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Ur- und Frühgeschichte: Die Neandertaler

Eine Spurensuche
Theiss, Stuttgart 2002. 110 Seiten, € 26,–


Neben uns selbst ist der Neandertaler die am besten erforschte Menschenform. Mehr als 300 Funde von Skelettresten und noch mehr Fundplätze mit kulturellen Hinterlassenschaften haben reichhaltiges Material geliefert. Und selbst nach 148 Jahren hat die Erforschung des Homo neanderthalensis nichts an Aktualität verloren, im Gegenteil. Gerade in den letzten zehn Jahren haben Neufunde in Verbindung mit neuen Untersuchungsmethoden unsere bisherigen Vorstellungen zum Wesen und Leben dieses "Eiszeitmenschen" stark gewandelt. Das vorliegende Buch gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung.

Beide Autoren sind ausgewiesene Kenner des Themas. Bärbel Auffermann ist Ur- und Frühgeschichtlerin und seit 1997 stellvertretende Direktorin am Neanderthal Museum in Mettmann in der Nähe des namensgebenden Fundorts. Ihr ehemaliger Kollege Jörg Orschiedt ist seit 1999 wissenschaftlicher Assistent am Archäologischen Institut der Universität Hamburg.

Die "Spurensuche" beginnt mit der Entdeckung der ersten Neandertalerknochen im Neandertal bei Düsseldorf und führt, nach einem kurzen Exkurs in die Stammesgeschichte des Menschen, über Aussehen und Leben hin zum Ende der Neandertaler. Im Anhang findet sich neben dem Literaturverzeichnis und einem Glossar der wichtigsten Fachbegriffe eine kurze Darstellung der Datierungsmethoden in der Archäologie. Sogar eine Liste mit Internet-Tipps gibt es hier.

Der durchweg gut verständliche und leicht lesbare Text wird ergänzt durch sehr anschauliche Fotos, Zeichnungen und Karten. Zahlreiche Informationen zu wenig bekannten Details zeugen von der Fachkompetenz der Autoren.

Auffermann und Orschiedt präsentieren Forschungsergebnisse stets objektiv und stellen unterschiedliche Theorien und Fundinterpretationen gleichberechtigt nebeneinander, sodass der Leser sich sein eigenes Urteil bilden kann. Gerade bei diesem Thema ist das eine Seltenheit, gibt es doch zur Urzeit des Menschen weit mehr Forscher und Theorien als Funde.

Das wird besonders deutlich im letzten Kapitel "Das Ende der Neandertaler". Noch bis Mitte der 1980er Jahre galt der Neandertaler weithin als dummer, Keulen schwingender Primitivling, der durch den geistig weit überlegenen anatomisch modernen Menschen ausgerottet wurde. Heute besteht allgemeine Einigkeit darüber, dass diese Ansicht völlig falsch ist. Wie die Autoren in den vorherigen Buchkapiteln darstellen, kannten die Neandertaler Alten- und Krankenpflege, spezialisierte Jagdtechniken und zahlreiche Werkzeuge, waren zur Sprache fähig und bestatteten ihre Toten.

Sind nun die Neandertaler aus wenig spektakulären Gründen, zum Beispiel wegen einer hohen Kindersterblichkeit, ausgestorben, oder haben sie sich mit den modernen Menschen vermischt und sind nach und nach in dessen Erbmaterial aufgegangen (vergleiche Spektrum der Wissenschaft 3/2003, S. 38)? Zahlreiche neue Datierungen belegen, dass beide Menschenformen nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Europa mehrere tausend Jahre lang zeitlich nebeneinander existiert haben. Ein Miteinander war also durchaus möglich und wahrscheinlich.

Der Paläogenetiker Matthias Krings von der Universität München konnte 1997 aus einem Oberarmknochen des Erstfundes aus dem Neandertal erstmals DNA extrahieren. Aufgrund der Analyse dieses Erbgutfragments schlossen die Münchener Paläogenetiker eine Vermischung der beiden Menschenformen aus. Deren letzter gemeinsamer Vorfahr sollte demnach vor etwa 600000 Jahren gelebt haben. Mittlerweile weiß man, dass diese sowie weitere Analysen nicht ausreichen, um die Verwandtschaftsfrage abschließend zu beantworten.

Für sehr viel Aufsehen sorgte dann ein Kinderskelett, das Ende 1998 unter einem Felsdach im Tal von Lagar Velho in Portugal entdeckt wurde. Nach Ansicht einiger Wissenschaftler, darunter des amerikanischen Neandertalerexperten Erik Trinkaus von der Washington-Universität in St. Louis, zeigen die 24500 Jahre alten Knochen Merkmale sowohl des Neandertalers als auch des anatomisch modernen Menschen. Diese Interpretation wird in Fachkreisen sehr kontrovers diskutiert, und viele Wissenschaftler lehnen die Deutung des Fundes als Nachkomme einer Mischlingspopulation ab.

Dies alles zeigt, dass die Rätsel um das Verschwinden der Neandertaler noch längst nicht gelöst sind (siehe auch Spektrum der Wissenschaft 6/2000, S. 42). Deswegen werden zu diesem Thema noch viele Bücher geschrieben werden. Es bleibt zu wünschen, dass sie ebenso gut und empfehlenswert werden wie das vorliegende.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2003, Seite 85
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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