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Moderne Ethnologie: Die Pekingoper unter Mao

Offenheit und Wandlungsfähigkeit charakterisierten die chinesische Oper seit ihrer Entstehung im 13.Jahrhundert. Das stellte sie auch in den dunklen Jahren der Kulturrevolution unter Beweis.


Seit dem Tode Mao Zedongs und dem Ende der so genannten "Großen Proletarischen Kulturrevolution" 1976 weht ein neuer Wind in China: Das kommunistische Land öffnet sich, allerdings weniger den Leitbildern westlicher Demokratien als der Weltwirtschaft.

Das Reich der Mitte ist auf dem besten Weg, zum Global Player zu werden, von Konzernen umworben, die auf einen boomenden Markt hoffen. Solche Veränderungen sind vielleicht unabdingbar für diesen Staat, der 1,2 Milliarden Einwohner mit Nahrung, Arbeit und Lebensqualität versorgen muss. Leicht fallen sie ihm aber nicht – das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989, das Hunderte von Menschenleben forderte, ist noch deutlich in Erinnerung. Aufmerksam verfolgen westliche Beobachter deshalb die Entwicklung des Riesenreiches.

Nicht wenige dürften dabei irritiert festgestellt haben, dass seit Mitte der 80er Jahre ausgerechnet die Kunst und Kultur einer der dunkelsten Phasen jüngerer chinesischer Geschichte en vogue sind – die "Große Proletarische Kulturrevolution" ist "Kult" geworden.

Was für westliche Beobachter schwer nachzuvollziehen ist, widerspricht auch der herrschenden Lehrmeinung vieler Historiker: In ihren Augen war die Zeit zwischen 1966 und 1976 eine Phase von Chaos und kultureller Stagnation. Beispielsweise beherrschten damals achtzehn so genannte Modellstücke, darunter zehn "revolutionäre Pekingopern", die Theaterbühnen. Diese unter Führung der kommunistischen Partei und vor allem von Maos Frau, Jiang Qing, auf Linie getrimmten Werke werden von Kulturhistorikern gemeinhin als Perversion in der chinesischen Kunst bewertet.

Unverständlich also zunächst, dass gerade die "Modellopern" heute ein ausverkauftes Haus garantieren, dass deren Verfilmungen aus den frühen 70er Jahren Renner auf dem Videomarkt sind und ihre Arien in die Hitparaden gelangen. Doch im Grunde ist des Rätsels Lösung ganz einfach. Die revolutionären Pekingopern waren lediglich der radikale Höhepunkt einer Reform dieser Kunstgattung und lassen sich als Syntheseprodukt aus hoher Kunst und Populärkultur einerseits und aus chinesischer und ausländischer Kunst andererseits verstehen.

Tatsächlich ist Wandel vielleicht die wichtigste Konstante in der chinesischen Opernkunst, die einst im 13. Jahrhundert unter der Herrschaft der Mongolen in China entstand. Seit ihren Anfängen zeichnet sich die chinesische Oper, die stets vielen Zwecken und Gesellschaftsschichten diente und somit einer Vielzahl unterschiedlichster Einflüsse unterworfen war, durch ihre Fähigkeit aus, diese zu integrieren und zu assimilieren. Aristokraten ließen sich von den Schaustücken unterhalten, die aber auch integraler Bestandteil des Ahnenkultes und aller populären Fest- und Feiertage waren. Kaufleute, die weite Strecken durch das Reich zogen und in größeren Städten lokale Landsmannschaften errichteten, pflegten dort die Operntraditionen ihrer Heimat, luden aber auch gerne lokale Künstlertruppen ein, um ihnen unbekannte Opernformen kennen zu lernen. Dabei entstanden neue Opern, Synthesen und Varianten der alten, von denen einige wieder die Gunst der Eliten fanden. Vielfalt und Konkurrenz der Formen sowie die stete Verdrängung der am Hofe etablierten Stile durch die beim Volk populäreren haben eine Tradition hervorgebracht, deren Hauptmerkmal es ist, sich ständig zu erneuern und zu reformieren.

Dem kam freilich ein Umstand sehr entgegen: Während in der europäischen Opernkunst ein Komponist mit seiner Partitur ein Werk ein für alle Mal festlegt, so steht und fällt die chinesische Oper mit dem Schauspieler, der immer auch ihr Neuschöpfer ist. Und während das europäische Singspiel an den florentinischen Fürstenhöfen der Spätrenaissance geboren wurde und zunächst und vornehmlich der Erbauung des Adels diente, erstand die chinesische Oper aus dem Volk und für das Volk. Einen Autor oder Komponisten gab es nicht, die Stücke wurden jahrhundertelang vornehmlich mündlich überliefert.

Gesamtkunstwerk Oper

Als Grundlage für die Standardstücke Jiang Qings diente die im ausgehenden 18. Jahrhundert entstandene Pekingoper. Sie war in ganz China beliebt, vereinigte sie doch unterschiedliche lokale und regionale Stile zu einer "nationalen" Syntheseform. Doch auch diese Form wurde nie museal festgeschrieben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits begannen Reformer, die inzwischen zur Elitekunst avancierte Pekingoper zu reformieren: Die klassische Pekingoper arbeitet beispielsweise mit extrem reduzierter und subtiler Symbolik: Die Farbe und Musterung einer Schminkmaske, eines Hutes oder eines Mantels verrät dem Kenner bereits den Charakter, die Fertigkeiten und die soziale Stellung der dargestellten Figur, bevor diese auch nur ein Wort gesagt hat. Eine Peitsche mit farbigem Wedel in der Hand des Schauspielers steht für die Anwesenheit eines Pferdes, als Kulisse für einen Berg genügt ein umgekippter Stuhl, das Hochhalten einer schwarzen Fahne steht für Sturm.

Die Reformer forderten realistischere Darstellungen statt solcher Symbolik und sozial engagierte zeitgenössische Themen anstelle "obskurer Geistergeschichten". Ihre Kritik war Teil einer einschneidenden Veränderung im China des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Ausländische Mächte hatten in China Territorien erobert, und dem Kaiserreich gelang es immer weniger, Chinas Interessen zu vertreten; Reformen galten als überfällig, wurden aber nur zögerlich angegangen. Nach der Niederschlagung der ausländerfeindlichen und kurzfristig vom Kaiserhaus unterstützten Boxerbewegung durch alliierte Kräfte 1900 häuften sich Umsturzversuche. Eigentlich eher zufällig wurde einer davon im Herbst 1911 in Wuhan zur erfolgreichen Militärrevolte, die sich über das Reich ausbreitete. Zum Jahresende wurde dann die Republik ausgerufen, der letzte Kaiser, Pu Yi, dankte am 12. Februar 1912 ab.

Es folgten rund vier Jahrzehnte Bürgerkrieg, an dem zunächst eine Reihe von lokalen selbst ernannten Militärherrschern, später vor allem die formal regierende Nationale Partei (Guomindang) und die 1921 gegründete Kommunistische Partei Chinas (KPCH) beteiligt waren. Nach dem anti-japanischen Krieg (1937–1945), zu dem sich Kommunisten und Nationalisten in einer Einheitsfront zusammengeschlossen hatten, brach der Bürgerkrieg noch einmal kurz und heftig aus. Schließlich kapitulierte der Führer der Guomindang, Chiang Kaishek, und zog sich 1949 mit seinen Truppen nach Taiwan zurück, während der siegreiche Mao Zedong am 1. Oktober die Volksrepublik China ausrief.

Einer, der diese Zeit des Umbruchs miterlebt hat, war Mei Lanfang (1894–1961), ein Opernsänger, der mit seiner grazilen Verkörperung von Frauenrollen nicht nur ganz China, sondern auf Tourneen in den Westen unter anderem auch Charlie Chaplin und Bertolt Brecht beeindruckt hat. Viele Neuerungen, die später die Modellopern der Kulturrevolution kennzeichnen sollten, hatte er bei einem Besuch 1913 in Schanghai kennen gelernt und daraufhin begeistert propagiert. Dort hatte man versucht, das chinesische Theater nach westlichem Vorbild zu modernisieren: Das Opern-Orchester war von der Bühne verbannt und um europäische Instrumente ergänzt worden. Auch Drehbühnen und elektrisches Scheinwerferlicht wurden gebräuchlich (in der Werbung für diese Neuerungen hieß es, man könne so dem Publikum Informationen naturwissenschaftlicher Art nahe bringen). Vor allem aber suchte das Theater Schanghais den Realismus und ersetzte beispielsweise den Stuhl auf der Bühne durch das Modell eines Berges, die schwarze Unwetter-Fahne durch Windgeräusche und fallendes Wasser.

Wiehern statt Peitsche

In den Diskussionen um die Modernisierung der chinesischen Opernkunst kam in den 20er und 30er Jahren auch immer wieder die Forderung auf, das Theater als Schule und den Schauspieler als Lehrer für die Massen zu begreifen. Entsprechend sollten einige typische Elemente der chinesischen Operntradition von den Bühnen verschwinden, so insbesondere sexuelle Anspielungen, Götter und Geisterfiguren. Pamphlete brandmarkten die traditionellen Opern als abergläubisches, akrobatisches Spiel, das im Widerspruch zum modernen Leben stehe. Der Ruf nach zeitgenössischen Themen wurde laut, das Theater solle sich aus dem wahren Leben speisen.

Mei Lanfang integrierte derartige Ideen in seinen eigenen Produktionen. Er führte Opern in zeitgenössischen Kostümen und zu tagespolitischen Themen auf, ersetzte subtile Symbolik durch mehr Realismus. Die erwähnte Peitsche etwa, die die Anwesenheit eines Pferdes andeutete, wurde durch ein Pferdewiehern aus einem Lautsprecher unterstützt. Auch schrieb er Stücke um, sodass sie gut verständliche (politische) Reden in der Hochsprache Mandarin und nicht nur schwer verständliche gereimte Vers-Phrasen enthielten – so sollten sie das Volk effektiver erziehen. Als einer der ersten Schauspieler nutzte Mei Lanfang auch die Möglichkeiten des Films für die Verbreitung der neuen Opernkunst.

Die Reformer der Kulturrevolution setzten diese Ansätze fort, wenn auch in radikaler Form. Denn strikt wie nie zuvor unterlag in jenen zehn Jahren die gesamte Kunst- und Kulturproduktion Chinas genauen politischen Vorgaben. Die revolutionär-romantische Kunst der Kulturrevolution, die aus dem Geist der Volksmassen erstehen und diesen dienen sollte, ließ nur bestimmte Farben, Formen und Klänge zu, die festgeschrieben wurden in Form von achtzehn Modellstücken: zehn revolutionären Pekingopern, vier Balletten, zwei Sinfonien und zwei Klaviermusiken. Diese nach wie vor gespielten Stücke handeln ausnahmslos von der jüngeren chinesischen Vergangenheit. Sie betonen den Kampf des Volkes gegen äußere und innere Feinde, die enge Zusammenarbeit zwischen Zivilbevölkerung und kommunistischer Armee sowie den Glauben an Mao Zedong und den Sieg der kommunistischen Partei.

Um den didaktischen Effekt solch stereotyper Botschaften zu optimieren, sorgte Jiang Qing dafür, dass diese Werke jeden Einwohner der Volksrepublik erreichten: Auf Feldern und in Fabriken spielten Ensembles in den Arbeitspausen Arien aus den Modellstücken. In den Schulen wurden sie nach genauen Anweisungen einstudiert – bis zur Wattzahl der Glühbirnen war jedes Aufführungsdetail vorgegeben. Auf den Straßen tönten die Stücke aus Lautsprechern; Comics, Tassen, Malschablonen und Poster zeigten ihre Heldinnen und Helden.

Die Modellstücke und die revolutionären Pekingopern galten dabei durchaus nicht als unantastbar: Freiwilligenteams passten sie den lokalen Dialekten und musikalischen Besonderheiten der verschiedenen lokalen Opernstile an; vom Staat bestimmte Künstlertruppen spezialisierten sich auf jeweils ein Werk, das sie vor ausgewählten Vertretern der Bauern, Arbeiter und Soldaten aufführten, um es nach deren Vorschlägen immer weiter zu verbessern (Maos Konzept der "permanenten Revolution" wurde so auf die künstlerische Produktion übertragen). Jede revidierte Fassung der Modellstücke galt als nationales Ereignis, das auf der ersten Seite des wichtigsten Presseorgans, der Renmin Ribao (Volkszeitung), verkündet wurde. Das höchste theoretische Organ der Partei, die Zeitschrift Hongqi (Rote Flagge), druckte die Libretti komplett sowie mit (kunst-)politischer Exegese. 1970 begann man, die Modellstücke zu verfilmen, um sie so auf ewig zugänglich zu machen.

Glaubt man der chinesischen Statistik, so haben allein zwischen 1970 und 1974 insgesamt 7,3 Milliarden Menschen die Filmversion der Modelloper "Mit Geschick den Tigerberg erobert" gesehen – innerhalb dieser vier Jahre muss demnach jeder chinesische Mann, jede Frau und jedes Kind den Film im Durchschnitt etwas mehr als siebenmal angeschaut haben. Vergleichbares gilt auch für die anderen Modellstücke. Noch heute kann fast jeder, der in dieser Zeit aufwuchs, Arien aus den Modellopern komplett auswendig und begleitet von der richtigen Gestik vorsingen.

Doch reicht ihre Bekanntheit allein nicht aus, die heutige Popularität dieser Stücke zu erklären. Die Modellopern wären vermutlich als Symbol jener Jahre der Unterdrückung und Zerstörung von den Bühnen verschwunden, wären sie nur Revolutionskitsch und nicht im Kern weiterentwickelte chinesische Opern, die in ihrer künstlerischen Perfektion ihresgleichen suchen.

Dem Vorwurf, die revolutionären Pekingopern hätten durch ihr allzu konkretes Bühnenbild, die realistischen Kostüme und verwestlichte musikalische Strukturen ihre wahre Identität als Pekingopern verloren, ist einfach zu begegnen: Denn wer genau hinschaut, entdeckt schnell typische Elemente der Pekingoper wieder. Wie so oft gelang es der chinesischen Oper auch in ihrem kulturrevolutionären Gewand, sich zu wandeln, ohne sich zu verraten.

Dass die Modellstücke Anweisungen geben, wie man sich in spezifischen Situationen des sozialistischen Lebens zu verhalten habe, war nicht nur eine Fortführung der Reformen etwa von Mei Lanfang. Im Grunde hatten auch traditionelle Opern immer erzieherische Funktion – und wurden deshalb seit jeher von staatlichen Zensoren ängstlich überwacht.

Dass gute und böse Figuren anhand von Masken, Kostümen, Bewegungen, Sprache und Musik streng voneinander zu unterscheiden waren, lag ganz im Sinne dieser Didaktik und wurde daher in den Modellopern übernommen. Auch dort standen rotgefärbte Gesichter für einen guten, loyalen Charakter, gräulich-grüne für Bösewichte. Auch die Kostümfarben übernahmen traditionelle Elemente: Grün etwa trugen in traditionellen Opern nur die Tugendhaften, in der Modelloper entsprechend die Revolutionäre.

Auch die Schauspieler der neuen Pekingoper bewegen sich stilisiert nach alten Konventionen. So laufen zum Beispiel Banditen mit Schritttechniken, die auch in traditionellen Werken negativen Gestalten vorbehalten waren: Sie schwanken, wanken, rutschen aus. Häufig bücken sie sich, während positive Figuren aufrecht stehen, aufwärts schauen und ihre Handflächen in dramatischen Posen nach oben öffnen. Nicht einmal die spektakuläre Akrobatik der alten Pekingoper fehlt in den Modellstücken. Eine der schönsten Szenen in "Mit Geschick den Tigerberg erobert" zeigt Soldaten der Volksbefreiungsarmee beim Kampf gegen eine räuberische Bande. Plötzliche Zusammenstöße, atemberaubende Überschläge und mehr oder weniger geschickte Ausrutscher markieren immer deutlich, wer gut und wer böse ist.

Jagdhorn auf dem Tigerberg

Schließlich finden sich klassische Merkmale auch in der Musik wieder. In der traditionellen Pekingoper gab es beispielsweise zwei Arten von Melodiemodulen, Erhuang und Xipi genannt. Arien in ersterem Stil standen für Reflexionen und Selbstgespräche, die des zweiten – schneller und aufgeregter – dienten traditionell zur Verdeutlichung von spannungsreichen Szenen. Beides gilt auch für die Modellopern, allerdings werden dort zuweilen beide Arienarten – ganz untraditionell – kombiniert, um einen Wechsel von Gefühlen möglichst realistisch darzustellen. Als der Held Yang Zirong aus "Mit Geschick den Tigerberg erobert" auf den Berg reitet, um dort die Banditen auszuspionieren und den Angriff vorzubereiten, singt er zunächst in reflektierendem Erhuang von seinem Traum, "dass die rote Flagge über der ganzen Welt flattere". Nach einem kurzen Zwischenspiel zeigt Yang seine Erregung über den baldigen Kampf gegen die Banditen, indem er plötzlich die Arie im Xipi-Stil weitersingt.

Diese Szene zeigt überdies, wie europäische Instrumentierung das traditionelle chinesische Orchester verstärken und damit neue Aussageebenen schaffen konnte: Die Szene beginnt mit einer traditionellen Schlagzeugeinleitung, die dann in einen Orchestersatz übergeht, der durch regelmäßige und immer höher steigende Achtelbewegungen und Tremolos Yangs schnellen Ritt auf den Berg musikalisch nachmalt. Eine romantische Hornmelodie schafft Waldatmosphäre – erzeugt von dem häufig eingesetzten Jagdinstrument der europäischen Musik. Auch wird die Arie von hohen Holzbläsern, Flöte und Oboe begleitet, die – wieder abgeleitet von europäischer musikalischer Semantik – in den Modellopern idyllische Situationen markierten.

Die Liste traditioneller Elemente in den Modellopern ließe sich beliebig weiterführen, von den stilisierten Gesten, die durch die hoch erhobene revolutionär-romantische Faust nur teilweise ersetzt worden sind, bis zu den Bühnenbildern und Kostümen, die sich um Realismus bemühten. So ergab sich letztlich eine Form der Pekingoper, die trotz aller Beschränkung und Ausrichtung auf die kommunistische Linie lediglich die Reformen der Kritiker aus den 20er und 30er Jahren radikal fortführte.

Mit dem Ende der Kulturrevolution, markiert durch Maos Tod im September 1976 und die Festnahme der "Viererbande", erhielten Chinas Opernbühnen wieder die Freiheit, traditionelle Stücke in ihr Repertoire aufzunehmen. Auch so genannte "neue historische Opern", deren Libretti Geschichten aus dem traditionellen China behandeln, durften wieder aufgeführt werden. Hinzu kommen außerdem Produktionen auch von westlichen Stoffen.

All diese "traditionellen" Opern werden in einer Bandbreite von Stilen inszeniert, deren Spanne von klassisch-symbolistisch bis zu Realismus im Stile Hollywoods reicht. Zudem finden auch Opern und Musicals ihr Publikum, die in der "europäischen Tradition" des Komponierens seit Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind. In diesem breiten Spektrum chinesischer Opernformen haben sich nun aber ausgerechnet die politisch motivierten Modellopern seit Mitte der 80er Jahre zur beliebtesten Variante gemausert. Auch wenn ihre politische Botschaft Geschichte ist, sind sie doch offensichtlich integraler Bestandteil des chinesischen kulturellen Erbes geworden. Gerade in einer Zeit, in der die chinesische Opernkunst sich der Herausforderung westlicher Unterhaltungsmedien stellen muss, könnten die Modellstücke unter neuer Flagge erneut Modell stehen: als erfolgreiche Synthese westlicher und chinesischer Kultur auf dem Weg in das 21. Jahrhundert.

Literaturhinweise


Peking Oper. Theaterzeit in China. Von Michael Gissenwehrer und Jürgen Sieckmeyer. Edition Stemmle, Verlag Photographie AG, Schaffhausen, 1987.

Opera, Society and Politics. Von Hsiao-ti Li (Dissertation), Harvard University, 1996.

The Contemporary Chinese Historical Drama. Von Rudolf G. Wagner. University of California Press. Berkeley, 1990.


China im Ausnahmezustand


Mit dem Terminus "Große Proletarische Kulturrevolution" wird heute offiziell die Dekade zwischen 1966 und Maos Tod 1976 bezeichnet. In dieser Zeit herrschten staatliche Gewalt und Terror, den Verhältnissen im NS-Staat oder in der Sowjetunion unter Stalin vergleichbar. Das erklärte Ziel Mao Zedongs und seiner nach Ende der Kulturrevolution als "Viererbande" bezeichneten Vertrauten (Jiang Qing, Wang Hongwen, Zhang Chunqiao und Yao Wenyuan) war es, endgültig "ungesundes" Gedankengut zu beseitigen: Damit umschrieben sie insbesondere vom Konfuzianismus geprägte, dem kapitalistischen Westen entstammende und als revisionistisch bezeichnete sowjetische Ideen.

Vor allem in den ersten beiden Jahren der Kulturrevolution bildeten Schüler und Studenten die "Roten Garden" und verwüsteten Tempel, Grabstätten und Privathäuser. Jede falsche Bemerkung, selbst die eines Kindes, wurde geahndet. So genannte "Kampfsitzungen" und in ihrer Folge Folter und Mord waren an der Tagesordnung, viele Menschen suchten dem Schrecken durch Selbstmord zu entgehen.

Besonders die Intellektuellen traf die Kulturrevolution hart, denn politische Gesinnung galt mehr als "Expertentum", Letzteres war sogar verdächtig. Teil der aus solchen Vorstellungen entstehenden politischen Maßnahmen war die Landverschickung von Jugendlichen aus der Stadt in möglichst unwegsame Gebiete. Sie wurden dort als Barfußdoktoren oder als billige Arbeitskräfte bei Land- und Fabrikarbeit eingesetzt.

Erst nach dem Tode Mao Zedongs gelang es, die radikalen Kräfte auszuschalten. Weil es unmöglich war, sämtliche Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, wurde die "Viererbande" für die Gräuel der Kulturrevolution verantwortlich gemacht und öffentlich verurteilt. Die Aufarbeitung dieser traumatischen Vergangenheit ist bis auf den heutigen Tag nicht abgeschlossen.


Eine Geschichte des Wandels


Von der Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit der chinesischen Oper zeugt bereits der Name ihres Urtypus, des unter der Mongolenherrschaft der Yuan-Dynastie im 13. Jahrhundert entstandenen Zaju: Wörtlich übersetzt bedeutet das "vermischtes Theater". Zu seinen Quellen zählen Shamanentänze, die möglicherweise bereits im 3. Jahrtausend vor Christus praktiziert wurden. Darin spielten bereits fließende, weite "Wasserärmel" eine Rolle, die später integraler Teil der Operngestik wurden.

Die Akrobatik gelangte wahrscheinlich im 2. vorchristlichen Jahrhundert aus Zentralasien nach China. In Form von Kampfkünsten wurde sie vor allem in daoistischen und buddhistischen Tempeln zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert weiterentwickelt. Religiöse "Wandlungstexte", die seit dem 8. Jahrhundert überliefert sind, trug man in einer Mischung aus Rezitation und Gesang vor, hinzu kamen kunstvoll vorgetragene weltliche Geschichten und ein reichhaltiges Repertoire musikalischer Suiten und unterhaltender Lieder.

Die Syntheseform Zaju vereinte somit schließlich Singen und Rezitieren, Tanz und Akrobatik, Kostüm- und Bühnengestaltung aus diesen sehr verschiedenartigen, regional weit gefächerten und sowohl der Elite- als auch der Populärkultur entstammenden Quellen. Besonders einflussreich für die Weiterentwicklung der chinesischen Oper aus dem Zaju, das über die Jahrhunderte von einer populären zu einer höfischen Form wurde und damit kreative Vitalität einbüßte, war das Aufkommen des Kunqu. Es entstand im 16. Jahrhundert in Südchina und avancierte schnell zur national anerkannten Kunstform. Die Farbensymbolik seiner Gesichtsmasken sollte großen Einfluss auf spätere Opernformen haben.

Charakteristisch für die Kunqu-Oper ist ihr Instrumentarium: Die Bambusquerflöte Dizi, die Mundorgel Sheng, eine Pipa genannte birnenförmige Laute und die Mondgitarre Yueqin. Etwa zur gleichen Zeit entstand in Nordchina die so genannte Klappernoper (Bangzi Qiang), deren Ensemble ebenfalls die Mondgitarre, darüber hinaus aber nur die zweisaitige Fiedel Huqin und die Klapper Bangzi verwendete. Während diese Form vor allem im 17. und 18. Jahrhundert große Popularität erlangte, wurde das Kunqu in dieser Zeit zum bevorzugten Opernstil der gebildeten Bürger und der Aristokratie. Als Volkstheater dagegen erlebte es einen langsamen Niedergang.

Wenig später entstand in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-hunderts die heute wohl bekannteste chinesische Opernform, die Pekingoper: Als Opernkünstler aus den verschiedensten Regionen Chinas 1790 aus Anlass des achtzigsten Geburtstags des Kaisers Qianlong in Peking zusammenkamen, soll sie der Legende nach erfunden worden sein. Sie war aber wohl eher das Produkt eines lang andauernden Syntheseprozesses. Vier regionale Opernstile spielten dabei eine herausragende Rolle: die genannten Kunqu und Bangzi Qiang, die Form Yiyang Qiang, die etwa im 14. Jahrhundert in der Provinz Jiangxi als populäre Form aus dem mittlerweile höfischen Zaju entstand, sowie die Pihuang Xi, die "Opern aus Arien im Xipi- und Erhuang-Stil", aus der Provinz Anhui.

Beispielsweise stammt die für die Pekingoper typische Einteilung in vier Rollenfächer aus der Tradition des Yiyang Qiang, die Formen der gesanglichen Ausgestaltung aus Kunqu, Yiyang Qiang und Klappernoper. Letztere war auch Vorbild für die Betonung des rhythmischen Elements in der Pekingoper und stellte einen Teil des Instrumentariums. Für die Einteilung und Akzentuierung der Arien schließlich war die Pihuang Xi-Tradition maßgeblich.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2001, Seite 76
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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