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Bildartikel: Die Macht der Karten

Das überzeugende Erscheinungsbild moderner Karten täuscht über die ihnen innewohnende Subjektivität hinweg. Um sinnvollen Gebrauch von den in ihnen enthaltenen Informationen machen zu können, ist es unerläßlich, ihre Grenzen zu kennen.

Die Sachlichkeit moderner Weltkarten gilt als so selbstverständlich, daß sie als Vorbilder für die Präsentation von Befunden anderer Wissenschaften, manchmal sogar als Metapher für wissenschaftliche Objektivität schlechthin genommen werden. Die Geschichte der Kartographie in der westlichen Welt, so wie sie üblicherweise gelehrt wird, stützt diese Vorstellung: Danach gab es einen steten Fortschritt von groben mittelalterlichen Weltbildern bis hin zu Darstellungen mit dem heutigen Genauigkeitsstandard.

In Wirklichkeit stecken in allen Karten Grundannahmen und gesellschaftliche Konventionen ihrer Hersteller. Diese Subjektivität scheint zwar überdeutlich offenkundig, wenn man alte Karten betrachtet, entgeht einem jedoch im allgemeinen bei modernen. Die in ihnen enthaltene Information läßt sich mithin nur dann richtig verwerten, wenn man sich die unauffälligen Auslassungen und Verzerrungen bewußt macht.

Nach dem vorgeblich gesicherten Stand der Wissenschaft ist der Beginn der Kartographie, von unbedeutenden Vorversuchen abgesehen, in den altägyptischen und babylonischen Hochkulturen zu lokalisieren. Schnell geht die übliche Geschichtsschreibung zu den Beiträgen der Griechen und Römer über; es folgt eine Anerkennung der Leistungen der Araber im Mittelalter. Die europäische Kartographie derselben Zeit gilt seit jeher als Tiefpunkt. Vom 15. Jahrhundert an jedoch machte dieser Sichtweise zufolge die Kunst allmählich Fortschritte und erreichte ihren Höhepunkt mit den heutigen Karten, die ihre Qualität modernsten vermessungstechnischen Geräten, Satellitenaufnahmen und digitalen Herstellungsverfahren verdanken.

In dieser Form wird der historische Abriß weithin akzeptiert. So mag es überraschen, daß nur wenige eindeutig als Landkarten identifizierbare Objekte aus der Antike erhalten sind. Es sind einige altgriechische Texte überliefert, in denen von Karten und ihrer Verfertigung die Rede ist, nicht jedoch die Karten selbst; und abgesehen von mittelalterlichen Kopien römischer Wegebeschreibungen sind keine Weltkarten aus der Zeit des Imperiums bekannt – wenngleich der hellenistische Astronom und Mathematiker Ptolemäus (um 100 bis 160), sprichwörtlich geworden für das von ihm schriftlich fixierte, fast 1500 Jahre gültige geozentrische Weltbild, in seiner „Geographie“ genaue Anweisungen für ihre Erstellung gab. Die ältesten zweifelsfrei datierbaren Karten stammen aus dem Mittelalter.

Mittelalterliche Karten

Die wenigen erhaltenen Weltkarten (mappae mundi) aus diesem Zeitalter gliedern sich in verschiedene Gruppen. Die sogenannten Beatus-Karten (Bild 2 links) waren ursprünglich Illustrationen eines Kommentars zur Offenbarung des Johannes, der auf den Abt Beatus von Liebana zurückgeht. Die heute noch vorhandenen Exemplare sind im 10. Jahrhundert oder später entstanden, können aber auf eine verschollene Vorlage aus dem 8. Jahrhundert zurückgeführt werden. Die Beatus-Karten sind von rechteckiger Gestalt. Ebenso wie in anderen mappae mundi ist Osten oben; dort ist auch in einem rechteckigen Kästchen das Paradies zu finden.

Die Welt besteht aus drei Kontinenten, deren jeden die Nachkommen eines der Söhne Noahs – Sems, Hams und Japhets – bevölkern. Europa liegt unten links, Afrika unten rechts und Asien oben. Ein vierter Kontinent, eine terra incognita, mußte schon deshalb verzeichnet sein, weil nach dem Text der Offenbarung (Kapitel 7, Vers 1) vier Engel „an den vier Ecken der Erde“ die vier Winde anhalten werden.

Die Beatus-Karten zeigen in erster Linie die Erde als den Schauplatz der christlichen Heilsgeschichte; geographische Genauigkeit ist zweitrangig. Verglichen mit einem modernen Atlas scheinen sie voller wunderlicher Irrtümer, doch wäre es abwegig zu behaupten, jüngere Karten würden eine richtigere Sicht der Welt vermitteln – in bezug auf ihre spirituelle Funktion sind die Beatus-Karten absolut genau.

Nachdem während der Kreuzzüge die Texte des Ptolemäus über die Herstellung von Karten wiederentdeckt worden waren, folgten die Kartographen des 14. Jahrhunderts seinen Anweisungen und geographischen Angaben. Dadurch entstanden relativ modern anmutende Karten mit einem Netz von Breiten- und Längengraden, auf denen Norden oben ist (Bild 2 rechts oben). Gleichwohl waren sie durch die Vorgaben der mittelalterlichen mappae mundi merklich geprägt. Immer noch zeigen sie eine terra incognita im Süden, sind mit zahlreichen Bildern, etwa Darstellungen der zwölf Winde, ausgeschmückt und folgen alten Färbungskonventionen; zum Beispiel ist das Rote Meer manchmal rot dargestellt.

Entwicklung des heutigen Standards

Immerhin beginnt mit den ptolemäischen Karten ein Wandel: Gegen die Verpflichtung, die Welt aus der Sichtweise der Bibel zu betrachten, setzte sich allmählich die Forderung durch, dem im Entstehen begriffenen Welthandel zu dienen, dessen Zentrum in Europa lag.

Die Karten des 18. und des 19. Jahrhunderts verkörperten die Interessen der europäischen Nationalstaaten. Die zu allgemeinen Gebrauchsgütern avancierten Atlanten des 19. Jahrhunderts zeigen eine unverkennbar eurozentrische Weltsicht. Ihre Grenzziehungen, Zeichen, Illustrationen und Beschriftungen drücken auf graphische Weise die politischen, kommerziellen und wissenschaftlichen Aktivitäten und Ziele der damaligen Großmächte aus; Kolonialbesitzungen wurden ihnen farblich zugeschlagen.

Aufbauend auf der ptolemäischen Tradition etablierten sich neue Konventionen. Norden befindet sich oben, der Nullmeridian verläuft durch das englische Greenwich, und der Kartenmittelpunkt liegt in Westeuropa, Nordamerika oder dem Nordatlantik. Die sich daraus ergebende Gestaltung ist so vertraut geworden, daß kaum jemandem mehr auffällt, wie willkürlich sie ist (Bild 2 rechts Mitte; vergleiche dagegen Bild 2 und Bild 3 jeweils rechts unten).

In dem Maße, wie die Kartographie sich zur Wissenschaft wandelte, wurde es immer schwieriger zu erkennen, daß eine Karte nicht nur ein abstrahierter Blick auf die Welt selbst ist, sondern ebenso auf die Gesellschaft, in der sie verfertigt worden ist. In der abendländischen Kulturgemeinschaft (bezeichnenderweise oft „westliche Welt“ genannt, wobei der geographische Begriff mit vielerlei Bedeutungen besetzt ist) ermutigten die herrschende positivistische Erkenntnistheorie und der verbreitete Glaube an den unbegrenzten materiellen Fortschritt sowohl Historiker als auch Laien, Karten anderer Kulturen als primitiv und frühere Karten als Produkte einer barbarischen, doch überwundenen Vergangenheit abzutun. Nach dieser Logik müssen die heutigen Karten die besten, genauesten und objektivsten sein, die es je gab. Diese Vorstellung verfestigte sich noch dadurch, daß moderne Weltkarten und Satellitenbilder einander manchmal zum Verwechseln ähnlich sehen oder gar die Grenze zwischen ihnen verschwimmt.

Neue Weltsichten

Ein Beispiel dafür ist die „GeoSphere“ genannte Darstellung der Erdoberfläche, die Tom Van Sant vom gleichnamigen Projekt in Santa Monica (Kalifornien) mit Unterstützung von Lloyd Van Warren vom Jet Propulsion Laboratory in Pasadena verfertigt hat (Bild 1). Rohmaterial waren digitale, aus Millionen Bildpunkten bestehende Aufnahmen von Wettersatelliten des Typs TIROS-N, die von der amerikanischen Behörde für die Ozeane und die Atmosphäre (National Oceanic and Atmospheric Administration) in Rockville (Maryland), einer Organisation des US-Handelsministeriums, betrieben werden. Die Forscher musterten alle Bildanteile aus, auf denen Wolken den Erdboden verdeckten. Land und Meer, so könnte man meinen, wurden auf diese Weise vollständig durch unparteiische elektronische Augen erfaßt.

Gleichwohl verkörpert die „GeoSphere“ gewisse ideologische Vorstellungen, ebenso wie die mappae mundi, die ptolemäischen Karten und die Atlanten des 19. Jahrhunderts. Wie viele seiner Vorgänger entschloß sich Van Sant, den Äquator durch die Mitte seiner Karte verlaufen zu lassen, den Atlantik ins Zentrum zu rücken und Norden nach oben zu legen. Außerdem konzediert er freimütig, daß er die Satellitendaten nach mehreren Kriterien und bewußt subjektiv gefiltert und modifiziert hat.

Schon durch das Eliminieren der Wolken entfällt ein entscheidendes, aus der Weltraumperspektive beherrschendes Merkmal. Bei Arealen, von denen wolkenfreie Aufnahmen nicht verfügbar waren, entfernten die Forscher die Wolken künstlich, Bildpunkt für Bildpunkt. Für niedrige und gemäßigte Breiten wählten sie Satellitenbilder aus, die eine ausgesprochen sommerliche Vegetation zeigen, für hohe Breiten und große Höhen solche mit ausgeprägter winterlicher Schneedecke. Sie verbreiterten künstlich die Flüsse, um sie sichtbar zu machen, und verwendeten Falschfarben – damit die Vegetationsdecke wirklichkeitsgetreuer aussieht.

Alle diese Entscheidungen dienen zwar einem sinnvollen Zweck, indem sie gewisse Aspekte der Erde hervorheben, wodurch die Karte nützlicher und leichter lesbar wird. Doch sollte man sich im klaren sein, daß die Abwesenheit von Wolken, die Ausdehnung der Vegetationsdecke, die Sichtbarkeit der Flüsse und die vielen Farben, die auf der Karte zu sehen sind, nicht Merkmale der Erde sind, wie sie ist, sondern wie der Kartograph sie interpretiert.

Zudem hat Van Sant die physischen Erscheinungen hervorgehoben, hingegen jegliche Spuren von Zivilisation unterdrückt. W. T. Sullivan von der Universität von Washington in Seattle wiederum verfertigte eine Karte, die auf geisterhafte Weise – anhand der künstlichen Beleuchtung bei Nacht und der Feuer in Ölförder- und Brandrodungsgebieten – die Aktivität des Menschen dokumentiert (Bild 3 rechts Mitte); und doch basiert sie ebenfalls auf wolkenfreien Bildern der TIROS-N-Satelliten. Lediglich das Nordpolarlicht ist ein Naturphänomen.

Eine dritte aus Satellitendaten entwickelte Karte (Bild 3 links) bietet eine weitere wissenschaftlich exakte, doch wieder völlig andersartige Sicht der Welt. William F. Haxby hat sie während seiner Tätigkeit am geologischen Lamont-Doherty-Observatorium der New Yorker Columbia-Universität in Palisades entworfen. Abgebildet sind Anomalien des irdischen Schwerefeldes am Ozeanboden, ermittelt aus Radarmessungen der Meeresspiegelhöhe vom Satelliten SEASAT. Entgegen dem ersten Anschein zeigt die – äußerst instruktive – Karte nicht die Topographie des Meeresbodens; die Fehlinterpretation liegt allerdings nahe, weil Haxby die Bildverarbeitung so programmierte, als wären die Abweichungen vom Mittelwert tatsächlich Höhen und Tiefen, noch dazu unter schräger, schattenwerfender Beleuchtung und in Farben, die im Schulatlas Gebirge, Flachland und die Meere kennzeichnen; die hier bedeutungslosen Kontinente sind der Aufmerksamkeit durch Schwarzfärbung entrückt.

Freilich ist jede Karte der Erdkugel subjektiv, weil Gestalt und Größenverhältnisse der dargestellten Einzelheiten nicht einfach in die Fläche zu übertragen sind. Die Kartographen lösen dieses Problem durch Kompromisse mit verschiedenen Projektionen. Van Sants Karte etwa gibt Formen recht genau wieder und nimmt dafür eine Verfälschung der Größenverhältnisse in Kauf, was in diesem Falle dem Zweck angemessen ist. Dagegen entschied sich die Umweltschutzorganisation Conservation International für eine flächentreue Projektion, bei der die Größenverhältnisse korrekt wiedergegeben werden, obgleich dann die Umrisse verzerrt sind (Bild 3 rechts oben). Dadurch wird die Größe Europas und Nordamerikas nicht, wie bei vielen herkömmlichen Projektionen, auf Kosten der tropischen Regionen übertrieben. Auch Conservation International verwendete Farben, um bestimmte Merkmale der Erde hervorzuheben – allerdings erkennbar falsche mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit auf bedrohte Waldregionen zu lenken.

Jede der hier besprochenen modernen Karten ist auf spezifische Weise mit besonderer Genauigkeit angelegt worden, und doch könnten die Ergebnisse kaum unterschiedlicher sein. Dies ist die Folge eines immanenten Widerspruchs: Karten sollen eine Welt objektiv wiedergeben, die nur subjektiv wiedergegeben werden kann, und allgemeine Anerkennung für ein Weltbild finden, dessen Nutzen doch gerade in seiner Einseitigkeit liegt.

Wenn aber die Brauchbarkeit einer Karte aus der parteilichen Hervorhebung für wichtig gehaltener Aspekte und dem Fortlassen vieler anderer herrührt, dann muß der Kartograph auch angeben, welche Auswahl unter den verfügbaren Daten und den möglichen Darstellungsweisen er getroffen hat. Aus dem Titel sollten die Projektionsart und die besonders hervorgehobenen Merkmale hervorgehen, so daß der Betrachter besser erkennen kann, was die jeweilige Karte leistet und was nicht.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1993, Seite 66
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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