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Die meisten Medikamente von morgen sind heute schon in der klinischen Prüfung

Wo werden wir im Kampf gegen die großen Krankheiten unserer Zeit in den nächsten Jahren stehen? Einen wesentlichen Teil dieser Antwort kann ein Blick in die "Pipeline"der forschenden pharmazeutischen Unternehmen liefern.

Nur aus einer von rund 6000 bis 10000 neuen Verbindungen entsteht am Ende eines langen Prozesses der vorklinischen und klinischen Forschung der Pharma-Unternehmen ein neues Medikament (siehe Kasten Seite 98). Und nur eine Handvoll davon verdient die Bezeichnung new chemical entity. Im Jahre 1990 gab es weltweit 43 solcher Novitäten. Die Kosten, bis ein neues Präparat auf den Markt kommt, liegen bei 450 Millionen DM. Die großen Pharma-Unternehmen investieren zusammen jährlich schätzungsweise etwa 60 Milliarden DM in die Forschung.

Der hohe Entwicklungsaufwand, die langwierige Prüfung bis zur Zulassung eines Medikaments, internationale Konkurrenz, ein Markt, auf dem ein überlegenes Produkt rasch mehrere eingeführte verdrängen kann, strapaziert die Wirtschaftskraft selbst von Branchenriesen. Ende der achtziger Jahre gab es daher zwei sogenannte Elefantenhochzeiten: Das amerikanische Unternehmen SmithKline schloß sich mit der britischen Firma Beecham zusammen, und in den USA fusionierten Bristol-Myers und Squibb. Anfang der neunziger Jahre folgte der Zusammenschluß des französischen Unternehmens Rhône-Poulenc mit dem amerikanischen Konzern Rorer.

Wunsch eines jeden forschenden Pharma-Unternehmens ist ein blockbuster – ein Knüller wie Zantac vom englischen Pharma-Konzern Glaxo: Es hat als erstes und bislang einziges Medikament einen Umsatz von drei Milliarden Dollar (etwa 4,5 Milliarden DM) in einem Jahr erzielt.

Zantac – in Deutschland Zantic – hat schon Millionen Menschen für immer oder wenigstens für einige Zeit von ihren Dünndarm- oder Magengeschwüren befreit. Sein Wirkstoff hemmt die Typ- 2-Rezeptoren für das Gewebehormon Histamin, das darüber die Ausschüttung von Magensäure anregt. Die zu dieser Medikamentengruppe zählenden Präparate heißen deshalb auch H2-Antihist-aminika.

Der Innovationsdruck indes ist stark. Hatte Zantac das Vorläufer-Präparat Tagamet von SmithKline in seiner Wirkung übertroffen, könnte ihm das gleiche jetzt von Antra widerfahren oder in weiterer Zukunft von Lansoprazol; sowohl das Produkt des schwedischen Pharma-Konzerns Astra als auch das des japanischen Herstellers Takeda sollen noch wirksamer, vor allem aber mit noch weniger Nebenwirkungen behaftet sein.

Nur wenigen pharmazeutischen Firmen sind jedoch Blockbuster vergönnt, die ganze Gruppen bisheriger Arzneimittel hinwegfegen. Solche Präparate müssen nicht nur anderen Medikamenten signifikant überlegen sein, sondern auch einen entsprechenden Markt vorfinden, das heißt von Millionen Patienten gebraucht werden.

Herz und Kreislauf

Unter diesen Umständen ist es kein Zufall, daß sich unter den zehn umsatzstärksten Medikamenten gleich vier gegen Bluthochdruck befinden. Daran leidet in den westlichen Industriestaaten etwa ein Fünftel der Bevölkerung. Experten schätzen den Markt für blutdrucksenkende Mittel auf 18 Milliarden DM jährlich. Die Behandlung von Bluthochdruck steht deshalb in der Prioritätenli-ste der Ärzte ganz oben, weil er außer allgemeinen leistungsmindernden Beschwerden verhängnisvolle Veränderungen verursacht, die ihn zu einem wichtigen Risikofaktor machen für Arteriosklerose, Nieren- und Herzversagen sowie Herzinfarkt und Schlaganfall.

Im Gegensatz zu vielen anderen chronischen Erkrankungen, bei denen – wie beispielsweise bei Rheuma – die therapeutischen Möglichkeiten noch sehr unzureichend sind, läßt sich der Bluthochdruck mit einer stattlichen Anzahl von Präparaten unter Kontrolle halten. An ihrer Spitze stehen die Beta-Blocker, die Calcium-Antagonisten und die ACE-Hemmer (nach englisch angiotensin converting enzyme, Angiotensin umwandelndes Enzym).

Die Beta-Blocker schirmen das Herz gegen zu starke Reize von Adrenalin und anderen Stress-Hormonen ab, indem sie die entsprechenden Rezeptoren auf den Zellen des Herzmuskels besetzen und blockieren (Adrenalin verengt über seine Alpha-Rezeptoren die peripheren Gefäße, erhöht in größeren Dosen den Blutdruck und läßt über seine Beta-Rezeptoren das Herz verstärkt schlagen).

Die Calcium-Antagonisten hingegen, deren Wirkung 1964 der Freiburger Physiologe Albrecht Fleckenstein entdeckt hat, tragen über ihren Effekt auf die winzigen Calciumkanäle der Gefäßmuskulatur dazu bei, daß sich auch die verengten Blutgefäße am Herzen erweitern; folglich bessert sich die Durchblutung der Herzkranzgefäße, und der Blutdruck sinkt.

Die ACE-Hemmer schließlich hemmen das Enzym, das Angiotensin I (eine inaktive Vorstufe) in das stark gefäßverengende, blutdrucksteigernde Angiotensin II umwandelt (Bild 1). Sie wirken bei etwa 50 Prozent der Patienten blutdrucksenkend.

Pionierarbeit bei den Mitteln gegen Bluthochdruck leisteten unter anderen der britische Konzern Imperial Chemical Industries (ICI), die Bayer AG in Leverkusen, die Knoll AG in Ludwigshafen (ein Tochterunternehmen der BASF) und Bristol-Myers-Squibb. Mit Vasotec hat die amerikanische Firma Merck und Co inzwischen den ersten ACE-Hemmer entwickelt, der nur einmal täglich eingenommen werden muß (Merck nennt sich in Deutschland, um eine Verwechslung mit dem in Darmstadt ansässigen Unternehmen E. Merck zu vermeiden, aus historischen Gründen MSD, Merck, Sharp & Dohme).

Trotz immenser Aktivitäten deuten sich in den Labors der Pharmafirmen keine umwälzenden Neuerungen zur Therapie des Bluthochdrucks und der koronaren Herzerkrankung an (und schon länger Bewährtes – wie Nitratpräparate zur Erweiterung der Herzkranzgefäße oder die Alpha-Blocker – wird auch weiterhin verordnet). Merck in den USA beispielsweise erwartet von dem ACE-Hemmer Losartan verringerte Nebenwirkungen wie den charakteristisch trockenen Husten; das Präparat befindet sich in Phase III der klinischen Prüfung (siehe Kasten Seite 98), der Zulassungsantrag soll in der zweiten Hälfte 1993 gestellt werden.

Auch an Stoffen, die Plaques genannte arteriosklerotische Gewebsveränderungen in den Blutgefäßwänden verhindern, wird geforscht. So sucht man das Hormon Endothelin zu hemmen, wenn es das Wachstum der die Gefäßwände auskleidenden Endothelzellen übermäßig fördert.

Des weiteren hofft man, dem oft tödlichen Verschluß von Arterien durch einen Blutpfropf (Thrombus) noch besser mit Hirudin begegnen zu können (Bild 2 oben). Dieses hochmolekulare Protein ermöglicht es dem Blutegel (Hirudo medicinalis), Blut zu saugen, ohne daß es sofort gerinnt. Gentechnisch hergestelltes Hirudin soll vorbeugend gegen Thrombosen nach Operationen sowie zur Begleitbehandlung bereits bestehender Blutgerinnsel eingesetzt werden. An dem Projekt arbeiten die deutsche Hoechst AG, das Schweizer Unternehmen Ciba-Geigy und Sanofi in Frankreich gemeinsam. Die klinische Prüfung des Medikaments befindet sich in der dritten Phase.

Gleich drei Präparate gegen Thrombose sind bei Boehringer Ingelheim in Entwicklung. Sie sollen die Zusammenballung von Blutplättchen durch die Blockade von Fibrinogen verhindern – der Vorstufe von Fibrin, das bei der Blutgerinnung zu einem Fasernetz polymerisiert (Bild 2 rechts); zudem konzentrieren sich die Forscher dort auf das von Endothelzellen erzeugte Prostacyclin – das Gewebehormon soll die Aggregation von Blutplättchen tausendmal stärker hemmen als beispielsweise die Acetylsalicylsäure, der Wirkstoff von Aspirin, und schon vorhandene Mikrothromben auflösen.

Im Speichel bluttrinkender Vampire gibt es Wirkstoffe, die nur einen massiven Blutpfropfen auflösen, nicht aber die Gerinnung hemmen. Sie sucht die Schering AG in Berlin zu nutzen (siehe Beitrag auf Seite 105).

Viele internationale Studien belegen, daß ein erhöhter Cholesterin-Spiegel ein wichtiger Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist. Cholesterin-Senker, die das Übel an der Wurzel bekämpfen, haben zahlreiche Firmen auf den Markt gebracht. Sie sind sich chemisch sehr ähnlich und hemmen ein Coenzym, ohne das dann die Produktion von Cholesterin in der Leber nicht ablaufen kann. Für den Coenzym-A-Reductase-Hemmer Lescol, der sich durch verhältnismäßig wenige Nebenwirkungen auszeichnen soll, hat die Schweizer Sandoz AG die weltweite Zulassung beantragt.

Mevinacor, das erste Mittel dieser Art, war ein Produkt der sogenannten rationalen Pharmaforschung, die der Präsident der US-Firma Merck und Pionier auf diesem Gebiet, Roy Vagelos, so beschreibt: „Früher haben wir neue chemische Substanzen auf eine mögliche Wirkung getestet, indem wir sie Versuchstieren injizierten und beobachteten, was geschah. Heute gehen wir von den pathophysiologischen Erkenntnissen über die molekularen Ursachen einer Erkrankung aus. Wir versuchen diesen Prozeß zu stoppen, indem wir ganz gezielt eines der daran beteiligten Enzyme hemmen oder fördern. Das ist ein so punktueller Eingriff, daß dabei in der Regel auch die Nebenwirkungen sehr viel geringer sind als bei Arzneimitteln, die viele andere – oft am Krankheitsgeschehen völlig unbeteiligte – Zellgruppen ebenfalls beeinflussen.“

Rationale Pharmaforschung ist freilich weitgehend von den Erkenntnissen abhängig, die ihr Pathophysiologie und Biochemie bereitstellen. Vielfach aber liegen die Ursachen einer Krankheit noch weitgehend im dunkeln. Das gilt vor allem für eine der traurigsten Krankheiten unserer Zeit – die Alzheimer-Demenz (siehe Beitrag auf Seite 102).

Hirnleistungsstörungen im Alter

Oft ist es schwierig, ein frühes Stadium dieses fortschreitenden geistigen Verfalls von altersbedingten Hirnleistungsstörungen anderer Art abzugrenzen; bei allen Demenzen gleichen sich die ersten Symptome wie Konzentrationsstörungen, Vergeßlichkeit und Antriebsschwäche.

Bayer hat zur Behandlung von Hirnleistungsstörungen den Calcium-Antagonisten Nimotop geschaffen, der gezielt im Gehirn wirkt. Pharmakenner sehen in ihm einen zukünftigen Blockbuster. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß sein Nutzen bei Demenzen auch überzeugend nachgewiesen werden kann. Die Bedeutung dieses Gebiets läßt sich allein schon daran ablesen, daß heute rund 15 Prozent der über Sechzigjährigen und etwa 30 Prozent der Achtzigjährigen an altersbedingten Hirnleistungsstörungen leiden. Und im nächsten Jahrtausend wird der Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung weiter dramatisch steigen.

Psychopharmaka

Bessere Erkenntnisse über die Molekularbiologie der Psyche erleichtern auch eine rationale Entwicklung von Medikamenten gegen Depressionen, Angstzustände und Schizophrenie. Dennoch spielt oft der glückliche Zufall eine Rolle. So hat Hoffmann-La Roche 1991 das Antidepressivum Aurorix herausgebracht; eigentlich hatte es ein Lipid-Senker werden sollen. Es gehört zu der inzwischen großen Gruppe der MAO-Hemmer, die bereits das erste Mittel gegen Depression geliefert hat. (Sie hemmen Monoaminooxidasen, die in den Nervenzellen bestimmte Neurotransmitter abbauen.)

Andere bereits erfolgreich bewährte Präparate setzen an dem jeweiligen System an, das solche Transmitter nach der Ausschüttung sogleich wieder in die Zelle zurückholt. Dessen Hemmung sorgt für eine längere Einwirkung der Botenstoffe auf die nachgeschaltete Zelle. Wegbereitend war das amerikanische Unternehmen Eli Lilly mit dem Antidepressivum Prozac (in Deutschland als Fluctin vertrieben). Ähnliche Präparate verschiedener Unternehmen, darunter von Boehringer-Ingelheim, stehen in der klinischen Erprobung oder kurz davor.

Da der derzeitige Kenntnisstand erst jüngst in mehreren Beiträgen dieser Zeitschrift dargestellt wurde (November 1992, Seite 30 und Seite 114), möchte ich nur noch erwähnen, daß für die zweite Hälfte der neunziger Jahre auch neue Präparate zur Behandlung der Schizophrenie angekündigt sind. 1997 soll beispielsweise Alosetron von Glaxo auf den Markt kommen. Das Präparat, das sich gegenwärtig in der vorklinischen Prüfung befindet, blockiert die sogenannten 5HT3-Rezeptoren des Neurotransmitters Serotonin.

Mercks angekündigtes Roxinan hingegen – es entstammt der Zusammenarbeit mit Astra in Schweden – blockiert die Typ-2-Rezeptoren des Neurotransmitters Dopamin. Auf Dopamin-Rezeptoren zielen auch das Präparat HP236 von Hoechst-Roussel und Clozaril von Sandoz.

Antibiotika im Wettlauf mit bakteriellen Erregern

Neue Antibiotika aufzuspüren, bemühen sich Forscher aller großen Pharmakonzerne. Große Hoffnungen setzt die Medizin heute auf Cephalosporine. Cephalosporium ist eine Pilzgattung mit etwa 70 Arten. Den ersten, allerdings sehr schwach antibiotisch wirksamen Stamm Cephalosporium acremonium hatte der italienische Mikrobiologe Giuseppe Brotzu 1945 auf Sardinien entdeckt. Es dauerte allerdings bis in die sechziger Jahre, bis man weit wirksamere Stämme entdeckt und vor allem die Struktur ihrer Wirkstoffe ermittelt hatte. Sie ist der des Penicillins sehr ähnlich.

Cephalosporine haben ein sehr breites Wirkspektrum und eignen sich zur Bekämpfung von gramnegativen wie auch grampositiven Bakterien (die Bezeichnungen gehen auf eine von dem dänischen Physiologen Hans Christian Gram entwickelte Färbemethode zurück). Sie greifen die Zellwand der Keime an, wobei ihnen deren Abwehrenzyme, die Penicillinasen, nichts anhaben können.

Bei Hoffmann-La Roche erwartet man noch in diesem Jahr die Zulassung für ein Cephalosporin der dritten Generation – Globocef. Für 1995 hat Bristol-Myers-Squibb sein Cefepim angekündigt, und auch Hoechst will seinen äußerst erfolgreichen Cephalosporin-Klassiker Claforan baldigst durch einen Nachfolger ablösen.

Im ständigen Wettlauf gegen die Entwicklung von Antibiotika-Resistenzen bei Erregern haben sich seit einigen Jahren die Chinolone erfolgreich etabliert. Sie kommen in der Natur nicht vor, sondern sind vollsynthetische Produkte. Die Chinolone, deren erfolgreichstes Präparat Ciprobay von Bayer ist, blockieren das Enzym Gyrase; nur mit seiner Hilfe können Bakterien ihre ringförmige DNA, ihre Erbsubstanz-Moleküle, überhaupt in eine überspiralisierte Form bringen.

Auch die Chinolone wirken gegen ein breites Spektrum hartnäckiger Erreger, wie etwa gewisse Stämme von Escherichia coli, die Durchfälle und Harnwegsinfektionen hervorrufen, oder das Pfeiffer-Bazillus (Hämophilus influenzae), das nicht selten die Virusgrippe kompliziert. Auch Pseudomas aeruginosa, eine Bakterienart, die eitrige Entzündungen unter anderem des Darms und der Hirnhäute auslösen kann, sowie Legionella pneumophila, der Verursacher der gefürchteten Legionärskrankheit, gehören zur Klientel der Chinolone. Mit Megalone ist noch für dieses Jahr ein neues Präparat von Hoffmann-La Roche angekündigt.

Antivirale Medikamente

Schon 1981 konnte das britische Unternehmen Borroughs Wellcome mit seinem Zovirax das erste hochwirksame Mittel gegen bestimmte Virusinfektionen vorlegen. Sein Wirkstoff Aciclovir stört insbesondere die DNA-Synthese von Herpes-Viren, die beispielsweise für Lippen- und vor allem für Genital-Herpes verantwortlich sind. Diese Haut- und Schleimhauterkrankung im Genitalbereich breitet sich seit Jahren mehr und mehr aus. Aber auch Gürtelrose und andere Virusinfektionen lassen sich mit Zovirax behandeln. Sein großer Nachteil ist, daß es beispielsweise bei Genital-Herpes vier- bis fünfmal täglich eingenommen werden muß.

Mit 256 U und 882 C hat Wellcome bereits zwei Nachfolgepräparate in der Pipeline. Dabei ist der Wirkstoff von 256 U eine Vorstufe von Aciclovir, die erst im Organismus in die gewünschte Form umgewandelt wird. Sein Vorteil: Er wird schneller ins Blut aufgenommen und braucht nur in größeren Abständen gegeben zu werden.

882 C ist wie die anderen ein Nucleosid-Analogon, also eine Substanz, die einem der vier DNA-Bausteine ähnelt. Es soll vor allem gegen den Erreger von Windpocken und Gürtelrose wesentlich wirksamer sein als Zovirax. Für 1995 hat nun SmithKline-Beecham mit Penciclovir ein Konkurrenzpräparat angekündigt. Der amerikanisch-britische Konzern hat kürzlich auch für Havrix, den weltweit ersten Impfstoff gegen Hepatitis A, in Deutschland die Zulassung erhalten.

Ein weiteres Nucleosid-Analogon ist Retrovir – ein ursprünglich von Wellcome für die Krebstherapie entwickeltes Mittel, das lange Zeit das einzige Medikament zur Behandlung von HIV-Infizierten und AIDS-Patienten war. Sein Wirkstoff, das Azidothymidin (AZT), behindert bevorzugt die Arbeit der Reversen Transkriptase; das Enzym ist für Retroviren und damit auch für das AIDS verursachende Human-Immunschwäche-Virus (HIV) charakteristisch. Das Präparat kann freilich Ausbruch und Verlauf der tödlichen Virusinfektion nicht verhindern, aber immerhin verzögern.

Seit Herbst vergangenen Jahres hat mit Videx ein zweites AIDS-Mittel die Zulassung erhalten. Sein Wirkstoff, der von Bristol-Myers-Squibb entwickelt wurde, ist Didesoxyinosin (ddI), wiederum ein (wenn auch indirektes) Nucleosid-Analogon; denn ddI wird erst im Organismus zu dem ungeeigneten Baustein Didesoxyadenosin-triphosphat verstoffwechselt.

Videx hat den großen Vorteil, daß es nur noch ein- oder zweimal am Tag genommen werden muß, offenbar das Knochenmark der Patienten – also den Ort, an dem sich aus Stammzellen alle Blutzellen neu bilden – nicht schädigt und noch wirksam ist, wenn nach langer Behandlung mit Retrovir die AIDS-Viren auf dieses Medikament nicht mehr ansprechen. Videx ist zur Therapie bei Erwachsenen und Kindern über sechs Monate zugelassen, wenn eine Unverträglichkeit oder Resistenz gegen Retrovir besteht.

Ein weiterer Wirkstoff dieser Gruppe ist Didesoxycytidin (ddC). Hoffmann-La Roche erhofft sich damit hauptsächlich Therapieerfolge bei fortgeschrittener Immunschwäche. Ob Didesoxycytidin allein oder in Kombination mit anderen virushemmenden Mitteln wie Retrovir oder Videx eingesetzt werden sollte, ist noch nicht geklärt.

Merck USA, Glaxo und Boehringer Ingelheim haben ebenfalls neue AIDS-Medikamente in der Pipeline. Insgesamt wird an fast 250 Verbindungen gegen die Immunschwäche gearbeitet, sei es als Impfstoff oder als Therapeutikum.

Krebs

Im Kampf gegen Krebs – wir kennen heute rund einhundert verschiedene Tumorerkrankungen – gilt die medikamentöse Therapie bislang meist erst als dritte Waffe nach Operation und Bestrahlung. Immer häufiger werden jedoch alle drei Therapieformen kombiniert. Dabei zielt die Chemotherapie meist darauf ab, von der Operation oder Bestrahlung nichterfaßte Krebszellen abzutöten und Metastasen zu verhindern. Operation und Bestrahlung können so oft weniger radikal als bisher eingesetzt werden.

In der Vergangenheit stieß die Krebs-Chemotherapie wegen der Nebenwirkungen vieler Präparate immer wieder auf enge Grenzen. Vor allem Erbrechen und ein ständiges Gefühl der Übelkeit waren für viele Patienten so unerträglich, daß die an sich hilfreiche Behandlung abgebrochen werden mußte. Diese Situation hat sich durch ein Präparat von Glaxo erfreulich geändert.

Zofran blockiert die Rezeptoren für Serotonin, dem Hauptverantwortlichen für die Brechanfälle. Zusammen mit dem Krebstherapeutikum gegeben, lindert es den Brechreiz bei etwa zwei Dritteln der Patienten und verbessert so ihr subjektives Befinden während der Chemotherapie. Auch Sandoz bietet ein neues Antimetikum an. Novapan lindert bereits bei einmaliger täglicher Einnahme die Begleiterscheinungen der Krebs-Chemotherapie.

Bei den geschlechtshormonabhängigen Formen von Prostatakrebs bringen sogenannte Freisetzungs-Hormone einen großen therapeutischen Fortschritt. Zahlreiche Varianten dieser im Hypothalamus hergestellten Verbindungen – einem wichtigen Steuerzentrum für hormonelle Regelkreise – hemmen die Aktivität der Keimdrüsen. Bei dieser reversiblen chemischen Kastration wird die Ausschüttung von Geschlechtshormonen vermindert oder völlig lahmgelegt und damit das Krebswachstum gedrosselt. Bekannte Präparate sind Zoladex von ICI und Suprefact von Hoechst.

Ciba Geigy hat mit Lentaren für einen Aromatase-Hemmer die Zulassung beantragt, der spezifisch bei hormonabhängigem Brustkrebs wirkt. Das Enzym Aromatase ist für die Synthese von Östrogen aus Androgenen erforderlich.

Eine nahezu sensationelle Entdeckung machten amerikanische Forscher vor wenigen Jahren. Sie fanden in den Nadeln von Eiben (Gattungsname Taxus) eine Substanz mit ausgesprochen krebswachstumshemmender Wirkung. Taxol von Bristol-Myers-Squibb, dem Unternehmen mit dem seit langem größten Sortiment von Krebsmedikamenten, befindet sich in der Schlußphase der klinischen Prüfung.

Auch der französisch-amerikanische Konzern Rhône-Poulenc Rorer konzentriert sich in seiner Forschung auf ein Anti-Krebsmittel auf Eibenbasis (siehe Kasten auf Seite 99). Taxotere soll ab 1996 gegen Lungen-, Brust- und Unterleibskrebs angewandt werden.

Große Hoffnungen setzen Pharmaforscher und Krebstherapeuten seit einigen Jahren auf die sogenannten Cytokine. Sie vermitteln Informationen zwischen Zellen und regen die Vermehrung körpereigener Abwehrzellen an. Zu diesen „Zellbewegern“ gehören unter anderen die Interleukine und Interferone, aber auch die sogenannten koloniestimulierenden Faktoren.

Interferone haben sich nur gegen einige Krebserkrankungen, beispielsweise gegen die Haarzell-Leukämie, besonders bewährt. Große Hoffnungen werden gegenwärtig auf Intron A des amerikanischen Unternehmens Schering-Plough und auf Roferon A von Hoffmann-La Roche gesetzt. Beide Medikamente gehen auf Entwicklungen des amerika-nischen Biotechnologie-Unternehmens Biogen zurück.

Koloniestimulierende Faktoren (CSF, nach dem englischen Begriff hierfür) regen die Produktion von weißen Blutkörperchen wie Granulocyten, Makrophagen und Monocyten an, indem sie Vermehrung und Reifung von Stammzellen im Knochenmark und den daraus hervorgehenden Vorläufern der verschiedenen Abwehrzellen fördern. (Makrophagen beispielsweise schütten den Tumor-Nekrose-Faktor aus, der Krebszellen vernichten hilft.)

Die Proteine werden im Organismus von Menschen und Säugetieren nur in geringsten Mengen produziert. Ihr Einsatz als Medikamente wurde erst möglich, nachdem ihre gentechnische Herstellung gelungen war. Die Voraussetzung dafür hatte das junge amerikanische Biotechnologie-Unternehmen Amgen geschaffen, dessen Forscher das Gen für den auf Granulocyten wirkenden koloniestimulierenden Faktor (G-CSF) klonierten. Seit 1991 wird G-CSF unter dem Markennamen Neupogen gemeinsam von Hoffmann-La Roche und Amgen auch in Deutschland vertrieben.

Die Zulassung für einen weiteren koloniestimulierenden Faktor – GM-CSF – ist bereits erteilt; er regt die Bildung sowohl von Granulocyten als auch von Monocyten an. Entwickelt wurde er vom Schweizer Pharmakonzern Sandoz gemeinsam mit dem amerikanischen Genetics Institute und Schering Plough. Unter der Bezeichnung Leucomax soll er noch in diesem Jahr in Deutschland erhältlich sein. Er kann die Abnahme weißer Blutkörperchen im Gefolge einer Chemotherapie kompensieren helfen und nach Knochenmarktransplantationen den rascheren Aufbau eines funktionierenden Immunsystems ermöglichen.

Ein weiteres interessantes Feld sind monoklonale Antikörper; sie gewinnen zunehmend Bedeutung für die Krebsdiagnose und versprechen auch einiges für die Krebstherapie. Für ihre Entwicklung wurden der Argentinier César Milstein und der Deutsche Georges Köhler 1984 mit dem Nobelpreis für Medizin und Physiologie ausgezeichnet. Nach ihrer Methode lassen sich beliebige Mengen eines gewünschten Antikörpers – gewissermaßen in Reinzucht, als Monoklon – herstellen.

Eine ganze Reihe von Unternehmen hat monoklonale Antikörper in der Entwicklung. Boehringer Ingelheim arbeitet beispielsweise an solchen, die vor allem zum Auffinden von Tochtergeschwülsten bestimmt sind. Die meisten Krebspatienten sterben bekanntlich nicht an dem – oft entfernbaren – Primärtumor, sondern an den Metastasen. Hier könnten die für die jeweilige Tumorerkrankung maßgeschneiderten monoklonalen Antikörper als Träger für Krebspräparate einen neu-en Therapieansatz bieten.

Die amerikanische Biotechnologie-Firma Cytogen hat einen Antikörper entwickelt, der Darmtumoren aufspüren soll, die in Seattle (USA) ansässige NeoRx einen für Lungentumoren.

Rheumatischer Formenkreis

Rheuma gehört zu den großen Volkskrankheiten unserer Zeit. Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, der unterschiedlichste funktionsbeeinträchtigende Zustände des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes umfaßt, gehen oft mit hohem Leidensdruck einher. Allein in Deutschland sind etwa vier Millionen Menschen davon betroffen. Experten schätzen die jährlichen finanziellen Aufwendungen für Arbeitsunfähigkeit und Frühinvalidität auf rund 20 Milliarden DM. Damit ist Rheuma – zumindest bei uns – die wohl kostspieligste Erkrankung unserer Zeit.

Viele Pharmafirmen konzentrieren sich gegenwärtig auf die Arzneimittelforschung für rheumatische Erkrankungen. Deren Ursachen sind bislang weitgehend ungeklärt. Fest steht nur, daß Fehlsteuerungen im Immunsystem eine entscheidende Rolle spielen, durch die körpereigene Zellen attackiert werden. Wenigstens ein Teil der rheumatischen Erkrankungen gehört damit zu dem noch weitgehend erforschungsbedürftigen Kreis der Autoimmunerkrankungen.

Neben die traditionellen Rheumamittel, die schmerzlindernd und entzündungshemmend, aber nicht ursächlich wirken, treten daher heute folgerichtig Präparate gegen Autoimmunkrankheiten.

Hoechst hat mit Leflunomid ein Medikament in der klinischen Prüfung, das sich sowohl zur Unterdrückung von Abstoßungsreaktionen bei Organverpflanzungen als auch zur Behandlung von Rheuma sowie anderen Autoimmunerkrankungen eignen soll (Bild 3).

Für den Klassiker Sandimmun – ein Präparat mit dem Wirkstoff Cyclosporin A, das bisher vorwiegend zur Unterdrückung von Abstoßungsreaktionen bei Organtransplantationen eingesetzt wurde – hat Sandoz eine Zulassungserweiterung beantragt. Für die Behandlung der Schuppenflechte ist sie bereits erfolgt, für die rheumatische Arthritis wird die Freigabe in diesem Jahr erwartet. Zwei Weiterentwicklungen von Sandimmun befinden sich bereits in Phase II beziehungsweise Phase III der klinischen Erprobung.

Eine mögliche Weltneuheit

Die Leberzirrhose zählt gegenwärtig noch zu den Krankheiten mit einem nahezu unaufhaltsamen Verlauf. Alkoholmißbrauch oder eine Virus-Hepatitis können Leberzellen schädigen, so daß sie untergehen und durch Bindegewebe ersetzt werden. Hat ein solcher Prozeß ein größeres Ausmaß erreicht, bleibt als letzte Rettung nur noch eine Lebertransplantation (aber auch das neue Organ kann dann von im Körper verbliebenen Viren wieder infiziert werden).

Bei Hoechst befindet sich nun ein Präparat in der Entwicklung, daß einen großen Fortschritt gegen Leberzirrhose bringen könnte. Es hemmt die Synthese von Kollagen, dem Hauptbestandteil des Bindegewebes, und verhindert die weitere Vernarbung. Lufironil-HOE77 wirkt spezifisch, das heißt es wird ausschließlich von Enzymen in der Leber in eine wirksame Form gebracht, dagegen nicht in anderen Organen. Phase II der klinischen Erprobung hat gerade begonnen; die Zulassung wird für 1996 oder 1997 erwartet.

Forschung als Investition in die Zukunft

Die Aufzählung wichtiger Medikamentenentwicklungen ließe sich noch über Seiten fortsetzen. Schneller als die Zahl der Erfolge klettern heute freilich die Aufwendungen für Forschung, Entwicklung und klinische Erprobung neuer Pharmaka. Bei den meisten forschenden Firmen liegen sie schon jetzt bei über zehn Prozent der Jahresumsätze – das sind bei den Großen der Branche mehrere Milliarden DM.

Der Zuwachs auf den Märkten kann damit nicht Schritt halten. Die pharmazeutische Industrie sieht die Belastungen durch die Anfang des Jahres in Kraft getretene Gesundheitsreform in Deutschland noch zusätzlich verstärkt. Wie läßt sich das Problem lösen?

Eine der wichtigsten Chancen liegt in der rationalen, planvollen Entwicklung von Substanzen aufgrund klarer Einsichten in die Abläufe des Krankheitsgeschehens. Für alle Firmen gilt: Die Entwicklungszeiten für neue Medikamente müssen verkürzt werden. Und diese müssen schneller in möglichst zahlreichen Märkten eingeführt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, finden sich immer häufiger selbst große Unternehmen zusammen, um Medikamente gemeinsam zu entwickeln und auch gemeinsam zu vertreiben. Selbst Lizenzen werden heute oft nicht mehr auf finanzieller Basis vergeben, sondern im Austausch gegen andere Innovationen. Daher hat auf Dauer auch nur das forschungsstarke Unternehmen die Chance, auf dem pharmazeutischen Weltmarkt zu bestehen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1993, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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