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Die Neandertaler. Spiegel der Menschheit


Seit der Entdeckung des Neandertalerskeletts in der Feldhofer Grotte bei Düsseldorf-Mettmann im Jahre 1856 ist die Diskussion über die stammesgeschichtliche Rolle dieser archaischen Menschen trotz des mittlerweile beachtlich angewachsenen Fossilmaterials sowie intensiver Forschung nicht abgerissen. Auch heute noch ist die Frage nach ihrem Schicksal und ihren Beziehungen zu den anatomisch modernen Menschen zentral für unser Verständnis der Menschheitsevolution. Solange es nicht gelingt, sie zu beantworten, besteht nur wenig Hoffnung zur Lösung der komplexeren Fragen.

Immerhin kennen wir keine menschliche Fossilgruppe so lange und so genau wie den Neandertaler; doch trotz dieser vergleichsweise optimalen Voraussetzungen haben wir bislang keine Klarheit über seine Stellung im Stammbaum des Menschen. Zudem wurden die Neandertaler traditionell und systematisch als tumbe, einfältige, nicht sprachbegabte und nur zu sehr geringen kulturellen Leistungen befähigte Hominidenform abgewertet. Kritiker sprechen sogar von einem "Trend zur Dehumanisierung".

Der vorliegende voluminöse Band korrigiert dieses Bild. Erik Trinkaus, amerikanischer Paläoanthropologe und Neandertaler-Spezialist, sowie seine Kollegin Pat Shipman, die durch vielbeachtete Studien zur Verhaltensbiologie der frühen Hominiden wissenschaftlich hervorgetreten ist, geben einen überaus inhaltsreichen und unterhaltsamen Einstieg in die facettenreiche Geschichte der einschlägigen Forschung, angefangen bei den Ursprüngen des Evolutionsgedankens über den schließlich durch Charles Darwin eingeleiteten Paradigmenwechsel und die vielfältigen Widerstände und Hürden, die während des vergangenen Jahrhunderts dagegen aufgebaut wurden, bis hin zu den gegenwärtigen, "geradezu kafkaesk" widersprüchlichen Sichtweisen. Dem Resümee der Autoren zufolge sind die Neandertaler "eine der unverwechselbarsten, erfolgreichsten und faszinierendsten Menschenformen, die jemals unsere Familiengeschichte bereichert haben".

Sind sie nachkommenlos ausgestorben, das heißt von außereuropäischen Hominiden verdrängt worden (Out-of-Africa-Modell), oder haben sie sich im Nordwesten der Alten Welt zum modernen Homo sapiens entwickelt (multiregionales Evolutionsmodell), sind also als Vorfahren der heute lebenden Menschen anzusehen? Trinkaus sieht sein Hauptinteresse an der Stammesgeschichte nicht in diesen Verwandtschaftsfragen. Als – nach eigener Einschätzung – nicht konfliktfreudiger Mensch beschreibt er seine "Nische im Wissenschaftsbetrieb" dahingehend, "auf sorgfältig formulierte verhaltenswissenschaftliche Fragen Antworten zu liefern".

Seine Analysen gelten als wegweisend für eine Paläoanthropologie, die vorrangig nicht verwandtschaftliche Beziehungen erforscht, sondern nach der Einbindung der frühen Hominiden in ihre Umwelt fragt. Diese Sichtweise klingt zwar in einigen Passagen und im Epilog an, steht aber keineswegs im Mittelpunkt der Betrachtungen. Den Autoren geht es vielmehr darum, den mühsamen Weg zu einem vorurteilsfreieren Bild der Neandertaler nachzuzeichnen; im Sinne des Philosophen Karl Popper beschreiben sie Wissenschaft als einen kontinuierlichen Prozeß, "in dessen Verlauf sich der Bereich möglicher Wahrheiten durch rastlose Dialektik zwischen Theorie und Erfahrung ständig verkleinert".

Das Buch ist gespickt mit inhaltsreichen und bisweilen auch amüsanten, humorvollen Geschichten sowie biographischen Details über die maßgeblich beteiligten Wissenschaftler. In einer grandiosen Synopsis ihrer überraschenden und zufälligen, geplanten und mühsamen, blitzartigen und schleichenden Fortschritte sowie der nicht selten bitteren Rückschläge mit den wissenschaftlichen Werdegängen, den Plänen, Hoffnungen und Enttäuschungen gelingt den Autoren eine überaus fesselnde Forschungsgeschichte, die nicht nur für den Laien von Interesse ist. Die sehr offene Kennzeichnung der noch lebenden Kollegen ist zwar durchaus nachvollziehbar, wirkt jedoch bisweilen etwas befremdlich – abgesehen davon, daß durch Auslassungen gelegentlich ein schiefes Bild entsteht; so werden weder der verdiente tschechische Anatom und Anthropologe Emanuel Vl cek noch der Kölner Archäologe Gerhard Bosinski erwähnt.

In einem primär populärwissenschaftlichen Band ist dies sicherlich verzeihlich, zumal Spötter behaupten, daß die zahllosen Dissertationen und Abhandlungen zum Schicksal der Neandertaler mehr zur Karriere der jeweiligen Verfasser als zu Erkenntnissen über die Karriere ihrer Helden beigetragen hätten. Das gilt mit Sicherheit nicht für diesen Band, der geschrieben werden mußte und in der vorliegenden Form wahrhaft meisterhaft ist (abgesehen von dem schmerzhaft dilettantisch gestalteten Schutzumschlag). Das sich offenbar glänzend ergänzende Autorenteam liefert hier ein in dieser dichten Form einmaliges, sprachlich gelungenes Bild der Erforschung der Neandertaler, das zudem auch viel über uns selbst verrät.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1995, Seite 118
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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