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Die Lösung des n-Körper-Problems

Nach einem Jahrhundert hat ein notorisch schweres Problem endlich eine mathematisch saubere Lösung gefunden. Dennoch bleibt dem Entdecker der Ruhm versagt. Warum?

Es handelt sich um ein berühmtes, jahrhundertealtes Problem. Ein renommierter Mathematiker hatte behauptet, eine einfache und elegante Lösung entdeckt zu haben, aber er starb, ohne sie aufzuzeichnen. Die besten Köpfe des Fachs mühten sich vergebens, seine – oder eine andere – Lösung zu finden; es half auch nichts, daß ein wohldotierter Preis dafür ausgesetzt wurde. Erst vor wenigen Jahren gelang es, das Problem endgültig zu erledigen.

Nein, die Rede ist nicht von dem sprichwörtlich gewordenen Theorem des französischen Mathematikers Pierre de Fermat (1601 bis 1665). Das Interesse an dem Problem speist sich wesentlich aus dem Bezug zur Realität; denn es läuft auf die Frage hinaus, ob das Sonnensystem stabil ist: Wird in einer Milliarde Jahre die Erde die Sonne noch ungefähr so umrunden wie jetzt, so daß Leben auf ihr möglich ist?

In der abstrakten Formulierung lautet es: Gegeben seien n Massenpunkte, unter denen man sich die Sonne und die Planeten vorstellen darf, mit ihren Positionen und Geschwindigkeiten zu einem gewissen Anfangszeitpunkt. Läßt sich die Bewegung dieser Körper dann für alle Zukunft voraussagen?

Dies war die bedeutendste von vier Preisfragen, für deren Beantwortung König Oscar II. von Schweden und Norwegen im Jahre 1885 einen Preis aussetzte (Bild 1). Die Mitglieder der Preiskommission, die bereits zu Ehren gekommenen Mathematiker Carl Weierstraß (1815 bis 1897), Charles Hermite (1822 bis 1901) und Gösta Mittag-Leffler (1846 bis 1927), hatten allen Anlaß, an die Lösbarkeit des Problems mit den Mitteln ihrer Zeit zu glauben; denn Weierstraßens Berliner Vorgänger Gustav Lejeune Dirichlet (1805 bis 1859), der eine allgemeine Lösungsmethode entdeckt zu haben behauptete, galt als gewissenhafter, nicht zu voreiligem Jubel neigender Mensch.

Offensichtlich war die Kommission ein wenig zu optimistisch gewesen; jedenfalls ging bis zum Einsendeschluß keine vollständige Lösung ein. Den Preis erhielt ersatzweise der 35jährige Franzose Henri Poincaré (1854 bis 1912) für eine Abhandlung, in der er bewies, daß es eine Lösung in Form einer geschlossenen mathematischen Formel nicht geben kann, wenn n größer als 2 ist.

Es folgte eine beispiellose Kette von Peinlichkeiten. Bei der Einrichtung des Manuskripts für den Druck fand der zuständige Redakteur der Zeitschrift "Acta Mathematica" so viele Fehler und Unklarheiten, daß der Text unter Poincarés Nachbesserungen auf fast die doppelte Länge anwuchs. Seine letzten Korrekturen trafen erst ein, als die Zeitschrift schon gedruckt und teilweise ausgeliefert war; Mittag-Leffler, der nicht nur Kommissionsmitglied, sondern auch Chefredakteur der "Acta Mathematica" war, ließ die entsprechende Ausgabe in der korrekten Version neu drucken, um sein und des Königs Ansehen zu wahren, und Poincaré trug die Kosten, die das Preisgeld erheblich übertrafen.

Zu allem Überfluß hatte Poincaré, strenggenommen, das Thema verfehlt. Er hatte keineswegs bewiesen, daß das Problem unlösbar sei – wenngleich seine Zeitgenossen diesen Schluß zogen –, sondern nur, daß ein spezielles Verfahren zur Lösung scheitern muß. Dagegen gelang es mehr als 100 Jahre später Wang Qiu-Dong, einem chinesischen Studenten an der Universität Cincinnati (Ohio), das Problem so, wie es damals gestellt war, zu lösen ("The Global Solution of the n-Body Problem", Celestial Mechanics and Dynamical Astronomy, Band 50, Seiten 73 bis 88, 1991).

Diese Leistung erregte allerdings kein besonderes Aufsehen. Sie wäre auch in der Fachwelt weithin unbekannt geblieben, wenn nicht Florin Diacu von der Universität von Victoria in British Columbia (Kanada) sie kürzlich im "Mathematical Intelligencer" (Band 18, Heft 3, Seite 66, 1996) gewürdigt hätte. Dagegen gilt Poincaré als einer der größten Mathematiker seiner Zeit. Wo bleibt da die historische Gerechtigkeit?


Konvergente Potenzreihen

Die Antwort liegt in der genauen Form der Problemstellung begründet. Bereits Weierstraß und seine Kollegen glaubten nicht mehr daran, daß es eine universelle Formel gebe, die nach Einsetzen der Anfangsbedingungen die Position der Massenpunkte zu einer beliebigen Zeit liefern würde. So etwas Schönes existiert nur für n=2, aber diese Erkenntnis war nicht neu: Schon Johannes Kepler (1571 bis 1630) hatte herausgefunden, daß die Bahn eines Planeten um die Sonne ellipsenförmig ist; zwei Körper in beliebiger Anfangsposition folgen zwar nicht unbedingt einer Ellipse, aber immerhin einem Kegelschnitt.

Wenn es also aussichtslos war, eine geschlossene Formel mit endlich vielen Rechenoperationen zu suchen, mußte man unendlich viele in Kauf nehmen. Das ist weniger exotisch, als es klingt. Die Vorstellung hinter dem Begriff "unendliche Reihe" ist zwar, daß man unendlich viele Funktionen aufaddiert. Aber die Reihe konvergiert: Die Summanden werden immer kleiner, und zwar so schnell, daß man, um eine vorgegebene Genauigkeit zu erreichen, irgendwann mit Addieren aufhören kann. Nur ist nicht immer einfach festzustellen, wann. Eine Reihenentwicklung ist also ein wohletabliertes und im Prinzip praktikables Lösungsverfahren. Geläufige Zahlen wie pi und e sind nicht besser (und nicht schlechter) definiert.

Aus der zugehörigen Theorie, die vor allem Weierstraß zu großer Blüte fortentwickelt hatte, folgt sogar, daß eine Lösung in Form einer Reihenentwicklung für das n-Körper-Problem stets existiert, allerdings nur für ein nicht näher angebbares Zeitintervall in der Umgebung des Anfangszeitpunkts. Man müßte also den Zustand des Systems für eine zukünftige, durch die Reihe noch erreichbare Zeit ausrechnen, diesen als neuen Anfangswert nehmen, sich wieder ein Stückchen in der Zeit vorwärtshangeln und so weiter, bis der geforderte Zeitpunkt erreicht ist – ein sehr mühsames und nicht besonders erkenntnisträchtiges Verfahren. Verlangt war deshalb eine überall gleichmäßig konvergierende Reihe: ein einziger Schritt von jetzt bis in die ferne Zukunft.

Selbst diese verschärfte Forderung ist für Anfangswertprobleme gewöhnlicher Differentialgleichungen häufig erfüllbar. Warum macht sie ausgerechnet für das n-Körper-Problem, das zu diesem Problemtyp gehört, so außergewöhnliche Schwierigkeiten? Weil es theoretisch möglich ist, daß zwei oder mehr Körper, durch die gegenseitige Anziehungskraft getrieben, gleichzeitig in einem Punkt zusammenstoßen. Offensichtlich gibt es für die Zeit danach keine Lösung. Bei dieser Gelegenheit können sogar Massen in endlicher Zeit ins Unendliche verschwinden (Spektrum der Wissenschaft, August 1992, Seite 10).


Singularitäten

Ein Astrophysiker zerbräche sich über solche exotischen Ereignisse nicht lange den Kopf: Lange vor einer Kollision würde sich bemerkbar machen, daß echte Planeten eben nicht punktförmig sind, so daß zum Beispiel die Erde samt allen Wissenschaftlern darauf beizeiten durch Gezeitenkräfte zerfetzt würde. Für die Stabilität des realen Sonnensystems sind Gezeiteneffekte sogar wesentlich (vergleiche "Der Mond und die Stabilität des Erdklimas" von Jacques Laskar, Spektrum der Wissenschaft, September 1993, Seite 48). Im abstrakten Modell der Massenpunkte dagegen ist eine Kollision eigentlich ein vernachlässigbar seltenes Ereignis: Eine beliebig kleine Abweichung in den Bahndaten, und die Körper rasen, statt zusammenzustoßen, in einer Haarnadelkurve aneinander vorbei und existieren weiter (Bild 2).

Für den Reihenansatz ist jedoch die bloße Existenz einer Singularität – zum Beispiel einer Kollision - nahezu fatal. Denn die Weierstraßsche Theorie sagt unter anderem auch aus, daß Reihenentwicklungen Funktionen mit besonders schönen Eigenschaften ergeben: Innerhalb des Konvergenzbereichs einer solchen Reihe ist die Funktion nicht nur unendlich oft differenzierbar, sie hängt auch in sehr regelhafter Weise von Änderungen der Bahndaten ab. So häßliche Dinge wie Singularitäten kommen dort nicht vor. Im Umkehrschluß heißt das: Die bloße Möglichkeit einer Kollision verdirbt die Konvergenz und damit die Existenz einer Reihenlösung auch für kollisionsfreie Bahnen in der Nähe des Crashkurses.

Bei genauerem Hinschauen stellt sich freilich heraus, daß es mehr oder weniger üble Singularitäten gibt. Die harmloseren – schlichte Zweierzusammenstöße – kann man mit einem Trick bewältigen (Bild 2), so daß sich die schädlichen Effekte auf das Ereignis selbst beschränken. Für die anderen jedoch ist ein völlig neues Konzept erforderlich: Wenn man eine Singularität schon nicht beherrschen kann, schiebe man sie dorthin, wo sie nicht stört – in die Ewigkeit.

Das ist die Idee, mit der Wang, aufbauend auf Arbeiten des finnischen Mathematikers Karl Sundman vom Anfang dieses Jahrhunderts, seine Lösung fand. Im wesentlichen ersann er eine neue Uhr, die um so schneller tickt, je näher zwei der Körper aneinandergeraten. Kurz vor einer Kollision strebt die gegenseitige Anziehungskraft, die umgekehrt proportional dem Quadrat der Entfernung ist, gegen unendlich, ebenso die Beschleunigung und die Geschwindigkeit. Aber die künstliche Uhr beschleunigt ihren Gang noch stärker als die Planeten; in deren Zeitmessung werden sie nicht etwa schneller, sondern sogar langsamer – so langsam, daß sie sich erst in unendlich später Zeit treffen.

An die Stelle der Uhr tritt im mathematischen Formalismus eine weitere Differentialgleichung, die den Gang der künstlichen Uhr an den Fluß der echten Zeit und an den Systemzustand ankoppelt; die schwierige Aufgabe bestand dann darin, sämtliche Bewegungsgleichungen in der künstlichen statt der echten Zeit auszudrücken.

Das Ende der Geschichte ist triste. Wang hat zwar das königliche Problem so gelöst, wie es gestellt war – aber die Lösung ist vollkommen nutzlos. Wang selbst schreibt, die Konvergenzgeschwindigkeit sei so fürchterlich niedrig, daß man "selbst für eine Näherungslösung eine unglaubliche Anzahl an Termen aufsummieren müßte". Der theoretische Nutzen hält sich ebenfalls in Grenzen; denn aus dem Konvergenzbeweis ist keine Aussage über die Stabilität des Sonnensystems zu entnehmen.

Dagegen hat Poincaré in seiner fehlerdurchsetzten Abhandlung die Grundlagen der qualitativen Theorie dynamischer Systeme geschaffen, die inzwischen unter dem Namen "Chaos-Theorie" geläufig ist und zahlreiche Anwendungen gefunden hat. Aus heutiger Sicht war also die Verleihung des Preises an diesen Chaoten völlig gerechtfertigt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1997, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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