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Die Naturgeschichte des Ich

Aus dem Englischen
von Ulrich Enderwitz.
Hoffmann und Campe, Hamburg 1995.
304 Seiten, DM 44,-.

Hurra! Humphrey hat s! Nessie ist gefangen, zerlegt und ab sofort pfundweise im Handel erhältlich!

Das Bewußtsein (so der tradierte Name dieses sagenumwobenen Ungeheuers) sei nämlich nichts weiter als "das Haben von Empfindungen" (Seite 155) – was seinerseits nichts weiter sei als eine kurzzeitig andauernde, sich selbst stabilisierende und somit gegenwartskonstituierende Rückkopplungsschleife zwischen jeweils intendierter sowie rückgemeldeter ortsspezifischer Körperbewegungsform (zum Beispiel Seiten 209 und 238). Und das Ganze sei schließlich, wiewohl kontingent evolviert, eine notwendig bestehende Identität – ebenso sicher wie jeder Satz der Arithmetik (Seite 294).

Ja, warum haben wir das dann nicht schon im zweiten Schuljahr gelernt, zumal uns der Autor versichert, daß sein Buch bereits vor 100 Jahren hätte geschrieben werden können (Seite 15)? Gemach. Woher weiß denn der Hirnforscher und Buchautor Nicholas Humphrey, der am Darwin-College in Cambridge (England) arbeitet, daß sich die Dinge genau so und nicht anders verhalten? Und wer, bitte schön, ist dieses mysteriöse implizite Satzsubjekt, das da etwas intendiert und Rückmeldungen kontrolliert?

"Sentio, ergo sum" (ich fühle, also bin ich), möchte Humphrey den Philosophen René Descartes (1596 bis 1650) korrigieren (Seiten 149 und 249); der hatte 1637 in seinem "Discours de la méthode" befunden, daß er existiere, weil er denke. Aber Humphrey bleibt ihm gleichwohl methodisch aufs engste verbunden. Statt einer "Naturgeschichte des Ich" liefert er eine nicht gerade gelungene Paella: ein bißchen Fisch (glitschige Theorie), ein bißchen Fleisch (unsystematische Beobachtungen), das Ganze ölig zusammengepappt mit einer übermäßigen Portion Reis (feuilletonistischer Koketterie) sowie noch untermischt mit ein paar roten Paprikastreifen (nicht gänzlich unbegründeten Kritik an anderen Theorien) und einer Handvoll grüner Erbsen (schwer verdaulichen Zumutungen, zum Beispiel Seite 69).

Zunächst zum Fleisch: Humphreys Erkenntnisquellen sind klinische Kasuistik und Introspektion (siehe etwa Seiten 72 und 49). Eine Patientin, die Pappscheiben nach ihrer Farbe richtig zu sortieren keine Schwierigkeiten hatte, machte, nach der Farbe anderer, einzelner Papierstreifen befragt, groteske Fehler (Seite 105). Untersucht man, wenn man so vorgeht, das Sehen von Farben? Oder nicht vielmehr ihre Benennung?

Humphrey möchte der Sprache streckenweise am liebsten entfliehen (zum Beispiel auf den Seiten 32 und 150, wo es um die Definition von Bewußtsein geht), nur um sich an anderer Stelle autoritativ auf sie zu verlassen (vor allem auf Seite 169 bei der Charakterisierung von Empfindungen).

Lassen wir den Reis und die Erbsen und konzentrieren uns gleich auf den Fisch: Humphrey unterscheidet (Seite 53) Empfindung und Wahrnehmung, wobei erstere ein empfindendes und auf bestimmte Weise stimuliertes Wesen voraussetze. Das Problem mit solchen Redeweisen ist, daß sie wie empirische Erkenntnisse auftreten und doch nur aus der Struktur unserer Sprache folgen.

Der Begriff der Wahrnehmung hingegen verweise auf den Glauben des wahrnehmenden Subjekts an eine Außenwelt. Der Autor folgt hier dem schottischen Philosophen Thomas Reid (1710 bis 1796); allerdings versäumt er, aus dem zweiten seiner "Essays on the intellectual powers of man" den entscheidenden Satz zu zitieren, daß diese Unterscheidung im Alltag nie gebraucht werde. Reid benötigte sie, um Fragen nach der Genese von Erkenntnissen und nach deren prospektiver Gültigkeit auseinanderzuhalten. Humphrey hingegen (Seite 129) identifiziert Empfinden platt mit "Kopieren" und Wahrnehmen mit "Beschreiben". Daß dabei Bewußtsein auf jeden Fall mit Empfindung zu tun haben müsse, entnimmt Humphrey dann schlicht seiner Umgangssprache (Seite 164); Wahrnehmung andererseits entwickle sich irgendwie parallel dazu (Seite 49).

Doch jetzt das alles zusammenkleisternde Öl: Empfindungen eigne eine sehr bestimmte Eignerschaft – sie seien entweder meine oder deine oder ihre und so weiter (Seite 171). Erst ein, dann einziges Kriterium für Meinhaftigkeit (Deinhaftigkeit, Ihrhaftigkeit und so weiter) sei nun aber eine "gewollte Körperbewegung" (Seiten 187, 195 und 250). Folglich müsse Empfinden notwendigerweise in intendierter Bewegung bestehen.

Humphrey sieht selbst (Seite 187), daß er hier nicht wirklich folgert, sondern uns nur eine – seine – Begriffsexplikation aufnötigt, ganz wie Descartes das durchgängig in seinen Werken tut. Eher beiläufig und entgegen seiner metaphysischen Zielsetzung (es handle sich um eine notwendige Wahrheit, Seite 294) macht er daraus dann doch noch eine experimentell prüfbare Theorie, indem er die eingangs zitierten Rückkopplungsschleifen zwischen afferentem, sensorischem und efferentem, motorischem neuralem Impuls postuliert (Seite 227). Nur ist das nicht sonderlich originell. Schon Wolfgang Köhler (1887 bis 1967), einer der Schöpfer der Gestaltpsychologie, hatte 1920 eine strukturell identische, aber sehr viel präzisere – wenn auch heute allgemein als widerlegt geltende – Hypothese über sich selbst stabilisierende Hirn-Gleichstromfelder aufgestellt.

Nun hat Humphrey zweifelsohne recht (so viel zu den Paprikastreifen), wenn er dem Anatomen und Physiologen Johannes Müller (1801 bis 1858) vorhält, seine Theorie über spezifische Sinnesenergien gebe keine Antwort auf die kritische Frage, warum denn eine wie auch immer herbeigeführte Reizung des Sehnervs nur Sehempfindungen und keine anderen auszulösen imstande sei (Seite 216). Aber Humphreys Antwort befriedigt ebensowenig. Einerseits betont er an früheren Stellen seines Buches (zum Beispiel auf Seite 69) oft genug, daß evolvierte Strukturen gegebenenfalls ihre Funktion ändern können, andererseits muß er angesichts der – zumindest lokalen – Ununterscheidbarkeit allen neuralen Geschehens ein biologisches Konservativismus- oder Trägheitsprinzip bemühen, um die Sinnesspezifität der Empfindungen zu retten (Seite 254). Ich gebe zu: Die Flucht in die Metaphysik ist nur allzu verlockend.

Metaphysisch – und hier komme ich zum eigentlichen Ettikettenschwindel, den Humphrey mit uns treibt – bleibt hinter allem Bewußtsein, Empfinden und Bewegen ein residuales "Ich", das die aufgelisteten Merkwürdigkeiten "in Gang setze", "habe", oder eben "erlebe". Tatsächlich verbleibt in der definitiven Illustration der Theorie (Abbildung 11b auf Seite 242) ein fröhlicher Homunculus! Wenigstens eines scheint Humphrey unanzweifelbar sicher: daß er (wie auch manch andere Lebewesen) jedenfalls einen "Körper" habe (Seite 21) beziehungsweise ein "räumlich abgegrenztes Gebilde" sei (Seite 45): Drinnen ist "Ich", und draußen ist "die Welt".

Weiß Humphrey das, oder fühlt er es? Gott auf jeden Fall "in seiner Unendlichkeit" könne nichts von sich spüren (Seite 266), also wohl bestenfalls etwas über sich wissen. Kann er indessen "in seiner Allmacht" genau dies, daß er sich nicht spüren kann, wissen? Nach Humphrey wäre das ein höchst "depersonalisiertes" Wissen (Seiten 106 und 282). Ist Gott vielleicht deshalb manchmal so ungnädig?

"So ist das Leben", resümiert Humphrey die Erfahrungen, daß er mit seinem Hund keine Übereinstimmung über den Bewußtseinsbegriff erzielen kann und ihn ein böswilliger Konstrukteur mit einem Roboter, der Bewußtsein vorzutäuschen imstande war, angeschmiert hat (Seite 273). Wir aber fragen voller Ingrimm: Wer zum Teufel hat diese kuriose Welt mit ihren körperhaften Lebewesen und von ihnen abgetrennten Umgebungen erschaffen, die man schon immer kennen muß, um sie von innen und außen, mit oder ohne Humphrey, kennenlernen zu können?

Und die Moral von der Geschicht? Humphrey glaubte wohl, einen stattlichen Hecht gefangen zu haben (Seiten 23 und 183). Aber wenn man etwas an der Angel hat, weiß man noch nicht, was es ist und wie es an den Haken gekommen ist. Am Ende ist es nur – der Autor ahnt es selbst (Seite 169) – ein alter Hut. In der von Humphrey selbst vorgenommenen Gegenüberstellung mit Schlaf, Ohnmacht, Narkose und ähnlichem (Seite 154) läßt sich Bewußtsein empirisch-neurophysiologisch untersuchen; und "Ich" als "selbstbestimmtes Subjekt" (Seite 187) läßt sich empirisch-psychologisch untersuchen, womit Köhlers Mitstreiter Kurt Koffka (1886 bis 1941) immerhin schon 1935 begonnen hatte.

Humphreys Angelspiele dagegen erscheinen mir als grobe Zeitvergeudung.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1996, Seite 117
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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