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Die Mikrosystemtechnik und ihre Anwendungsgebiete

Moderne Verfahren erlauben es, winzige Meßsonden und Werkzeuge mit elektronischen Auswerteschaltungen auf einem einzigen Chip zu kombinieren. Dadurch entstehen Mikrosysteme, die trotz – oder gerade wegen – ihrer geringen Größe die Leistung konventioneller Lösungen weit übertreffen und völlig neue Anwendungen ermöglichen – in der Medizin- und Umwelttechnik ebenso wie in der Kommunikations- und allgemeinen Meß- und Regeltechnik. Erste Beispiele sind in LIGA-Technik gefertigte endoskopische Mikrosysteme für die minimal invasive Chirurgie und Beschleunigungssensoren sowie nach der Oberflächenmikromechanik hergestellte Systeme zur Messung von Druck und Temperatur in Blutgefäßen.

Stellen Sie sich einmal folgende Situation vor: Ein Patient, der sich einer größeren Herzoperation unterziehen muß, liegt entspannt auf einer Liege und sieht sich zur Unterhaltung einen Videofilm an. Der einzige Hinweis auf den bevorstehenden Eingriff ist eine punktierte Arterie in der Leistengegend.

Die Operation beginnt mit dem Einführen einer winzigen Maschine durch das Verschlußstück der Punktion in die Arterie. Der Chirurg sitzt vor einem Kontrollgerät mit mehreren Bildschirmen, die abwechselnd Ultraschall- und Infrarotbilder der Arterie zeigen. Nach diesen optischen Informationen steuert der Chirurg über eine Art Joystick die Bewegung der Maschine entlang der Blutgefäßwände und manövriert sie durch den Unterleib bis in die beschädigten Herzkranzgefäße. Dort inspiziert er zunächst die Umgebung und führt dann mit einer Sonde eine Spektralanalyse der dort vorhandenen Ablagerungen durch. Ein Rechner wertet die Daten aus und schlägt dem Arzt verschiedene Verfahren zur Beseitigung der Ablagerungen vor, wobei er die einzelnen Optionen dem Befund entsprechend mit einer Wertung versieht.

In diesem Falle entschließt sich der Arzt zur mechanischen Beseitigung. Auf ein bestimmtes Kommando fährt ein Werkzeug von der Instrumentenkapsel der Maschine aus und beginnt die Ablagerungen zu entfernen. Das abgetrennte Material wird aufgesaugt, innerhalb der Maschine auf die Größe von Blutzellen zerkleinert und danach durch einen Filter in den Blutstrom abgegeben.

Die weitere Untersuchung enthüllt noch mehr Ablagerungen, die der Arzt diesmal durch eine Folge von Laserpulsen entfernt. Vor jedem neuen Puls wird dabei mit einem Regelpuls schwacher Leistung spektroskopisch geprüft, ob die Gefäßwand bereits freigelegt wurde. Nach dem Eingriff gibt der Arzt der Maschine den Befehl zur Umkehr; nach einigen Minuten erscheint sie wieder am Verschluß der Punktion – die Operation ist beendet, vielleicht noch bevor der Patient den Film zu Ende gesehen hat.

Was wie Science-fiction klingt, könnte auf ähnliche Weise in naher Zukunft tatsächlich Wirklichkeit werden: Zahlreiche Forscher suchen Mikrosysteme zu entwickeln, die auf schonende Weise in den Körper eingeführt werden und mit denen man am Ort der Erkrankung Analysen vornehmen und eine Behandlung durchführen kann. Solche diagnostischen und therapeutischen Fähigkeiten im medizinischen Bereich sind allerdings nur ein Beispiel für die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten miniaturisierter Systeme – auch für die allgemeine Meß- und Regeltechnik sowie die Kommunikationstechnik werden winzige Instrumente, die bestimmte Wahrnehmungen machen und darauf entsprechend reagieren können, künftig eine große Rolle spielen.

Der Mikrosystemtechnik kommt damit eine ebensolche – wenn nicht größere – Bedeutung zu wie der Mikroelektronik, die in den letzten dreißig Jahren viele Lebensbereiche grundlegend verändert hat. Nachdem es mit neuentwickelten Verfahren gelungen war, Transistoren und andere Halbleiter-Bauelemente in immer größerer Stückzahl und höherer Packungsdichte in integrierten Schaltungen zusammenzufassen, vermochte man leistungsfähige Mikroprozessoren zu konstruieren, mit denen sich innovative – und dank der Massenfertigung auch preiswerte – Produkte wie Taschenrechner und Computer herstellen ließen.

Verglichen mit einem Prozessor, der allein auf elektronischen Vorgängen beruht, ist ein Mikrosystem freilich weitaus leistungsfähiger, weil man sich zusätzlich mechanische, optische, chemische, biochemische oder andere Vorgänge zunutze macht. Auf deren Grundlage konstruiert man die passiven und aktiven Komponenten, die Sensoren und Aktuatoren oder Aktoren, die für ein Mikrosystem kennzeichnend sind.

Dabei kann man auf den umfangreichen Erfahrungen der Mikroelektronik aufbauen: Mikrosysteme werden wie integrierte Schaltungen auf dem Rechner entwickelt, simuliert und optimiert. Viele Herstellungsverfahren der Mikroelektronik – insbesondere die Photolithographie – lassen sich übernehmen. Damit ist es im Prinzip auch in der Mikrosystemtechnik möglich, viele gleichartige Bauelemente in hoher Packungsdichte auf dem gleichen Substrat herzustellen und sie so zu verknüpfen, daß die Leistung des gesamten Systems weitaus höher ist als die Summe der Einzelleistungen; Voraussetzung ist lediglich, daß sich die zusätzlichen Komponenten (Sensoren, Aktoren und andere räumliche Mikrostrukturen wie etwa Justieranschläge und Haltevorrichtungen) in vergleichbar kleinen Abmessungen herstellen lassen wie die elektronischen Bauelemente und mit diesen hinsichtlich ihrer Funktionsdichte und Leistung kompatibel sind. Auch die Herstellungskosten sollten mit denen von Halbleiter-Bauelementen vergleichbar sein.


Mikrostrukturierung: die Basis der Mikrosystemtechnik

Der in der Mikroelektronik bewährte Werkstoff Silicium bot sich, in diesem Fall aufgrund seiner guten mechanischen Eigenschaften, auch als Basismaterial für die Mikrosystemtechnik an. Die anfängliche Hoffnung war, daß man damit möglichst viele Verfahren der Halbleitertechnik ohne größere Modifikationen übernehmen und elektronische Schaltungen und mechanische Strukturen in denselben Produktionsschritten auf einem Chip herstellen könne. Es gab viele Vorschläge, komplexe Gesamtsysteme auf diese Weise monolithisch in Silicium zu verfertigen.

Es zeigte sich jedoch bald, daß bei diesem Ansatz mit zunehmender Integrationsdichte die Ausbeute an fehlerfreien Chips sinkt und darum die Produktionskosten steigen. Auch sind bestimmte, für das Herausarbeiten der mikromechanischen Komponenten erforderliche Produktionsschritte nicht immer verträglich mit denen der Halbleiterfertigung.

Da man aber die bewährten Verfahren der Halbleitertechnik nur ungern durch der Mikroelektronik wesensfremde Prozeßschritte abwandeln mochte, wurde als Alternative das sogenannte Post-Processing entwickelt: Auf dem Wafer – dem scheibenförmigen Silicium-Einkristall, auf dem einige Dutzend Chips gleichzeitig hergestellt werden – fertigt man zunächst in gewohnter Manier die mikroelektronischen Bauteile und erzeugt anschließend die gewünschten Mikrostrukturen. Diese – im Prozeßablauf serielle – Integration dürfte industriell sehr schnell einführbar sein und verspricht zudem gute Wirtschaftlichkeit. Allerdings muß man dabei die Mikrostrukturierung den Entwurfsregeln der Mikroelektronik unterordnen, was ihre Möglichkeiten einschränkt.

Einen anderen Ansatz, der die sowohl wirtschaftlich als auch technologisch vernünftigste Lösung darstellen dürfte, verfolgt man mit Hybrid-Systemen: Man stellt einzelne Komponenten und Subsysteme getrennt her – vielleicht sogar mit unterschiedlichen Technologien – und setzt sie dann mit geeigneten Fügeverfahren auf einem Substrat zu den Gesamtsystemen zusammen.

Bei einer solchen Trennung der Prozeßschritte entfällt nun aber die Fixierung auf Silicium als Werkstoff für die Mikrostrukturen. Andere Materialien, die vielfältigere Möglichkeiten für die Realisierung von Aktoren bieten als dieser Halbleiter, kommen damit ebenfalls in Betracht; sie müssen allerdings auch mit anderen Verfahren bearbeitet werden als das Silicium.

Dazu bietet sich das sogenannte LIGA-Verfahren an, das Anfang der achtziger Jahre am Kernforschungszentrum Karlsruhe unter Mithilfe der Siemens AG und der Fraunhofer-Gesellschaft speziell für die Herstellung von Trenndüsen zur Anreicherung von Uran entwickelt worden war. Die Anwendungsmöglichkeiten sind jedoch, wie sich bald zeigte, weit vielseitiger: Die Werkstoffe, die sich mit diesem Verfahren bearbeiten lassen, reichen von thermoplastischen Kunststoffen über Metalle bis zu Keramiken; bei hohem räumlichem Auflösungsvermögen kann man nahezu beliebig geformte, nur wenige Mikrometer breite, aber – falls erforderlich – bis zu einige hundert Mikrometer hohe Strukturen präzise herstellen.

Die Bezeichnung LIGA entstand aus den Anfangsbuchstaben der bei diesem Verfahren eingesetzten Strukturierungsmethoden: Lithographie, Galvanoformung und Abformtechnik. Im Fertigungsprozeß erzeugt man zunächst durch Röntgen-Lithographie mit Synchrotronstrahlung die gewünschten Mikrostrukturen in einem strahlenchemisch leicht veränderbaren Kunststoff, dem sogenannten Resist. Daraus werden dann durch Galvanoformung zu den Resiststrukturen komplementäre Strukturen aus Metall hergestellt, die man ihrerseits wieder als stabile Formen für die Massenfertigung von Kunststoffstrukturen durch Abformen mit thermoplastischen Kunststoffen einsetzen kann (Bild 2; vergleiche auch Spektrum der Wissenschaft, April 1993, Seite 116).

Als Resist verwendet man meistens Polymethylmethacrylat (PMMA), das auch als Acryl- oder Plexiglas bekannt ist. Dieser Kunststoff weist sehr gute optische Eigenschaften im sichtbaren wie im nahen Infrarot-Bereich auf. Wir haben im Institut für Mikrostrukturtechnik (IMT) des Kernforschungszentrums und der Universität Karlsruhe viele Erfahrungen in der Herstellung von Mikrostrukturen aus PMMA gesammelt. Dabei setzen wir die LIGA-Technik insbesondere für mikrooptische Anwendungen ein, aber auch für die Herstellung von Aktoren, denn die Werkstoffvielfalt ermöglicht es, neue Prinzipien für solche aktiven Komponenten zu realisieren.

In den letzten Jahren haben wir eine große Anzahl von Mikrostruktur-Prototypen in LIGATechnik in diversen Kunststoffen und Metallen, aber auch in Keramik, vorgestellt. Eine Entwicklung mit großem Zukunftspotential ist ein Verfahren, LIGAStrukturen auf prozessierte Silicium-Wafer abzuformen, ohne dabei die darunterliegenden mikroelektronischen Schaltungen zu schädigen. Damit ist es nun möglich, die Vorteile der auf Silicium basierenden Mikromechanik und Mikroelektronik sowie der LIGATechnik zu verbinden und elektronische und mechanische Komponenten auf einem Chip in hoher Packungsdichte und großer Zuverlässigkeit zu integrieren (Bild 1).

Die Fertigung winziger Komponenten mittels Mikrostrukturtechnik ist an sich schon faszinierend, sie stellt aber nur die Grundlage der viel bedeutenderen Mikrosystemtechnik dar. Erst vollständige Mikrosysteme – bestehend aus Sensoren, Aktoren, Informationsverarbeitung und Schnittstellen zur Außenwelt – eröffnen nämlich ein erhebliches wissenschaftliches und wirtschaftliches Potential (Bild 3). Leider ist dies noch nicht allgemein erkannt worden, denn bisher beschränken sich industrielle Anwendungen weitgehend darauf, konventionelle Komponenten durch solche der Mikrostrukturtechnik zu ersetzen. Aber nur wenn es gelingt, Mikrosysteme zu konzipieren, deren Leistung diejenige konventioneller Lösungen weit übertrifft, läßt sich das Potential dieser neuen Technologie nutzen und – analog den Erfolgen des Mikroprozessors – ein wirtschaftlicher Durchbruch erzielen.

Sensorik

Anhand von Sensoren läßt sich vielleicht am ehesten verdeutlichen, welche Vorteile miniaturisierte Systeme gegenüber herkömmlichen haben. In der Meß und Regeltechnik setzt man üblicherweise Einzelsensoren ein. Jeder von ihnen muß dabei individuell abgestimmt und mit Kompensationsmöglichkeiten gegen Querempfindlichkeiten ausgestattet werden, und jeder hat einen bestimmten Meßbereich, für den er angepaßt ist.

In der Mikrosystemtechnik ist es nun wegen der geringen Größe einzelner Strukturen, ihrer hohen Packungsdichte und der niedrigen Herstellungskosten möglich, viele Sensoren – ähnlich der Vielzahl von Transistoren und Dioden in einem Mikroprozessor – zu einem Array zusammenzufassen. Verknüpft man diese Sensoren über einen entsprechenden Auswertemechanismus, etwa durch Mittelwertbildung vieler paralleler Einzelmessungen, erhöht sich die Aussagequalität einer Messung. Die Sensoren lassen sich aber auch so in ihren Empfindlichkeiten variieren, daß der Meßbereich insgesamt erweitert werden kann (vergleiche das Schwerpunktthema "Sensoren", Spektrum der Wissenschaft, Januar 1994, Seite 92).

Mit Sensor-Arrays wäre es prinzipiell sogar möglich, hochkomplexe Messungen frei von Querempfindlichkeiten und mit hoher Qualität auszuführen. Unterscheiden sich nämlich die einzelnen Sensoren in ihrem Ansprechverhalten, könnte man mit geeigneten mathematischen Auswerteverfahren alle Meß- und Störgrößen vollständig bestimmen. Der Rechenaufwand dafür ist freilich sehr groß, und da die Realität zumeist komplizierter ist als mathematische Gleichungssysteme, lassen sich auf diese Weise nur die größten Störfaktoren ermitteln.

Es ist sinnvoll, die Datenmengen, die ein Sensor-Array – beispielsweise ein CCD-Chip für die Bildverarbeitung – kontinuierlich liefert, direkt mit einem integrierten Mikroprozessor zu verarbeiten. Da sich aber in Mikrosystemen nicht beliebig leistungsfähige Prozessoren einsetzen lassen, ist je nach Anwendung zu prüfen, ob nicht neue Konzepte der Informationsverarbeitung wie Fuzzy-Logic oder neuronale Netze hier bessere Ansätze liefern als die konventionellen.

Viele der mit Methoden der Mikrosystemtechnik inzwischen realisierten Sensor-Prinzipien lassen sich mit relativ geringfügigen Modifikationen aus der Mikroelektronik herleiten. So sind Temperatursensoren problemlos in Halbleitertechnik herzustellen; denn häufig genug ist gerade die Temperaturabhängigkeit der elektrischen Komponenten ein bekannter Störeffekt, und manche Komponente wirkt bereits ungewollt als Temperaturfühler. Dehnungen und damit auch Beschleunigungen und Drücke lassen sich messen, indem man in eine flexible mikromechanische Struktur Materialien einbringt, die ihren elektrischen Widerstand bei derartigen Belastungen ändern. Auch der Abstand zweier beweglicher Flächen läßt sich über die Kapazitätsänderung dieser Anordnung messen und so zur Ermittlung von Beschleunigung, Druck und Schwingungsfrequenz heranziehen.

Eine besondere Klasse mikroelektronischer Sensoren sind die CHEMFETs, bei denen die modifizierte Gate-Elektrode eines Feldeffekt-Transistors dem zu vermessenden chemischen Medium ausgesetzt wird. Das Potential der Elektrode enthält dann die Meßinformation, die mit dem eigentlichen Transistor in eine Meßgröße gewandelt und nachfolgend elektronisch verarbeitet wird.


Aktorik

Im Gegensatz zur Sensorik kann die Aktorik nicht ohne weiteres von den Erfahrungen der Mikroelektronik profitieren. Das liegt zum einen daran, daß es dort wenig Bedarf für Mikroaktoren gab und folglich keine bewährten Konzepte existieren, zum anderen daran, daß Silicium für zahlreiche Aktoranwendungen ungeeignet ist. Da man sich aber weltweit auf diesen Halbleiter als Material für die Mikrosystemtechnik konzentriert hatte, beschränken sich bisher verfügbare Anwendungen im wesentlichen auf elektrostatische Felder, piezoelektrische Effekte und thermische Ausdehnung.

Auch in der Aktorik ist es wichtig, Konzepte zu entwickeln, die mikrosystemgerecht sind – also solche, die es wie in der Mikroelektronik und der Sensorik gestatten, einzelne Elementarkomponenten in hoher Packungsdichte und zu günstigen Kosten herzustellen, die dann durch eine intelligente Verknüpfung zu hoher Systemleistung gelangen können. Ein Beispiel dafür sind Stellantriebe, bei denen viele Einzelaktoren zu Gruppen zusammengefaßt sind (Bild 4).

Ein äußerst vielseitiges Konzept stellen fluidische Aktoren dar, bei denen man den Strom einer Flüssigkeit oder eines Gases steuert. Bereits in den sechziger Jahren hatte man fluidische Elemente konzipiert, die logische Funktionen auszuführen vermögen; es gab sogar Pläne, mit ihnen fluidische Computer aufzubauen. Mit den Mitteln, die heute in der Mikrostrukturtechnik zur Verfügung stehen, kann man auf diese frühen Konzepte zurückgreifen und komplexe Aktor-Subsysteme herstellen. Das erfordert, Aktorelemente zu entwickeln, die sich etwa in Stapelbauweise verknüpfen und zu Subsystemen kombinieren lassen.

Ein Beispiel für ein fluidisches Element ist in Form eines bistabilen Schalters in LIGATechnik realisiert (Bild 5). Solche Schaltelemente lassen sich nun im Sinne der Mikrosystemtechnik zu Subfunktionen kombinieren. Schaltet man etwa mehrere hintereinander, entsteht ein fluidischer Verstärker; durch Rückkopplung des Ausgangs auf den Steuerkanal erhält man einen fluidischen Oszillator (Bild 6).

Nach Art eines Baukastens ließe sich damit ein fluidisches Netzwerk aufbauen (Bild 7). Die Fluid-Energie wird dabei über einen Verteiler den einzelnen Elementen zugeführt. In der Verteilerplatte integrierte Aktorelemente dienen dazu, in den Steuerkanälen eine Druckwelle zum Schalten zu erzeugen. Je nach Schalter-Subfunktion werden die fluidischen Elemente auf dem Substrat übereinandergestapelt. Durch Serien- oder Parallelschaltungen solcher Schaltstapel lassen sich dann komplexe Aktor-Netzwerke aufbauen.

Außer Schaltern hat man inzwischen zahlreiche weitere fluidische Aktoren wie Pumpen und aktive Ventile hergestellt. Auch hier werden Konzepte entwickelt, um mehrere Komponenten zu einem System entsprechender Leistungsdichte zusammenzufassen.

Die Suche nach neuartigen Aktorprinzipien für die Mikrosystemtechnik ist eine wichtige Aufgabe der Werkstoff-Forschung. Erste Anwendungen von Magnetostriktion und gestaltserinnernden Legierungen wurden bereits vorgestellt; an weiteren intelligenten Werkstoffen arbeitet man derzeit in vielen Labors.

Mit den meisten Aktorprinzipien, die auf Werkstoffeigenschaften beruhen, kann man relativ große Kräfte auf kurzen Wegen erreichen. Die Längenänderungen bewegen sich dabei im Bereich einiger Promille. Größere Werte sind nur über trickreiche Konstruktionen zu erreichen, lassen aber keine großen Kräfte zu.

Anders verhält es sich bei den sogenannten schwellenden Gelen. Bestimmte vernetzte Polymere bilden in Lösungsmitteln Gele, wobei sie viel Flüssigkeit aufnehmen und stark aufquellen. Dieser Vorgang ist reversibel und läßt sich durch Temperatur, pH-Wert und osmotischen Druck des Lösungsmittels steuern. Japanische Wissenschaftler haben hierzu wesentliche Forschungsarbeiten geleistet und bereits erste Anwendungen in der Mikrotechnik vorgestellt (siehe "Intelligente Gele" von Yoshihito Osada und Simon B. Ross-Murphy, Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1993, Seite 84).


Informationsverarbeitung

Um In-situ-Beschreibungen der Situation geben zu können, in der sich das Mikrosystem befindet, muß der vom Sensor-Array erzeugte Datenstrom verarbeitet werden. Aus Platz- und Energiegründen (meist wird ein Mikrosystem wohl mit Batterien betrieben) steht jedoch nur eine sehr begrenzte Rechenkapazität zur Verfügung. Darum sind speziell für die Mikrosystemtechnik rechnereffiziente Algorithmen erforderlich, die eine schnelle Interpretation der Sensordaten erlauben.

Der Informationsverarbeitung kommen aber noch andere Aufgaben zu – zum Beispiel der Selbsttest des Systems. Wegen der kleinen Abmessungen der Komponenten und der hohen Packungsdichte lassen sich wichtige Sensor- oder Aktor-Funktionen redundant ausbilden. Fällt eine Komponente aus, so kann eine zweite oder dritte Ersatzkomponente ihre Funktion übernehmen. Der integrierte Rechner überwacht und verwaltet diesen Prozeß und trägt damit erheblich zur Zuverlässigkeit des Mikrosystems bei.

Eine dritte Aufgabe der Informationsverarbeitung sind die Verwaltung der Schnittstellen und die fehlertolerante Übertragung von Daten nach außen oder in das System hinein. Da Mikrosysteme häufig in einer Umgebung eingesetzt werden, in denen elektromagnetische Störfelder auftreten – etwa im Kraftfahrzeug in Nähe der Zündkerzen oder im Operationssaal, wo manchmal mit Hochfrequenz gearbeitet wird –, ist eine entsprechende Kanalcodierung für die zu übertragenden Daten unerläßlich.


Schnittstellen

Während bei der Mikroelektronik im wesentlichen nur elektrische Signale von einer quasi-zweidimensionalen Komponente des Systems zur anderen oder nach außen zu übermitteln sind, sind in der Mikrosystemtechnik die Aufgabe der Schnittstellen und damit auch ihr Aufbau wesentlich komplexer: Es müssen sowohl Informationen als auch Energie und Substanzen definiert übertragen werden (Bild 8). Im allgemeinen sind die Strukturen räumlich angelegt und mit einer Vielzahl von Übergängen – den sogenannten Mikro-Makro-Koppelstellen – ausgestattet, die das Mikrosystem mit seiner makroskopischen Außenwelt verbinden.

Allein die Schnittstelle zur Übertragung elektrischer Information kann bei einem Mikrosystem komplizierter sein als bei einer typischen mikroelektronischen Schaltung. Zusätzlich müssen je nach Anwendung auch optische, akustische, magnetische oder biochemische Signale weitergeleitet werden – etwa in der Medizintechnik, wenn man Information transkutan, also durch die Hautoberfläche hindurch, übertragen will.

Einige der Koppelstellen müssen die zum Betrieb eines Mikrosystems erforderliche elektrische Energie zuführen, wenn diese nicht bereits zum Beispiel in Form einer Batterie im System gespeichert ist. Des weiteren sind auch Konzepte zu entwickeln, mit denen man mechanische, thermische, magnetische, optische und fluidische Energie übertragen kann.

Bei manchen Anwendungen in der Medizintechnik müssen zudem Koppelstellen für das Zuführen oder die Entnahme von unterschiedlichen Substanzen wie Spülflüssigkeiten, Medikamenten, aber auch von biologischer Materie vorhanden sein.

Nur wenige der aus der Mikroelektronik bekannten Verfahren lassen sich für den Aufbau derartiger Übergänge nutzen; dafür ist noch viel Forschungs- und Entwicklungsarbeit zu leisten. Das Problem etwa, einen lösbaren Mikro-Druckschlauch mit höchster Zuverlässigkeit an ein Mikrosystem anzukoppeln, beherrscht man noch nicht.

Mikro-Makro-Koppelstellen oder interne Schnittstellen jeglicher Art spielen bei der industriellen Einführung der Mikrosystemtechnik eine überragende Rolle. Da wohl kein Unternehmen sämtliche für ein Mikrosystem benötigten Komponenten selbst fertigen können wird, ist ein Markt für solche Mikrobauteile erforderlich. Um einen solchen zu schaffen, muß man sich wiederum erst weltweit über Schnittstellen verständigen und schließlich eine Standardisierung vereinbaren. Das Beispiel des Personal Computers hat eindrucksvoll gezeigt, daß erst nach Einführen internationaler Normen die Akzeptanz für ein Produkt und damit auch die Verkaufszahlen stark steigen. Erste Ansätze für Gespräche gibt es bereits, doch gestalten sich solche Diskussionen erfahrungsgemäß als schwierig, weil viele Partner, die miteinander konkurrieren, sich auf eine gemeinsame Position einigen müssen; und solche Vereinbarungen sind nur dann sinnvoll, wenn sie im internationalen Rahmen zwischen den Wirtschaftsblöcken Europa, Nordamerika und Japan getroffen werden.


Entwurfsstrategien

Anfangs glaubte man, Mikrosysteme ähnlich wie integrierte elektronische Schaltungen als Ganzes entwerfen, simulieren und optimieren zu können. Sehr bald zeigte sich jedoch, daß dieses sogenannte Top-down-Konzept unrealistisch ist. Das räumliche Schrumpfen mechanischer, optischer, fluidischer, biochemischer und elektronischer Komponenten macht nämlich die Verknüpfung und die gegenseitige Beeinflussung der zahlreichen zu berücksichtigenden Parameter derart komplex, daß bereits die theoretischen Lösungsansätze weder vom Entwickler zu überblicken, noch von den verfügbaren Rechnern zu bewältigen sind. Hinzu kommt, daß die Entwurfswerkzeuge zur Komponentenherstellung im allgemeinen zum Spezialwissen weniger bestimmter Unternehmen gehören und darum nur schwer in eine integrierte Entwurfsumgebung eingebunden werden können.

Genauso falsch wäre es, das gegenteilige, sogenannte Bottom-up-Konzept zu verfolgen, bei dem man die einzelnen Komponenten gewissermaßen nur linear aneinanderfügt. Viel von dem Potential der Systemtechnik, also der Idee, aus dem Ganzen mehr als die Summe der Komponenten zu machen, würde man dabei verschenken.

Wie so häufig ist auch hier ein Mittelweg zu beschreiten. Vom Top-down-Konzept übernimmt man eine durchgängige Systematik, die den Weg weist, wie man bei Einzelproblemen auf Datenbanken, lokales Expertenwissen der Komponentenhersteller und Simulationsprogramme zurückgreifen kann. Ablaufsteuerung, Konfliktlösung und Optimierung erfolgen auf Systemebene. Außer einer Zentraldatenbank benötigt man zahlreiche dezentrale Speicher der Komponentenentwickler für Daten, die nicht allgemein zugänglich gemacht werden können. Dabei muß man sich allerdings auf bestimmte Übergabeprotokolle zwischen den Komponentenentwürfen und dem Systementwurf verständigen.

Anhand eines solchen Leitfadens läßt sich nun ein Mikrosystem in einer logischen Folge aufbauen und optimieren. Neuere Erkenntnisse kann man jeweils in Modulen der Entwurfs-Systematik hinzufügen. In dem Verbundprojekt "Untersuchungen zum Entwurf von Mikrosystemen" des Bundesforschungsministeriums hat man eine grundlegende Vorgehensweise entwickelt (Bild 9).


Industrielle Anwendungspotentiale

Es gibt zwar heute noch keinen eigentlichen Markt für Mikrosysteme, doch lassen sich einige künftige Anwendungen in folgenden Gebieten absehen:

- allgemeine Meß- und Regeltechnik: Prozeßtechnik, Verkehrswesen, Haustechnik, Umweltmeßtechnik;

- Kommunikationstechnik: optische Multiplexer und Demultiplexer, optische Schalter, optische Informationsverteilung, Displaytechnik;

- Medizintechnik: minimal invasive Therapie, Chirurgie, Diagnose, Laboranalyse, Implantate und Prothesen.

Diese Aufzählung ist sicherlich nicht vollständig, denn niemand vermag vorherzusehen, wohin die Entwicklung letztlich geht. Die Mikrosystemtechnik ist heute in einer vergleichbaren Situation wie die Mikroelektronik vor drei Jahrzehnten, als der Siegeszug des Personal Computers noch nicht abzusehen war.

Beispiel: minimal invasive Therapie

Abzusehen ist bereits, daß sich die Mikrosystemtechnik in der Medizin einen festen Platz erobern wird. Insbesondere in der minimal invasiven Therapie, bei der ein Chirurg nicht mehr mit großen Schnitten den Operationsherd freilegt und damit viel gesundes Gewebe zerstört, sondern sich mittels Endoskopen oder Kathetern durch winzige Einschnitte oder natürliche Körperöffnungen Zugang zu der zu behandelnden Stelle verschafft, sind einige richtungsweisende Entwicklungen im Gange (vergleiche das Schwerpunktthema "Innovative Medizin", Spektrum der Wissenschaft, Juni 1992, Seite 108, sowie "Faseroptiken in der Medizin" von Abraham Katzir, Spektrum der Wissenschaft, Juli 1989, Seite 78).

Nun ist die Endoskopie beileibe keine neue Technologie. In vielen medizinischen Disziplinen wie etwa der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde oder der Gynäkologie ist sie eine bewährte Methode der Diagnose. Neu ist vielmehr, daß man das Endoskop mit Fähigkeiten versieht, die es von einem passiven Beobachtungsinstrument umwandeln in ein leistungsfähiges endoskopisches Mikrosystem. Statt der bislang überwiegend starren Endoskope, bei denen die Instrumente über Seilzüge oder Hebel von außen bedient werden, verwendet man ein langes, flexibles Kabel, und überträgt durch dieses Informationen, Energie und Substanzen. Die winzigen Instrumente am Kabelkopf – mittels Mikroaktoren angetrieben – müssen von außen ferngesteuert und von internen Sensoren kontrolliert werden. Das gesamte System muß zudem eigenbeweglich sein oder sich zumindest am Operationsherd ausrichten lassen und die Reaktionskräfte der Instrumente an die Gewebewände weitergeben können.

Freilich hat diese ferngesteuerte Therapie auch Nachteile. Dem Chirurgen gehen wesentliche Informationen verloren, die er bisher bei seiner Arbeit berücksichtigte: die direkte Sicht mit dem bloßen Auge sowie der Tast- und der Geruchssinn. Hier muß ihm nun das Mikrosystem Ersatzinformationen liefern, die dieses Defizit nicht nur kompensieren, sondern möglichst sogar weitere Vorteile bringen.

Eine intelligente Sensorik, die im Mikroendoskop integriert ist, gibt dem Chirurgen die Möglichkeit der In-situ-Diagnose an Mikrobefunden. Bei schwierigen Eingriffen, etwa in der Neurochirurgie, wird es selten möglich sein, Gewebeproben zu entnehmen, um sie im Labor untersuchen zu lassen. Statt dessen muß der Chirurg sofort vor Ort über das weitere Vorgehen entscheiden. Schon heute besteht die Möglichkeit, mittels einer eingeführten optischen Faser hochwertige Spektralanalysen an Befundstellen tief im menschlichen Körper durchzuführen.

Ein solches Mikrosystem muß selbstverständlich sehr zuverlässig sein. Hier bietet die Mikrosystemtechnik zumindest Ansätze in Form des eingebauten Mikroprozessors, der einen Selbsttest, fehlertolerante Informationsübertragung und die Verwaltung lebenswichtiger redundanter Subsysteme gewährleistet.

Sicherlich wird ein solches Mikroendoskop nicht innerhalb weniger Jahre erhältlich sein. Vielmehr dürften zunächst konventionelle Geräte nach und nach mit zusätzlichen Eigenschaften, die mittels Mikrosystemtechnik möglich sind, ausgestattet werden. Aufbauend auf den Erfahrungen mit diesen Geräten, wird man dann weitere Funktionen integrieren, bis schließlich ein vollständiges Mikrosystem zur Verfügung steht.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1994, Seite 92
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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