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Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland


Der Autor, Soziologe und Historiker in Berlin, verspricht eine Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols. Diesen Anspruch löst er aber nicht ein.

Hasso Spode beschreibt für den Zeitraum von der germanischen Stammesgesellschaft im 1. nachchristlichen Jahrhundert bis heute eine kontinuierliche Entwicklung des Umgangs mit Alkohol, in der von außen gesetzte Regeln und Zwänge zunehmend abgelöst werden durch einen verinnerlichten Zwang in Form einer Selbststeuerung. Stationen dieses Prozesses sind das ritualisierte, gemeinschaftsstiftende Saufgelage der Germanen, der "Umbruch der Trinksitten" in der frühen Neuzeit, der den Reformator Martin Luther und etliche seiner Zeitgenossen veranlaßte, die Trunksucht als "Saufteufel" zu personifizieren, die "Branntweinpest" des 19. Jahrhunderts und schließlich die Suchtgesellschaft unserer Zeit.

Doch hier stellen sich bereits die ersten Fragen ein: Beschreibt Spode wirklich den alltäglichen Umgang mit Alkohol (dies ergäbe eine Sozialgeschichte) oder nicht vielmehr die in einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht entstandenen und dann schriftlich überlieferten Auffassungen vom Trinken – und damit einen sehr kleinen Ausschnitt aus der historischen Realität? Nach den verwendeten Quellen zu urteilen, bezieht er sich (zumindest für die Zeit bis zum 18. Jahrhundert) vorwiegend auf den Diskurs über Alkohol; der Leser muß den Eindruck gewinnen, das, was eine meist kleine soziale Gruppe schriftlich hinterlassen hat, entspreche dem realen Verhalten zum Beispiel von Bauern und Handwerkern.

Aussagen über den tatsächlichen Alkoholkonsum in einer bestimmten Zeit und Region und seine Bedeutung für die damals dort lebenden Menschen würden sorgfältige Studien über die Produktion geistiger Getränke voraussetzen und darüber, wem welche überhaupt zugänglich waren, wie es sich mit dem Eigenverbrauch und den Erwerbsinteressen der Hersteller verhielt und vieles mehr; dazu wäre außer zeitgenössischen publizierten Quellen weiteres Material wie Gerichts- und Zunftakten oder Tagebuchaufzeichnungen heranzuziehen. Hingegen verläßt sich Spode über weite Strecken auf die traditionellen, im 19. und frühen 20. Jahrhundert publizierten Kultur- und Sittengeschichten und nutzt nur gelegentlich ältere Quellen, insbesondere Kirchen- und Polizeiordnungen, die häufig normativen, nicht deskriptiven Charakter haben.

Der Schwerpunkt der Darstellung gilt der Mäßigungsbewegung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Für diese Zeit ist die verwendete Quellenbasis sehr viel breiter und umfaßt auch die Zeitschriften der Abstinenz- und Temperenzvereinigungen sowie zeitgenössische statistische Handbücher. Aber selbst für diesen den Autor offenbar besonders interessierenden Zeitraum finden sich irritierende Unrichtigkeiten: Spode beschreibt im Zusammenhang mit gesellschaftlich akzeptierten Deutungen der Trunksucht auch die Theorie der Degeneration, die der französische Irrenarzt Augustin-Benoît Morel Mitte des 19. Jahrhunderts formulierte. In Anlehnung an die Sekundärliteratur referiert Spode korrekt, daß Morel den Alkohol als Ursache einer Keimschädigung und der daraus folgenden Entartung auffaßt und damit als Ursache für eine Vielzahl körperlicher und psychischer Störungen in den Nachfolgegenerationen (Seiten 136 bis 138). Dann aber (Seite 139) dreht er die Kau-salbeziehung um und macht die Trunksucht zur Folgeerscheinung der Degeneration. Die selbstgebraute Version der Theorie benutzt er dann als Beleg für ein medizinisches Denken, das Alkoholismus auf erbliche Ursachen zurückführt.

Diese Fehldeutung einer für Spodes Argumentation zentralen medizinischen Position steht neben mancherlei Fehlern im Detail. So wird etwa Sigmund Freud neben Emil Kraepelin und Auguste Forel als "einer der renommiertesten Psychiater" der Zeit um l900 aufgezählt (Seite 137); Freud war jedoch nie Psychiater, sondern von seiner Ausbildung her Neurologe. Im deutschen Sprachraum mit Ausnahme der Schweiz wurde die von Freud begründete Psychoanalyse jahrzehntelang von der überwiegenden Mehrheit der (Hochschul-)Psychiatrie abgelehnt. Trotzdem hatte sie auf die Theoriebildung in der von der Psychiatrie getrennt institutionalisierten Psychotherapie und Psychosomatik und auch in den Sozialwissenschaften erheblichen Einfluß, auch im Zusammenhang mit Theorien über (Trunk-)Sucht. Spodes Buch läßt diesen Traditionsstrang professioneller Theoriebildung völlig außer acht.

Für die Interpretation seines Materials bezieht Spode sich ganz wesentlich auf die Zivilisationstheorie des Soziologen Norbert Elias; dieser begreift "zivilisiertes Verhalten" als Resultat historisch kontinuierlich zunehmender Affektkontrolle, veranlaßt durch zunächst äußere, dann zunehmend verinnerlichte Zwänge. Seine Auffassung vom Verlauf der Geschichte gewann Elias aus der Untersuchung der höfischen Gesellschaft, also eines sehr begrenzten Ausschnitts der europäischen Geschichte. Spode jedoch behandelt diese Deutung historischer Phänomene so, als sei sie identisch mit der Realität des Geschichtsablaufs. Er übergeht auch die Begrenzung der Theorie auf die kurze Zeitspanne der höfischen Gesellschaft: Bei ihm ist die Menschheitsgeschichte insgesamt eine Geschichte zunehmend verinnerlichter Zwänge.

Die Verallgemeinerung der Theorie von Elias und auch die ihr inhärenten Fragwürdigkeiten (wie sie etwa der Bremer Ethnologe und Kulturwissenschaftler Hans Peter Duerr aufgezeigt hat) werden an keiner Stelle diskutiert oder auch nur erwähnt. Spode macht also genau das, was er als Selbstmißverständnis historischer Akteure im Alkohol-Diskurs aufzudecken versucht: Er setzt seine eigene Deutung eines Sachverhalts – eine von vielen möglichen – mit der Wirklichkeit gleich. Die Trunksucht, so hat er uns doch gezeigt, ist keine Krankheit, sondern sie kann als solche gedeutet werden – aber auch zum Beispiel als moralische Verfehlung.

Außer diesen kritischen Einwänden zum Inhalt muß hier die äußere Form des Buches kurz erwähnt werden. Erfreulich ist das umfangreiche Literaturverzeichnis, das allerdings benutzerunfreundlich in fünf getrennte, jeweils alphabetisch geordnete Abschnitte aufgeteilt ist. Neben dem sehr vollständigen Personenregister hätte man sich auch ein Sachregister gewünscht. Unerfreulich ist, daß das Lektorat sehr flüchtig gearbeitet hat; das zeigt nicht nur der unkorrekte Gebrauch von Fachtermini (Seite 142: Anamnese statt Ätiologie/Pathogenese; Seite 119: Diätik statt Diätetik), sondern auch die Fülle von Druckfehlern (nicht selten mehrere auf einer Seite, so Seite 82).

Fazit: Dies ist ein sehr ambitioniertes und materialreiches Buch, das jedoch den selbstgestellten Ansprüchen in der Konzeption, in der inhaltlichen Ausführung und in der äußeren Form nicht gerecht wird.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1995, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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