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Die ordnende Kraft der Asymmetrie

Es sind Maschinen denkbar, die im Widerspruch zu den Prinzipien der Thermodynamik aus ungeordneter Bewegung nützliche Arbeit gewinnen können - vorausgesetzt, die Unordnung ist von der richtigen Art.


Es war schon immer etwas schwieriger, den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik schlüssig zu begründen. Er läuft nicht nur der Intuition zuwider; er ist auch nicht ohne weiteres aus fundamentalen physikalischen Prinzipien herzuleiten. Man muß an entscheidender Stelle Argumente aus der Statistik oder auch der Informationstheorie zu Hilfe nehmen (siehe "Maxwells Dämon" von Charles H. Bennett, Spektrum der Wissenschaft, Januar 1988, Seite 48).

Das ist um so ärgerlicher, als dieses Gesetz – auch Entropiesatz genannt – in seiner Gültigkeit unbestritten ist und in der Physik eine zentrale Rolle spielt. In einer populären Formulierung besagt es, daß die Unordnung eines abgeschlossenen Systens nie ab-, sondern nur zunehmen oder allenfalls gleichbleiben kann (und gibt damit Anlaß zu pessimistischen Zukunftsvisionen über den Wärmetod des Universums). Insbesondere impliziert der Satz, daß es unmöglich ist, die in einem System einheitlicher Temperatur enthaltene Wärme (die Energie der ungeordneten Bewegung seiner Moleküle) in mechanische Arbeit zu verwandeln. Ob Dampfmaschinen oder Kraftwerksturbinen – alle Wärmekraftmaschinen benötigen zu ihrer Funktion eine Temperaturdifferenz.

Nun ist zunächst nicht einzusehen, warum es – bei einheitlicher Temperatur – im Prinzip keinen mechanischen Gleichrichter geben kann: ein Gerät, das Krafteinwirkungen aus der einen Richtung bereitwillig folgt, solchen aus der anderen aber großen Widerstand entgegensetzt. Ein derartiger Mechanismus könnte beispielsweise im Inneren eines heißen Gasbehälters von den zahlreichen Stößen der Gasmoleküle diejenigen seiner Vorzugsrichtung auslesen und in gerichtete Bewegung umsetzen.

Der amerikanische Physiker Richard P. Feynman (1918 bis 1988) hat ein ganzes Kapitel seiner legendären "Lectures on Physics" diesem Gedankengang und seiner Widerlegung gewidmet. Das imaginäre Gerät, das er Anfang der sechziger Jahre zu diesem Zweck ersann (Bild 1), dient noch heute als Ausgangspunkt der Diskussion für neuere theoretische Untersuchungen.

Das asymmetrische Wellblechdach und der Känguruh-Prozeß


Deren Ziel ist es nun allerdings zu zeigen, daß der Gültigkeitsbereich der klassischen Argumentation enger ist als bisher angenommen. Nach wie vor trifft zu, daß Feynmans Maschine den Floh am Faden zwar ein wenig auf und ab zittern läßt, ihn auf die Dauer und im statistischen Mittel aber nicht aufwärts befördert. Das gilt freilich nur, wenn die Krafteinwirkungen so sind wie in Gasen üblich: zufallsbestimmt, im Mittel aus allen Richtungen gleich und vor allem voneinander unabhängig.

Läßt man auch nur die letzte Bedingung fallen, so kann ein Gerät mit eingebauter Asymmetrie (Vorzugsrichtung) sehr wohl aus zufällig und symmetrisch wirkenden Kräften eine gerichtete Bewegung machen. Marcelo O. Magnasco von der New Yorker Rockefeller-Universität hat im letzten Jahr ein Beispiel dafür angegeben und durchgerechnet; kürzlich haben die Physiker Charles R. Doering und Jason Riordan von der Clarkson-Universität in Potsdam (Bundesstaat New York) sowie der Chemiker Werner Horsthemke von der Southern Methodist University in Dallas (Texas) zahlreiche weitere Beispiele präsentiert und gute Gründe für die Vermutung angegeben, daß diese nicht exotische Einzelfälle, sondern eher typisch sind ("Physical Review Letters", Band 71, Heft 10, Seite 1477, 9. September 1993, beziehungsweise Band 72, Heft 9, Seite 2984, 9. Mai 1994).

Von dem Gerät in Feynmans Gedankenexperiment übernehmen die Neuerer nur den Namen ratchet (Sperrklinke) für die zentrale Komponente, der sie ansonsten einen noch abstrakteren Aufbau geben. Das Zahnrad wird gewissermaßen aufgebogen und in ein horizontal liegendes Wellblechdach verwandelt. Darauf befindet sich ein Massenpunkt; man darf sich ein Molekül darunter vorstellen. Seine Bewegung unterliegt so großer Reibung, daß seine Trägheit vernachlässigbar ist. In Abwesenheit sonstiger Kräfte kommt er in einem der Wellentäler zur Ruhe.

Ist er nun zufallsbestimmten Stößen ausgesetzt, die man den Molekülen des umgebenden Gases zuschreiben kann, wirkt die fluktuierende Kraft im statistischen Mittel mit gleicher Häufigkeit und Intensität nach rechts wie nach links, ist also symmetrisch. Für die Verwandlung ungeordneter in gerichtete Bewegung bedarf es allerdings einer irgendwie gearteten Asymmetrie. Sie besteht in diesem Falle darin, daß die linken Wände der Wellblechtäler steiler sind als die rechten (Bild 2).

Ohne Zweifel wird sich das Molekül in seiner Vorzugsrichtung – also nach rechts – bewegen, wenn die angreifende Kraft zwar im Zeitmittel symmetrisch, aber geordnet wirkt. Man nehme beispielsweise an, eine konstante Kraft wirke abwechselnd von rechts und von links für jeweils gleiche Zeiträume. Bei geeignet gewählten Größenordnungen kann sie das Molekül zwar gegen die Schwerkraft den flachen rechten Hang hinaufbefördern, bis es ins benachbarte Tal fällt, nicht aber – bei entgegengesetztem Vorzeichen – den steilen linken.

Wenn jedoch die Kraftstöße ungeordnet und unabhängig voneinander eintreffen, kommt es merkwürdigerweise nicht mehr darauf an, welcher Hang leichter zu erklimmen ist. Auf einen Stoß, der das Molekül ein Stück hangaufwärts befördert, folgt mit gleicher Wahrscheinlichkeit einer in der gleichen wie in der entgegengesetzten Richtung. Wesentlich ist nur, ob das Molekül zu irgendeinem Zeitpunkt genügend Energie – entsprechend der Höhe über dem Nullniveau – akkumuliert, um den Gipfel zwischen zwei Tälern zu überwinden. Welche Bewegungsrichtung es zu diesem Zeitpunkt hat, hängt gänzlich vom Zufall ab; es springt also ebenso häufig ein Tal weiter nach links wie nach rechts, und eine Nettobewegung findet nicht statt. Das ist die Situation, die der zweite Hauptsatz beschreibt.

Doering, Horsthemke und Riordan betrachteten nun den Fall einer zufälligen und zeitlich symmetrischen Kraft, die jedoch zusätzlich eine zeitliche Korrelation aufweist, so daß sie nicht gänzlich unabhängig von ihrer eigenen Vorgeschichte ist. Beispielsweise bleibt sie beim sogenannten Känguruh-Prozeß für ein Weilchen konstant, springt dann plötzlich zu einem anderen, zufallsbestimmten Wert, verweilt dort für eine ebenfalls zufallsbestimmte Zeit und so weiter. Bei genügend kleinen Kräften findet unter diesen Umständen tatsächlich eine Nettobewegung in Vorzugsrichtung statt. Bei größeren Kräften läßt der Effekt jedoch nach und kann sich schließlich sogar umkehren, so daß sich das Molekül gegen die Vorzugsrichtung bewegt.

Dieses Resultat einer abstrakten mathematischen Berechnung wäre vorläufig so zu interpretieren: Bei kleinen bis mittleren Größenordnungen verhält sich das Molekül zumindest gelegentlich so wie im Fall der geordnet schwankenden Kraft. Zumindest tritt dieses Verhalten häufiger auf als das entgegengesetzte, woraus eine Nettobewegung in Vorzugsrichtung resultiert. Bei sehr großen Kräften dagegen ist es hilfreich, an einzelne heftige Stöße statt an eine über eine Zeitspanne anhaltende Kraft zu denken. Dabei wird das Molekül jeweils über eine weite Strecke verschoben – in der Regel über mehrere Gipfel hinweg – und fällt schließlich in das nächstgelegene Minimum. Das aber liegt mit größerer Wahrscheinlichkeit links vom Endpunkt der Stoßbewegung als rechts; denn da die flachen Hänge langgestreckter sind als die steilen, haben sie einen größeren Anteil an der Gesamtstrecke. Daraus resultiert eine Nettobewegung nach links.

Warum können wir eigentlich gehen?


Die geschilderten Überlegungen sind keineswegs so realitätsfern, wie es den Anschein haben mag. Das Modell des asymmetrischen Wellblechdachs paßt gerade wegen seiner Abstraktheit auf eine Vielzahl von Situationen – insbesondere in biochemischen Systemen. Die dort wirkenden Kräfte sind nämlich oft zufallsbestimmt, symmetrisch und anders als unter den uns geläufigen makroskopischen Verhältnissen nicht vernachlässigbar, weil wesentliche Dinge sich auf der molekularen Ebene abspielen.

Beispielsweise gibt es Enzyme, die einen Mechanismus mit Vorzugsrichtung realisieren. Ein solcher biologischer Katalysator kann zwei Stoffe A und B ineinander umwandeln. Die Reaktion von A nach B läuft dabei zwar erheblich schneller ab als die umgekehrte; aber wenn B im Überschuß vorhanden ist, dominiert gleichwohl dessen Verwandlung in A. Über das gesamte Innere einer Zelle gemittelt, seien A und B im Gleichgewicht. In seiner unmittelbaren Umgebung findet das Enzym wegen der thermischen Bewegung aller Moleküle dann zufallsbestimmt und symmetrisch mal das eine, mal das andere Substrat im Überschuß vor. Diese Überschüsse entsprechen den Kräften im Wellblechdachmodell.

Vermag das Enzym aus dem makroskopischen Gleichgewicht heraus im Nettoeffekt einen Überschuß an B zu erzeugen? Nach dem Entropiesatz wäre genau das unmöglich – es sei denn, die Überschußfunktion wäre zeitlich korreliert, so wie oben die Kraftfunktion. Das aber kann bereits dadurch geschehen, daß das Enzym sein Substrat für eine gewisse Zeit bindet und auf diese Weise in seiner unmittelbaren Umgebung ein Mindestmaß an Ordnung herstellt (,Effects of Oscillations and Energy-driven Fluctuations on the Dynamics of Enzyme Catalysis and Free-energy Transduction" von R. Dean Astumian, P. B. Chock, Tian Yow Tsong und Hans V. Westerhoff, "Physical Review A", Band 39, Seiten 6416 bis 6435, 1989).

Der Transport von Vesikeln und Myosinfilamenten entlang von Aktinfasern ist durch ähnliche Modelle beschreibbar. Für die Biophysiker stellte sich das Rätsel, wie große Moleküle entlang solcher Fasern gerichtet transportiert werden, ohne daß eine äußere Kraft – ein elektrisches Feld, ein Konzentrations- oder Temperaturgefälle – eine Richtung vorgäbe. Insbesondere kommt Muskelbewegung dadurch zustande, daß Aktin- und Myosinfilamente sich mit Hilfe eines sperrklinkenartigen Mechanismus ineinander verhaken und aneinander entlanggleiten (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1994, Seite 34). Jede dieser kleinen Sperrklinken ist der Wärmebewegung des umgebenden Mediums ausgesetzt und zusätzlich für ihre Funktion auf die – zufallsbestimmte – Ankunft eines energiespendenden ATP-Moleküls angewiesen.

Demnach können wir gehen, weil die biologischen Moleküle in unserem Körper dem Entropiesatz ein Schnippchen schlagen. Dessen Gültigkeit bleibt zwar unangefochten; gleichwohl nutzen die biochemischen Mechanismen einen gewissen Mangel an Unordnung – nämlich die zeitliche Korrelation – aus, um eben doch ungeordnete Bewegung in geordnete zu verwandeln.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1994, Seite 38
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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