinlichen Fehlschlag vergeuden könnte." Immerhin war Fermats letzter Satz bis 1993 für alle Exponenten bis n=4000000 bewiesen. Aber das Ziel eines allgemeinen Beweises trugen die Zahlentheoretiker nach wie vor in ihrem Herzen, allerdings nicht als konkretes Vorhaben, sondern eher so wie ein Chemiker das Ziel der Alchimisten, Gold zu machen: als einen närrischen, romantischen Traum aus vergangenen Zeiten. Kinder lieben romantische Träume. Im Jahre 1963 las in Cambridge (England) der zehnjährige Andrew Wiles in einem Buch aus der Stadtbücherei von Fermats letztem Satz und beschloß daraufhin, ihn zu beweisen. Seine Lehrer rieten ihm davon ab, Zeit an das Unmögliche zu verschwenden, desgleichen später seine Dozenten. John Coates an der Universität Cambridge gelang es schließlich, das Interesse seines Doktoranden Wiles auf eine der Hauptrichtungen der modernen Mathematik zu lenken: die fruchtbare Theorie der elliptischen Kurven. Diese Objekte treten erstmals, in rein algebraischer Verkleidung, in den "Arithmetika" des Diophantos auf, die Fermat inspirierten. Wiles konnte kaum ahnen, daß diese Vorübungen ihn am Ende zu Fermats letztem Satz zurückführen würden. Elliptische Kurven sind keine Ellipsen. Sie heißen so, weil sie durch algebraische Gleichungen beschrieben werden, als deren Lösungen elliptische Funktionen auftreten; und diese wiederum haben ihren Namen, weil einige spezielle von ihnen bei der Berechnung der Längen von Ellipsenbögen eine Rolle spielen. Die Gleichungen, die elliptische Kurven beschreiben, sind von der Form y2=x3+ax2+bx+c, wobei a, b und c ganze Zahlen und so gewählt sind, daß im Spezialfall y=0 drei verschiedene Lösungen x existieren. Es handelt sich um Gleichungen in den zwei Variablen x und y. Man nennt sie kubisch oder dritten Grades, weil die höchste auftretende Potenz, in diesem Falle x3, vom Grad 3 ist. Eine übliche Frage der Zahlentheorie ist: Wie viele rationale Punkte liegen auf einer algebraischen Kurve? Das heißt, wie viele Lösungen x, y gibt es zu der die Kurve beschreibenden algebraischen Gleichung, so daß beide Koordinaten x und y ganze oder rationale Zahlen (Quotienten ganzer Zahlen) sind? Für Gleichungen ersten oder zweiten Grades ist dies leicht zu beantworten. Kurven ersten Grades sind Geraden und haben stets unendlich viele rationale Punkte. Kurven zweiten Grades sind Kegelschnitte; sie haben entweder keine oder unendlich viele rationale Punkte, und es ist nicht schwer zu entscheiden, welcher Fall vorliegt. Auf den hyperelliptischen Kurven hingegen, komplizierteren Objekten, die charakteristischerweise durch Gleichungen vom Grad 4 oder höher beschrieben werden, liegen entweder gar keine oder nur endlich viele rationale Punkte. Dies hatte 1922 der englische Mathematiker Louis Joel Mordell (1888 bis 1972) vermutet, und Gerd Faltings, der nun am Max-Planck-Institut für Mathematik in Bonn tätig ist, hat es 1983 bewiesen (Spektrum der Wissenschaft, September 1983, Seite 16). Die elliptischen Kurven aber sind besonders schwierig. Sie können gar keine, endlich viele oder unendlich viele rationale Punkte haben, und es ist alles andere als leicht, dies zu entscheiden. Einen hilfreichen Zugang bietet die Modul-Arithmetik: Man ersetzt jede Zahl, die in der kubischen Gleichung vorkommt, durch ihren Rest bei der Division durch eine Primzahl p. Ferner versteht man alle Rechenoperationen so, daß das Ergebnis einer Addition oder Multiplikation nicht das übliche sein soll, sondern dessen Rest bei Division durch p. Diese modifizierte Version der Gleichung nennt man deren Analogon modulo p (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, September 1996, Seite 80). Diesen Kunstgriff kann man mit verschiedenen Primzahlen durchführen. Auf diese Weise erzeugt man eine ganze Reihe einfacherer Probleme, die dem ursprünglichen verwandt sind. Zu jedem Primzahl-Modul p notiert man die Anzahl der Lösungspaare x, y. Der große Vorteil der Modul-Arithmetik liegt darin, daß die Werte von x und y ganzzahlig sein müssen und nicht größer werden können als p; dadurch wird das Problem auf etwas Endliches zurückgeführt. Um Einsicht in das ursprüngliche unendliche Problem zu gewinnen, verfolgen die Mathematiker nun, wie sich die Anzahl der Lösungen verändert, wenn p variiert; und indem sie diese Information verwenden, erzeugen sie eine sogenannte L-Reihe zu der elliptischen Kurve E:


In dieser unendlichen Reihe ist der Koeffizient ap der Potenz p-s aus der Anzahl der Lösungen der kubischen Gleichung modulo p zu errechnen, wenn p eine Primzahl ist. Wenn der Index j von aj eine zusammengesetzte Zahl ist, berechnet sich der Koeffizient aj aus den entsprechenden Werten für die Primfaktoren von j. Die L-Reihe entsteht nämlich durch Ausmultiplizieren eines unendlichen Produkts. Der Witz an der Sache ist, daß es zu völlig anderen mathematischen Objekten, den sogenannten Modulformen, ebenfalls L-Reihen gibt. Modulformen haben zunächst nichts mit Modul-Arithmetik zu tun. Es handelt sich um eine Klasse von Funktionen, die von komplexen Zahlen abhängen. (Komplexe Zahlen sind Zahlen der Form x+iy, wobei x und y reelle Zahlen bezeichnen und i, die imaginäre Einheit, die Quadratwurzel von -1 ist.) Das Besondere an einer Modulform ist nun, daß man ihre unabhängige Variable x+iy einer großen Klasse von Transformationen, den sogenannten Modultransformationen, unterwerfen kann, ohne daß die Modulform dabei ihren Wert (im wesentlichen) ändert. Vergleichbares findet sich bei den trigonometrischen Funktionen wie Sinus und Cosinus: Man kann einen Winkel j transformieren, indem man ein beliebiges ganzzahliges Vielfaches 2πn von 2π zu j addiert, ohne daß sich der Wert der Funktion ändert: sin(j+2πn)=sin j. Eine solche Eigenschaft nennt man Symmetrie; die trigonometrischen Funktionen zeigen sie in begrenztem Umfang. Modulformen hingegen überraschen mit einem enormen Maß an Symmetrie – so sehr, daß der französische Universalgelehrte Henri Poincaré (1854 bis 1912), als er gegen Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Modulformen entdeckte, zunächst nicht daran glauben mochte. Er berichtete seinen Kollegen, zwei Wochen lang habe er täglich sogleich nach dem Aufwachen einen Fehler in seinen Rechnungen zu suchen begonnen. Dann gab er es schließlich auf und akzeptierte, daß Modulformen extrem symmetrisch sind. Weniger als zehn Jahre bevor Wiles erstmals Fermats Theorem begegnete, entwickelten die jungen japanischen Mathematiker Goro Shimura und Yutaka Taniyama eine Idee, die später ein Eckstein in seinem Beweis wurde. Sie glaubten, Modulformen und elliptische Kurven stünden auf tiefgründige Weise miteinander in Beziehung, obwohl sie allem Anschein nach zu weit voneinander entfernten Gebieten der Mathematik gehören. Immerhin haben beide eine L-Reihe, wenngleich die Vorschriften zu ihrer Herleitung verschieden sind. Die beiden Japaner stellten nun die Behauptung auf, zu jeder elliptischen Kurve gebe es eine Modulform mit gleicher L-Reihe und umgekehrt. In der Formulierung Shimuras vom Anfang der sechziger Jahre: "Jede elliptische Kurve ist modular." Den beiden Mathematikern war klar, daß die Konsequenzen außerordentlich sein würden, wenn sie recht hätten. Im allgemeinen ist über die L-Reihe einer Modulform mehr bekannt als über die einer elliptischen Kurve. Also könnte man über die L-Reihe einer elliptischen Kurve auf dem Umweg über die zugehörige Modulform mehr in Erfahrung bringen als auf dem direkten, äußerst mühsamen Wege. Zudem nutzt eine Brücke zwischen zwei bislang beziehungslosen Zweigen der Mathematik ganz allgemein beiden Fachrichtungen, indem jede von dem Wissen profitiert, das die andere schon erworben hat. Obgleich niemand einen Ansatz fand, die Hypothese von Shimura und Taniyama zu beweisen, hatte sie beträchtliche Wirkung. In den siebziger Jahren wurde es Mode, sie als zutreffend zu unter-stellen und aus dieser Annahme neue Ergebnisse herzuleiten – obwohl kaum jemand damit rechnete, daß sie noch in diesem Jahrhundert bewiesen werden würde. Es ist tragisch, daß einer der Urheber den spektakulären Erfolg dieser Idee nicht mehr erlebte: Am 17. November 1958 nahm Yutaka Taniyama sich das Leben.

Das missing link

Im August 1984 fand in Oberwolfach im Schwarzwald eine Tagung über algebraische Zahlentheorie statt. Gerhard Frey (Bild 6) von der Universität Saarbrücken, inzwischen Professor in Essen, teilte bei dieser Gelegenheit seinen Kollegen in Gesprächen eine Idee mit, über der er schon ein halbes Jahrzehnt gebrütet hatte: einen neuen Ansatz, Fermats letzten Satz zu beweisen. Um eine Behauptung zu prüfen, stellen Mathematiker häufig versuchsweise die Annahme auf, sie sei falsch, und untersuchen dann die Konsequenzen aus dieser Annahme. In diesem Falle lautet die Behauptung, daß die Fermat-Gleichung an+bn=cn keine Lösungen in natürlichen Zahlen a, b und c habe. Angenommen, das sei falsch. Dann gäbe es eben doch zwei n-te Potenzen an und bn mit n größer als 2, deren Summe eine dritte n-te Potenz cn ist. Wenn es Zahlen mit dieser Eigenschaft aber gibt, dann – so Freys Idee – kann man sie auch als Koeffizienten einer speziellen elliptischen Kurve einsetzen: y2=x(x-A)(x+B), wobei A=an und B=bn ist. Eine Größe, die man bei einer elliptischen Kurve routinemäßig berechnet, ist ihre sogenannte Diskriminante A2B2(A+B)2. Weil A und B Lösungen der Fermat-Gleichung sind, ist diese Diskriminante eine n-te Potenz: A2B2(A+B)2=(a2b2c2)n, denn nach der Annahme ist A+B=an+bn=cn. Wenn also Fermats letzter Satz falsch ist, gibt es eine elliptische Kurve, deren Diskriminante eine n-te Potenz ist. Im Umkehrschluß würde ein Beweis, daß die Diskriminante einer elliptischen Kurve niemals eine n-te Potenz sein kann, auch Fermats letzten Satz beweisen. Frey sah keinen Weg, einen derartigen Beweis zu konstruieren. Er hielt es aber für beweisbar, daß eine elliptische Kurve, deren Diskriminante eine n-te Potenz ist, nicht modular sein kann – falls sie überhaupt existiert –, also der Vermutung von Shimura und Taniyama widerspricht. Damit hatte Frey eine Beweiskette skizziert, der noch zwei Glieder fehlten: Wenn es gelingen sollte, erstens die Vermutung von Shimura und Taniyama zu beweisen und zweitens, daß die elliptische Kurve y2=x(x-A)(x+B) nicht modular ist, dann wäre bewiesen, daß eine elliptische Kurve mit diesen Eigenschaften nicht existieren kann. Also könnte es keine Lösung der Fermat-Gleichung geben, und Fermats letzter Satz wäre bewiesen. Viele Mathematiker versuchten sich am zweiten Kettenglied: zu zeigen, daß die elliptische Kurve y2=x(x-A)(x+B), mittlerweile Frey-Kurve genannt, nicht modular sein kann. Jean-Pierre Serre vom Collège de France in Paris und Barry Mazur von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) lieferten wichtige Beiträge in dieser Richtung. Im Juni 1986 schließlich konstruierte einer von uns (Ribet; Bild 7) einen vollständigen Beweis dieser Behauptung. Im Rahmen dieses Artikels wollen wir uns auf einige Hinweise beschränken. Ribets Beweis nutzt wesentlich aus, daß man zwei Punkte einer elliptischen Kurve addieren kann (Spektrum der Wissenschaft, September 1996, Seite 80). Diese Addition ist höchst abstrakt definiert und weit entfernt vom Zusammenzählen, wie man es in der Grundschule lernt: Zu zwei beliebigen Punkten P1 und P2 auf der Kurve definiert man einen dritten, ebenfalls auf der Kurve, und nennt ihn P1+P2. Und zwar ist diese Definition so gestaltet, daß die Addition die üblichen Rechenregeln erfüllt. Im Falle der elliptischen Kurven ist sie geometrisch definiert (Bild 7): Man ziehe die – eindeutig bestimmte – Gerade durch P1 und P2. Sie schneidet die Kurve in einem dritten Punkt P3. Dessen Spiegelbild bezüglich der x-Achse ist per definitionem die Summe Q=P1+P2. Diese Additionsvorschrift läßt sich auf die unendlich vielen Punkte einer elliptischen Kurve anwenden; aber besonders interessant ist sie, weil es endliche Punktmengen mit der entscheidenden Eigenschaft gibt, daß die Summe von je zwei Punkten aus der Menge ebenfalls zur Menge gehört. Das ist eine Gruppe im mathematischen Sinne des Wortes: eine Menge von Punkten, für die bestimmte einfache Regeln gelten. Zu einer elliptischen Kurve kann man endliche Gruppen konstruieren, indem man zur Arithmetik modulo p mit einer Primzahl p übergeht. Es stellt sich nun heraus, daß die Eigenschaft, modular zu sein, sich von einer elliptischen Kurve auf diese endlichen Gruppen vererbt: Wenn eine elliptische Kurve modular ist, dann gilt das auch für ihre Analoga modulo p. Ribet hat nun gezeigt, daß eine spezielle endliche Gruppe zur Frey-Kurve nicht modular sein kann. Im Umkehrschluß folgt daraus, daß die Kurve selbst ebenfalls nicht modular ist. Damit fehlte in der Kette nur noch ein Glied, nämlich die Vermutung von Shimura und Taniyama. Der Beweis von Fermats letztem Satz, Jahrhunderte lang ein exotisches Problem, war auf einmal in greifbare Nähe gerückt.

Sieben Jahre der Verschwiegenheit

Wiles, zu jener Zeit Professor an der Universität Princeton (New Jersey), säumte nicht. Sieben Jahre lang arbeitete er an dem Problem, ohne ein Wort darüber verlauten zu lassen. Er wollte nicht nur den Druck der öffentlichen Aufmerksamkeit vermeiden, sondern auch, daß ihm ein anderer durch Verwendung vorläufiger Ideen den Ruhm vor der Nase wegschnappte. Allein seiner Frau erzählte er in dieser Zeit von seiner fixen Idee – auf ihrer Hochzeitsreise. Für sein großes Projekt mußte Wiles viele wesentliche Entdeckungen der modernen Zahlentheorie heranziehen. Häufig reichten sie für seine Zwecke nicht aus, und er kam nicht umhin, neue Werkzeuge und Techniken selbst zu schaffen. Er selbst beschreibt seine Erfahrung als eine Reise durch ein dunkles, unbekanntes großes Haus: "Du kommst in das erste Zimmer, und es ist stockfinster. Du stolperst herum und stößt dich an den Möbeln, aber allmählich lernst du, wo sich jedes Stück befindet. Schließlich, nach vielleicht einem halben Jahr, findest du den Lichtschalter. Du knipst ihn an, und plötzlich ist alles erleuchtet. Du kannst ganz genau sehen, wo du überall warst. Dann gehst du in das nächste Zimmer und verbringst wieder sechs Monate im Dunkeln. So sind diese Durchbrü-che. Manchmal kommen sie blitzartig, manchmal dauern sie ein oder zwei Tage. Sie sind die Krönung des langen Umherirrens in der Finsternis – und das eine ist ohne das andere nicht zu haben." Wiles brauchte allerdings die Vermutung von Shimura und Taniyama nicht in voller Allgemeinheit zu beweisen. Es genügte zu zeigen, daß eine spezielle Unterklasse der elliptischen Kurven modular ist, vorausgesetzt, die Frey-Kurve – wenn sie existieren würde – wäre in dieser Unterklasse enthalten. Das machte die Sache indes nicht viel einfacher. Die von Wiles gewählte Unterklasse ist nämlich immer noch unendlich groß und umfaßt die Mehrheit der interessanten Fälle. Wiles verwendete dieselben Techniken wie Ribet – und noch viele mehr. Auch an dieser Stelle muß es bei Andeutungen bleiben. Zu beweisen war, daß jede elliptische Kurve in der Unterklasse modular ist. Zu diesem Zweck verwendete Wiles die Gruppeneigenschaft der Punkte auf den elliptischen Kurven sowie einen Satz von Robert P. Langlands vom Institute for Advanced Study in Princeton und Jerrold Tunnell von der Rutgers-Universität in New Brunswick (New Jersey). Dieser Satz besagt, daß es innerhalb jeder elliptischen Kurve aus der von Wiles untersuchten Klasse eine spezielle Gruppe von Punkten gibt, die modular ist. Für die Behauptung, die Wiles eigentlich beweisen wollte, ist das eine notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung. Denn wenn die gesamte elliptische Kurve modular sein soll, müssen alle diese Untergruppen modular sein. Wenn man das nur für eine einzige weiß – und die hat in diesem Falle lediglich neun Elemente –, besagt das erst sehr wenig. Aber Wiles nutzte diese kleine Gruppe als erste Bresche, um alles andere gleichsam von unten her aufzurollen: Von Gruppen mit 9 Elementen ging er zu solchen mit 92=81 Elementen über, dann zu solchen mit 93=729, und so weiter. Wenn er das Verfahren unbegrenzt fortsetzen könnte, würde er zu unendlich vielen endlichen Gruppen gelangen. Deren Vereinigung hätte unendlich viele Elemente; könnte er dann noch beweisen, daß auch sie eine Gruppe und modular ist, hätte er damit bewiesen, daß die ursprüngliche Gruppe als Ganze modular ist. Wiles erledigte diese Aufgabe durch eine Art Induktionsbeweis. Er hatte nur zu zeigen: Wenn eine der Gruppen modular ist, dann gilt das auch für die nächstgrößere. Es ist wie das Umwerfen einer unendlichen Reihe von Dominosteinen. Man braucht nur dafür zu sorgen, daß ein kippender stets den nächsten zu Fall bringt; dann genügt es, den ersten anzustoßen. Ebenso klappert der Beweis der Modularität eine Gruppe nach der anderen ab. Schließlich war Wiles davon überzeugt, daß der Beweis vollständig sei, und verkündete sein Ergebnis am 23. Juni 1993 auf einer Tagung am Isaac-Newton-Institut für die Mathematischen Wissenschaften in Cambridge. Sein geheimes Forschungsprogramm schien von Erfolg gekrönt, und die Gemeinschaft der Mathematiker war ebenso überrascht und begeistert wie alsbald die internationale Presse. Während der Medienzirkus sich steigerte, begann der übliche offizielle Nachprüfungsprozeß durch die Experten. Ziemlich bald entdeckte Nicholas M. Katz von der Universität Princeton einen fundamentalen und verheerenden Fehler in einem Argumentationsschritt. Bei seinem Induktionsbeweis hatte Wiles eine methodische Anleihe bei Victor A. Kolyvagin von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland) und Matthias Flach vom California Institute of Technology in Pasadena gemacht. Aber nun schien es, daß deren Methode in diesem speziellen Beispiel nicht anwendbar sei. Der Kindheitstraum hatte sich in einen Alptraum verwandelt.

Die Reparatur

Die nächsten zwölf Monate zog sich Wiles zurück und diskutierte den Fehler nur mit seinem früheren Doktoranden Richard Taylor. Gemeinsam versuchten sie, seinen Beweisweg doch noch gangbar zu machen und andere zu gehen, die Wiles zuvor verworfen hatte. Am 11. August 1994 mußte Wiles auf dem Internationalen Mathematikerkongreß in Zürich vor 3000 Zuhörern bekennen, daß er die Beweislücke noch nicht hatte schließen können (Spektrum der Wissenschaft, November 1994, Seite 126). Er und Taylor waren drauf und dran, ihre Niederlage einzugestehen und das fehlerhafte Resultat zu veröffentlichen, so daß andere versuchen könnten, es zu verbessern.

Da, am 19. September 1994, kam die entscheidende Erleuchtung. Mehrere Jahre zuvor hatte Wiles einen gänzlich anderen Zugang in Erwägung gezogen, der auf einer Theorie des japanischen, in Princeton lehrenden Mathematikers Kenkichi Iwasawa basiert, war aber nicht damit vorangekommen und hatte es aufgegeben. Nun aber erkannte er, daß just der Grund dafür, daß die Methode von Kolyvagin und Flach scheiterte, für den Erfolg des Zugangs über die Iwasawa-Theorie verantwortlich war.

Über seine Reaktion auf diese Entdeckung berichtet er: "Es war so unbeschreiblich schön – so einfach und so elegant. Am ersten Abend ging ich nach Hause und überschlief es. Am nächsten Morgen prüfte ich nochmals alles durch, und dann ging ich hinunter und sagte zu meiner Frau: ,Ich hab's. Ich glaube, ich habe es gefunden.' Das kam so unerwartet, daß sie dachte, ich spräche über ein Kinderspielzeug oder so etwas, und sie sagte: ,Hast was?' Ich sagte: ,Ich habe meinen Beweis repariert. Ich habe es geschafft.' "

Für Wiles war die Verleihung des Wolfskehl-Preises das Ende einer Obsession, die mehr als 30 Jahre andauerte: "Nach der Lösung dieses Problems ist das gewiß ein Gefühl von Freiheit", bekannte er. "Ich war so von diesem Problem besessen, daß ich acht Jahre lang an nichts anderes dachte – vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Diese ganz besondere Odyssee ist nun vorbei, und meine Seele ist zur Ruhe gekommen."

Wiles wird sich zweifellos nicht zur Ruhe setzen; dafür dürfte der Wolfskehl-Preis auch kaum ausreichen. Er wird weiterhin Mathematik betreiben und läßt keinen Zweifel daran, daß ihn dies ausfüllen wird; nur – der Zauber des Kindheitstraums ist eben dahin.

Es bleibt auch noch genug zu tun. Insbesondere ist nach allgemeiner Überzeugung der Beweis von Wiles viel zu kompliziert und modern, als daß Fermat ihn hätte gemeint haben können, als er seine Randbemerkung schrieb. Entweder hat Fermat sich getäuscht, und das, was er im Sinn hatte, war fehlerhaft, oder – kaum zu glauben, aber denkbar – ein einfacher und scharfsinniger Beweis wartet noch auf seine Entdeckung.


Literaturhinweise

Yutaka Taniyama and His Time: Very Personal Recollections from Shimura. Von Goro Shimura in: Bulletin of the London Mathematical Society, Band 21, Seiten 186 bis 196, 1989.

From the Taniyama-Shimura Conjecture to Fermat's Last Theorem. Von Kenneth A. Ribet in: Annales de la Faculté des Sciences de l'Université de Toulouse, Band 11, Heft 1, Seiten 115 bis 130, 1990.

Modular Elliptic Curves and Fer-mat's Last Theorem. Von Andrew Wiles in: Annals of Mathematics, Band 141, Heft 3, Seiten 443 bis 551, Mai 1995.

Ring Theoretic Properties of Certain Hecke Algebras. Von Richard Taylor und Andrew Wiles in: Annals of Mathematics, Band 141, Heft 3, Seiten 553 bis 572, Mai 1995.

Notes on Fermat's Last Theorem. Von A. J. van der Poorten. Wiley Interscience, 1996.

Fermats letzter Satz. Von Simon Singh. Erscheint im Frühjahr 1998 bei Hanser, München.

Bemerkungen zu Diophant von Pierre de Fermat. Von Max Miller. Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften Nr. 234. Teubner, Leipzig 1932.

13 Lectures on Fermat's Last Theorem. Von Paulo Ribenboim. Springer, New York 1979.

Über Wiles' Beweis der Fermatschen Vermutung. Von Gerhard Frey in: Mathematische Semesterberichte, Band 40, Seiten 177 bis 191, 1993.

Fermat's Last Theorem and Modern Arithmetic. Von Kenneth A. Ribet und Brian Hayes in: American Scientist, Band 82, Seiten 144 bis 156, 1994.

Number Theory as Gadfly. Von Barry Mazur in: American Mathematical Monthly, Band 98, Seiten 593 bis 610, 1991.

Modular Forms and Fermat's Last Theorem. Herausgegeben von Gary Cornell, Joseph H. Silverman und Glenn Stevens. Springer, New York 1997.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1998, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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