Direkt zum Inhalt

Die Physiologie der Dekompressionskrankheit

Seit mehr als einem Jahrhundert ist die eigentliche Ursache der mitunter tödlichen Komplikationen insbesondere beim Tauchen bekannt: Gasblasen im Blut oder im Gewebe infolge eines zu raschen Wechsels von höheren zu niedrigerem Umgebungsdruck. Die den vielfältigen Symptomen zugrundeliegenden Mechanismen beginnt man aber erst jetzt zu verstehen.

Vom nächtlichen Himmel senkte sich der Rettungshubschrauber herab. Unsere Überdruckkammer am Medizinischen Zentrum der Duke-Universität in Durham (North Carolina) stand für den Patienten, einen 42jährigen Anwalt auf Tauchurlaub an der Atlantikküste, bereit. Er wirkte benommen und hatte am Rumpf eine Art Ausschlag. Nach allem, was uns bereits zu dem Fall gemeldet worden war, vermuteten wir Gasblasen im Organismus, vor allem im Gehirn.

Sieben Stunden zuvor war der Mann ohne Beschwerden von seinem zwei- ten Tauchgang an diesem Tag zurückgekehrt. Eine dreiviertel Stunde später bekam er Kopfschmerzen und konnte nicht mehr normal gehen, ihm wurde schwindlig, und seine Haut am Rumpf begann zu prickeln und zu jucken – ein treffend Taucherflöhe genanntes Symptom. Sein Blickfeld engte sich ein, wie er sagte, und ihm wurde übel. Auf der Rückfahrt zum Hotel verirrte er sich; er vermochte nicht mehr zusammenhängend zu denken und erkannte vorübergehend sogar seine Freundin nicht mehr.

Nach einer neurologischen Untersuchung kam der Patient in Begleitung einer speziell dafür ausgebildeten Krankenschwester in die Therapiekammer. Der Innendruck wurde auf 2,8 Atmosphären erhöht und dann stufenweise über sechs Stunden wieder auf den Normalwert von einer Atmosphäre (100 Kilopascal) gesenkt; währenddessen erhielt der Patient über eine Atemmaske reinen Sauerstoff.

Dies ist die Standardtherapie für die meisten Formen der Dekompressionskrankheit. Unter diesem Begriff sind die verschiedenen, durch Gasblasen in Gewebe oder Blut verursachten Beschwerdebilder zusammengefaßt, von denen insbesondere Taucher und Caisson-Arbeiter (die in einem Druckkasten unter Wasser tätig sind), aber auch Astronauten und Stratosphärenflieger betroffen sein können. Weitere Bezeichnungen sind denn auch Taucher-, Druckluft- oder Caisson-Krankheit beziehungsweise Unterdruck- oder Druckfallkrankheit.

Kernspintomographische Aufnahmen vom Kopf des Urlaubers bestätigten am nächsten Tag unseren Verdacht: Im Hirngewebe waren punktförmige Flüssigkeitsansammlungen (Ödeme) zu sehen, die auf eine von Gasblasen ausgelöste Schwellung hindeuteten. Wie die meisten Patienten mit derartigen schweren Symptomen, die in einer Druckkammer ausreichend re- und dann allmählich wieder dekomprimiert wurden, hatte sich der Mann aber nach etwa einer Woche von seiner "visuellen Desorientierung", wie er es nannte, vollkommen erholt – bis auf gewisse Innenohrbeschwerden, die schließlich auch abklangen.

Wissenschaftlich bedeutsam wurde der Fall für uns letztlich deshalb, weil auf ihn eine von uns zuvor entwickelte Hypothese über die Rolle von Herzfehlern bei der Entstehung der Dekompressionskrankheit zutraf (klassische Theorien beziehen dieses Organ nur selten mit ein): Bei der Nachsorge-Untersuchung entdeckten wir ein offenes Foramen ovale (diese Öffnung der Vorhofscheidewand schließt sich normalerweise nach der Geburt, indem die sich überlappenden oberen und unteren Abschnitte der Wand miteinander verkleben). Über eine derartige Kurzschlußverbindung zwischen rechtem und linkem Vorhof können Gasblasen statt zur Lunge, wo sie sich gewissermaßen herausfiltern ließen, in den arteriellen Blutkreislauf des Körpers gelangen und die Versorgung lebensnotwendiger Organe, vor allem des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark), unterbinden (Bild 2).


Unfreiwillige Erfahrungen

Nach vielfältigen Versuchen in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit hat sich der Mensch seit nunmehr zwei Jahrhunderten durch Einsatz von Druckluft den Aufenthalt unter Wasser ermöglicht; Ende des 18. Jahrhunderts vermochte der britische Ingenieur John Smeaton eine Taucherglocke erstmals durch eingepumpte, somit komprimierte Luft wasserfrei zu halten. In dieser langen Zeit ist ein reicher medizinischer Erfahrungsschatz – oft infolge unglücklicher Unfälle – darüber zusammengekommen, wie der menschliche Körper auf Belastungen reagiert, für die er eigentlich nicht geschaffen ist. So wirkt der Stickstoff der geatmeten Preßluft ab gewissen Tiefen und somit Drücken narkotisierend, der Sauerstoff sogar toxisch. Zudem droht beim Tauchen wegen der hohen Wärmeleitfähigkeit des Wassers Unterkühlung, und sehr hoher Druck löst seltsame zentralnervöse Symptome aus (siehe Kasten auf Seite 75).

Die häufigste unliebsame Folge des Tauchens ist aber die noch immer in manchem rätselhafte Dekompressionskrankheit. Ihre eigentliche Ursache – Gasblasen im Blut oder Gewebe – ist immerhin schon seit 1877 bekannt, und so lange müht man sich bereits um weitere eingehende Klärung. Der französische Physiologe Paul Bert, der erstmals Gasblasen mit dem Krankheitsgeschehen in Verbindung brachte, wies auch nach, daß es sich um ausgegasten Stickstoff handelte; da Sauerstoff von den Zellen der Gewebe verbraucht wird, stellt er bei der Dekompression gewöhnlich kein Problem dar.

Wie die Namen Druckluft- und Caissonkrankheit andeuten, traten die Komplikationen auf, als nach Erfindung der Druckluftpumpe die zunächst simple Taucherglocke 1841 zum oben geschlossenen, unten offenen Caisson weiterentwickelt worden war. Solche stählernen Senkkästen setzte man vor allem zum Bau von Brückenfundamenten auf einer Gewässersohle ein. In den Innenraum, durch Überdruck wasserfrei gehalten, gelangen die Arbeiter durch eine Luftschleuse. In der Pionierzeit dieser Technik klagten viele, sobald sie wieder un-ter Normaldruck kamen, über Gelenkschmerzen; gelegentlich gab es ernstere Probleme wie Taubheitsgefühl, Muskelschwäche, Lähmungen sowie Verlust der Blasen- oder Darmkontrolle. Einige Betroffene starben sogar.

Die anglo-amerikanische Bezeichnung bends erhielt die Caisson-Krankheit beim Bau der stählernen Brücke von St. Louis (Missouri) über den Missisippi in den Jahren 1867 bis 1874. Wegen der Gelenkschmerzen liefen die Arbeiter manchmal mit leicht vorgebeugter, affektiert erscheinender Haltung, wie sie als Grecian Bend (wörtlich: griechische Biegung) bei der Damenwelt dieser Zeit Mode war (Bild 3). Von den insgesamt rund 600 Arbeitern, die dort in den Caissons tätig waren, bekamen allein 119 die ernsteren, neurologischen Störungen; 14 davon starben.

Ein Betroffener war auch Alphonse Jaminet, der Baustellenarzt. Ihm wurde eines Abends nach Verlassen des Caissons schwindlig, er konnte nicht mehr sprechen und litt unter Gliederschmerzen sowie unter Lähmungen eines Arms und beider Beine. Er lagerte seine Beine hoch und trank Rum; innerhalb einer Woche waren seine Beschwerden verschwunden. Überraschenderweise erholten sich auch viele andere Schwerstbetroffene ohne Zutun; einige aber blieben für den Rest ihres Lebens behindert.

Noch mehr Todesopfer – fast zwei Dutzend – forderte die New Yorker Brooklyn-Brücke. Zudem blieb, nachdem der Konstrukteur John A. Roebling zu Baubeginn 1869 bei einem Unfall gestorben war, dessen Sohn Washington nach einem Caisson-Aufenthalt gelähmt. Den Fortgang der erst 1885 abgeschlossenen Arbeiten überwachte er von seiner Wohnung aus mit dem Fernglas und gab Anweisungen per Kurier – mit jedem neuen Zettel lief seine Frau Emily los.

Die modernen Behandlungsverfahren fußen auf den Erfahrungen im vergangenen Jahrhundert, daß sich Beschwerden wie Gelenk- und Muskelschmerzen nach Rückkehr in den Caisson häufig besserten – die Gasblasen verkleinerten sich dann wieder. Überdies hatten Experimente von Bert ergeben, daß das Atmen von reinem Sauerstoff bei Tieren Symptome der Dekompressionskrankheit linderte. Rekompression und anschließende langsame Dekompression bei gleichzeitiger Sauerstoffbeatmung gehören heute zu praktisch jedweder Therapie. Diese Maßnahmen können noch mehrere Stunden oder gar Tage nach Auftreten der Symptome zumindest Besserung bringen, doch ein günstiges Ergebnis ist am ehesten bei rasch eingeleiteter Rekompression zu erwarten.

Der Kreis gefährdeter Personen hat sich seither um Luftwaffenpiloten erweitert, die beim Aufstieg in große Höhen einem Druckabfall ausgesetzt sind, und um Astronauten, die außenbords arbeiten – der Binnendruck ihrer Spezialanzüge wird vor dem Verlassen des Raumfahrzeugs langsam auf Werte unter einer halben Atmosphäre abgesenkt. Gewachsen ist dieser Kreis aber vor allem durch das moderne Gerätetauchen, seit die französischen Meeresforscher Jacques Yves Cousteau und Emile Gagnan in den fünfziger Jahren die sogenannte Aqualunge entwickelt hatten. Unter den etwa drei Millionen Sporttauchern in den Vereinigten Staaten werden jährlich rund 900 Dekompressionsunfälle registriert; in Europa mit etwa einer Million sind es schätzungsweise 300. Die tatsächliche Häufigkeit ist nicht bekannt. Weltweit dürf- te das Risiko dieser Gruppe bei rund einem solchen Unfall pro 5000 bis 10000 Tauchgänge liegen, und das von Berufstauchern, die oft höherem Druck für längere Zeiten ausgesetzt sind, beim zehnfachen (in Deutschland ist die Dekompressionskrankheit eine meldepflichtige Berufskrankheit).

Besonders beunruhigend dabei ist, daß zumeist kein Leichtsinn im Spiel war. Bereits Anfang dieses Jahrhunderts er- arbeitete der britische Physiologe John S. Haldane anhand seines mathematischen Modells Dekompressionstabellen, aus denen abzulesen war, wie lange man sich in welcher Tiefe theoretisch ohne übermäßiges Risiko aufhalten konnte. Sie wurden immer wieder ergänzt und verbessert, sind aber nicht weltweit einheitlich. Aus ihnen geht die jeweilige sogenannte Nullzeit hervor, innerhalb derer der sofortige ununterbrochene Aufstieg mit langsamer Geschwindigkeit noch möglich ist, und auch, in welche Etappen mit wie langen Pausen der Aufstieg bei längeren Tauchgängen einzuteilen ist (Bild 1). Inzwischen gibt es auch wasserdichte elektronische Dekompressionsrechner. Seither ist zwar die Rate der Dekompressionsunfälle wie auch die Anzahl Schwerbetroffener drastisch zurückgegangen, doch beteuert etwa jeder zweite Erkrankte, sich an die jeweils empfohlenen Limits gehalten zu haben. Eine Sicherheitsgarantie bieten sie also nicht.


Eine Krankheit, viele Formen

Bei der Erforschung der Dekompressionskrankheit hat man unter anderem deswegen nur zähe Fortschritte gemacht, weil sich hinter diesem Namen mehrere lose zusammenhängende Krankheitsbilder verbergen. So kann die Dekompressionskrankheit in Form einer arteriellen Luftembolie auftreten. Diese unterscheidet sich von anderen Formen hauptsächlich darin, wie das blasenbildende Gas in den Körper gelangt ist, und in gewissem Umfang auch in den Symptomen.

Typische Unfallursache hierfür ist, daß ein Anfänger oder ein in Panik geratener geübterer Taucher zu schnell nach oben strebt und dabei den Atem anhält. Mit dem abnehmenden Umgebungsdruck auf den Körper expandiert die Luft in der Lunge dann so stark, daß sie das Gewebe sprengen und direkt ins Blut übertreten kann. Dieses Risiko besteht auch, wenn nur ein Teil der Bronchialwege, etwa aufgrund von Asthma oder einer Atemwegsinfektion, blockiert ist.

Von der Lunge gelangen Gasblasen mit dem sauerstoffangereicherten Blut zum Herzen und von dort weiter in die Körperarterien, nicht selten in solche zum Gehirn. Die dadurch hervorgerufenen Durchblutungsstörungen, die Hirngewebe zum Absterben bringen oder zumindest in seiner Funktion beeinträchtigen, erklären am ehesten die in solchen Fällen häufigen Symptome: plötzliche Bewußtlosigkeit, Krämpfe sowie links- oder rechtsseitige Lähmungen.

Klinische Beobachtungen legen jedoch nahe, daß eine Verlegung von Arterien zudem schädliche Folgeprozesse auslösen kann. Einigen Patienten geht es beispielsweise nach einer Rekompression zunächst besser; dann aber – wenn längst keine Blasen mehr vorhanden sein können – verschlechtert sich ihr Zustand unerklärlicherweise. An Tieren haben Desmond F. Gorman und seine Mitarbeiter von der Universität Adelaide (Australien) festgestellt, daß sich die Hirndurchblutung langsam, aber stetig mindert, selbst wenn nach einer Luftembolie alle Blasen aus dem Gefäßsystem eliminiert worden sind. Einiges spricht dafür, daß dann die einschichtige innere zelluläre Auskleidung der Blutgefäße – das Endothel – geschädigt ist, was weiße Blutkörperchen anlockt; sie könnten die Zirkulation direkt oder indirekt durch Abgabe von Wirkstoffen beeinträchtigen.

Dagegen rühren die anderen Formen der Dekompressionskrankheit von Gasblasen her, die erst im Gewebe entstehen. Verursacher sind Inertgase, üblicherweise Stickstoff oder Helium, der Atemgasgemische (in geringeren Tiefen Preßluft, in größeren vor allem eine Helium-Stickstoff-Sauerstoff-Kombination; siehe Kasten auf Seite 75). Sie lösen sich unter dem erhöhten, von der Wassertiefe abhängigen Druck im Blut der Lunge, gelangen auf diese Weise über das Kreislaufsystem zu den Kapillaren und wandern ins Gewebe.

Dieses Eindiffundieren – wie auch das Wiederausdiffundieren beim Auftauchen – geschieht rasch bei gut durchbluteten Organen mit dichtem Kapillarnetz wie Gehirn und Rückenmark. Darin wird der Austausch der Inertgase in erster Linie durch den Blutfluß bestimmt. Dagegen sind Gelenke in dieser Hinsicht träge, weil sie vergleichsweise schlecht durchblutet werden (der flüssigkeitsgefüllte Gelenkspalt wie auch das als Gleitfläche dienende Knorpelgewebe enthalten keine Blutgefäße). In der Skelettmuskulatur variiert der Austausch von Inertgasen beträchtlich: Bei einem sich bewegenden warmen Taucher ist sie bis zu zehnmal besser durchblutet als bei einem ausgekühlten in Ruhe.

Bei der Rückkehr zur Wasseroberfläche enthält das Körpergewebe eines Preßlufttauchers einen erheblichen Überschuß an gelöstem Stickstoff (Bild 4). Dieser wird nach und nach vom Blut aufgenommen und über die Lunge abgeatmet. Aber solange der Druck aller im Gewebe gelösten Gase den äußeren übersteigt, das Gewebe also übersättigt ist, können sich Bläschen bilden – ähnlich wie bei einer frisch geöffneten Flasche Mineralwasser Kohlendioxid ausperlt. Bei speziellen Ultraschalluntersuchungen waren sogar Gasblasen im Blut von Tauchern und Fliegern zu erkennen, die einem plötzlichen Druckabfall um lediglich 0,3 Atmosphären ausgesetzt waren.

Paradoxerweise scheinen sich die Blasen nicht im Blut selbst zu bilden. Dies läßt sich Experimenten entnehmen, wie sie schon der Naturwissenschaftler und Schriftsteller Erasmus Darwin (1731 bis 1802), Großvater des Evolutionsbiologen Charles Darwin (1809 bis 1882), durchgeführt hatte: In einem vom Kreislauf isolierten blutgefüllten Gefäßstück perlt nichts aus, auch nicht bei starker Dekompression. An einem isolierten Venenabschnitt haben wir dies in unse- rem Labor bestätigt: Selbst nach einem Druckabfall von einem auf gut 120 Atmosphären erhöhten Wert ließen sich keine Gasblasen im Blut nachweisen. Es ist dafür also offensichtlich mehr als eine bloße Übersättigung erforderlich.

Andererseits hat man, selbst wenn keine Dekompression im Spiel war, auf Röntgenaufnahmen Gastaschen in den Gelenken der Gliedmaßen sowie in der Wirbelsäule und um sie herum gefunden. Sie entstehen aufgrund eines Vakuumeffekts zwischen sich gegeneinander verschiebenden Gewebeoberflächen mit viskoser Adhäsion: Das Knacken der Finger etwa, wenn man sie langzieht, rührt vom Bilden und Kollabieren einer solchen Blase her.

Gasreste dieser Taschen wirken womöglich als Keime, aus denen die für die Dekompressions-Krankheit verantwortlichen Bläschen im Gewebebereich hervorgehen. (Ähnliches beobachtet man an einem Glas Bier: Die Kohlensäureperlen steigen gewöhnlich von winzigen, luftgefüllten Kratzern der Innenwandung auf.) Zwar liegen die Keime außerhalb des Gefäßsystems; aber wenn die Blasen wachsen, könnten sie die feine Wandung von Kapillaren durchbrechen und in den Blutstrom übertreten.

Die vielen verschiedenartigen Symptome dieser Form der Dekompressionskrankheit entstehen durch unterschiedliche Verteilungen von Blasen inner- und außerhalb von Gefäßen. So werden die Gliederschmerzen wahrscheinlich von Gasblasen verursacht, die das Gewebe um die Gelenke herum überdehnen und die Nervenendigungen beeinträchtigen, Taubheitsgefühl oder Lähmung von Gliedmaßen hingegen von solchen im Rückenmark, die dort Nervenleitung und Blutversorgung unterbrechen. Husten sowie Kurzatmigkeit (für die Caisson-Krankheit ebenfalls typische Symptome) resultieren daher, daß das venöse Blut zu viele Gasblasen herantransportiert, die das Filtersystem der Lungenkapillaren überfordern (wir gehen noch genauer darauf ein).

Hinzu kommen, wie es nun aussieht, möglicherweise auch indirekte Effekte. Als Fremdkörper vermögen Blasen das Gerinnungssystem zu aktivieren und so den ohnehin durch sie gehemmten Blutfluß zu verschlechtern. Involviert ist nach gewissen Indizien von Charles A. Ward von der Universität Toronto (kanadische Provinz Ontario) auch das Komplement-System – eine Gruppe im Blut zirkulierender Proteine, die wichtig für die unspezifische Infektionsabwehr sind.


Schlupflöcher in der Scheidewand

Obwohl an sämtlichen Formen der Dekompressionskrankheit beteiligt, sind Gasblasen an sich kein sonderliches Problem. Ultraschall-Untersuchungen an Sporttauchern unmittelbar nach der Rückkehr an Land haben ergeben, daß sie im venösen System, der rechten Herzkammer und den Lungenarterien äußerst häufig vorkommen (diese aus einem gemeinsamen Stamm von der rechten Kammer zu den Lungenflügeln ziehenden Gefäße transportieren sauerstoffarmes, also venöses Blut; vom Herz wegführend sind sie aber per Definition Arterien).

Solche venösen Blasen sind vermutlich harmlos; sie werden normalerweise durch das Lungenkapillarnetz herausgefiltert und dann abgeatmet. Überfordert aber ihre Anzahl die Kapazität des Filtersystems, können sie mit dem von den Lungen dann mit Sauerstoff wieder angereicherten Blut zur linken Herzhälfte und von dort in die Körperarterien gelangen. Auch ein direkter Übertritt – von der rechten in die linke Herzhälfte unter Umgehung des Lungenkreislaufs – ist bei gewissen Anomalien der Herzscheidewand möglich. Der Effekt ist mehr oder minder der gleiche: Geraten so Gasblasen über Arterien ins Gehirn, können Störungen des Sehvermögens, der Sprachfähigkeit, des Denkens, der Persönlichkeit und des Bewußtseins die Folge sein.

Die häufigste Anomalie der Scheidewand – sie liegt immerhin bei 10 bis 20 Prozent der Menschen vor – ist das offene Foramen ovale wie im eingangs beschriebenen Fall. Mit Hilfe der Echokardiographie läßt sich eine solche Öffnung anhand des Übertritts von Blasen vom rechten in den linken Vorhof diagnostizieren. (In der Tat verwendet man – allerdings mikrogekapselte – Gasbläschen als Ultraschall-Kontrastmittel im Blut; sie reflektieren die Schallwellen und liefern so ein Bild der Durchblutung.) Ein Vorhofseptumdefekt, eine seltener vorhandene Öffnung an anderer Stelle der Scheidewand, könnte sich ganz ähnlich auswirken.

Vor fast zehn Jahren haben wir damit begonnen, sämtliche zur Behandlung einer Dekompressionskrankheit eingewiesenen Patienten auf ein offenes Foramen ovale zu untersuchen. Unsere Überlegung war, daß dieser Fehler, wenn er das Risiko eines solchen Unfalls erhöhte, bei eingelieferten Tauchern häufiger vorkommen sollte. Bei der schweren neurologischen Form traf dies tatsächlich zu: In etwa der Hälfte aller Fälle war er nachzuweisen. Personen mit einer solchen Anomalie hätten demnach wohl ein fünffach höheres Risiko, ernste Probleme im Gefolge der Dekompression zu bekommen. Wenn auch noch kein schlüssiger Beweis, hat uns dieser statistische Zusammenhang doch ermutigt, den Ansatz weiter zu verfolgen.


Verwirrende zentralnervöse Symptome

Weiterer Forschung bedürfen auch die beiden wichtigsten Unterformen der neurologischen Dekompressionserscheinungen: die cerebrale (also die des Gehirns) und die spinale (die des Rückenmarks). Sie unterscheiden sich in ihrem charakteristischen Symptommuster. Gewöhnlich ist bei Beeinträchtigung des Rückenmarks hauptsächlich die untere Körperhälfte betroffen: Die Beine gehorchen nicht mehr recht und werden gefühllos; Darm- und Blasenentleerung sind nicht mehr richtig unter Kontrolle (Sympto-me wie bei einer Querschnittslähmung). Die vergleichsweise seltenen Hirnbeeinträchtigungen äußern sich hingegen gewöhnlich als halbseitige Lähmung, ferner in Sprach- und Bewußtseinsstörungen, Persönlichkeitsveränderungen oder Krämpfen.

Noch ist völlig rätselhaft, warum bei zentralnervösen Dekompressionsproblemen das Rückenmark so viel häufiger als das Gehirn betroffen ist. Die cerebralen Probleme jedenfalls rühren, wie es aussieht, von arteriell eingeschwemmten Gasblasen her, die – wie geschildert – unterschiedliche Herkunft haben können. Die spinalen hingegen werden höchstwahrscheinlich durch Blasen verursacht, die sich innerhalb der Rückenmarksubstanz selbst bilden. Dies zeigen Untersuchungen von James Francis von der Royal Navy Großbritanniens sowie von G. Pezeshkpour, Drew Dutka, John Hallenbeck und Ed Flynn vom Medizinischen Forschungsinstitut der US-Marine.

Eine Hypothese, die Unterschiede in der Häufigkeit wie auch im Entstehungsort der Gasblasen zu erklären scheint, geht davon aus, daß das Rückenmark anders als das Gehirn dauernder Bewegung ausgesetzt ist; ähnlich wie in den Gelenken könnten auch hier durch Vakuumeffekte und viskose Adhäsion Blasenkeime entstehen. Überdies ist das Rückenmark gänzlich von einer relativ unelastischen Bindegewebshülle umschlossen. Diese Überlegungen einbeziehend erbrachten 1982 Brian A. Hills, damals an der Universität von Texas in Houston, und Philip B. James von der Universität Dundee (Schottland) experimentelle Indizien, wonach die gebildeten Blasen im Rückenmark den Druck erhöhen und dadurch sekundär den Blutfluß mindern könnten; dies würde den durch das Ausgasen ausgelösten Schaden verschlimmern.


Mehr Sicherheit beim Tauchen

Ein sinnvoller Ansatz der Risikominderung scheint zu sein, die Gefahr des Übertritts von Gasblasen aus dem Gewebe ins venöse Blut zu reduzieren, wodurch auch weniger über die Lunge oder über ein offenes Foramen ovale in den arteriellen Kreislauf gelangen würden. Ein langsameres kontinuierliches Auftauchen zur Oberfläche oder Zwischenstopps in Fällen, für die sie bislang nicht empfohlen wurden, sind womöglich angebracht. In Tierexperimenten bildeten sich weniger Blasen, wenn man den Druck so reduzierte, als stiege ein Taucher mit 9 statt mit 18 Metern pro Minute auf (wie in den alten US-Tabellen empfohlen; nach der Tabelle des französichen Tauchunternehmens Comex sind 12, nach einer anderen, die in der Schweiz entwickelt wurde, 10 Meter pro Minute angebracht).

Einem frei schwimmenden Taucher, insbesondere einem unerfahrenen, fällt es jedoch unter Umständen äußerst schwer, sich so langsam nach oben zu bewegen. Ein vergleichbarer Effekt läßt sich dadurch erreichen, daß man trotz Einhaltung der Nullzeiten beim Auftauchen in etwa 5 bis 6 Metern Tiefe für einige Minuten einen Sicherheitsstopp einlegt. Vor kurzem zeigte Donna Uguccioni, inzwischen beim Divers Alert Network (DAN, dessen europäischer Zweig seinen Sitz in Zürich hat), daß ein dreiminütiger Sicherheitsstopp in 6 Meter Tiefe die venösen Blasen um 50 Prozent vermindert. Überdies dürften ein langsames Aufsteigen und eingelegte Sicherheitsstopps Gewebe mit raschem Gasaustausch – wie Gehirn und Rückenmark – ausreichend Zeit geben, den Übersättigungsgrad und damit die Möglichkeit des Blasenwachstums zu verringern.

Der Partialdruck von gelöstem Stickstoff, der ja die Blasenbildung induziert, läßt sich auch absenken, indem man Sauerstoff in höherer Konzentration als sonst einatmet. Stickstoff diffundiert, wenn sein Partialdruck im Gewebe höher ist als im Gefäßsystem, ins Blut und kann so zur Lunge transportiert und abgeatmet werden. Je größer der Unterschied ist, desto schneller geschieht dies. Das Atmen von reinem Sauerstoff statt von Luft, die ja zu fast 80 Prozent aus Stickstoff besteht, verstärkt dessen Partialdruckgefälle vom Gewebe zum Blut. Selbst wenn sich bereits Blasen gebildet haben, erweist sich Sauerstoff noch als sinnvoll, weil ihre Eliminierung vom Gefälle des Stickstoffpartialdrucks zwischen ihnen und umliegenden Geweben abhängt.

Dieser seit fast einem Jahrhundert bekannte Effekt wird in mehrfacher Hinsicht sowohl unter als auch über Wasser genutzt. Während Sporttaucher fast ausschließlich gewöhnliche komprimierte Luft verwenden, erfordern einige spezielle oder fortgeschrittene Techniken Atemgasgemische mit einem von den üblichen 21 Prozent abweichenden Sauerstoffanteil. Beispielsweise atmet man bei den vorgeschriebenen Dekompressionspausen manchmal eben auch reinen Sauerstoff. Forschungs- und Berufs-, doch auch immer mehr Sporttaucher verwenden sogenannte Nitrox-Mischungen (nach englisch nitrogen und oxygen, Stick- und Sauerstoff) mit 32 oder 36 Prozent Sauerstoff. Dies ermöglicht ihnen, etwas länger in einer bestimmten Tiefe zu bleiben, ohne beim Aufstieg Dekompressionspausen einschalten zu müssen; alternativ kann man damit das für normale Preßluft vorgeschriebene Tauchprofil einhalten, um das persönliche Risiko zu senken.

Mit diesen besonderen Gasgemischen dürfen gewisse maximale Tauchtiefen nicht überschritten werden, weil Sauerstoff, wenn sein Partialdruck darin 1,5 bis 1,7 Atmosphären übersteigt, bedrohliche toxische Wirkungen haben kann; bei einem Nitrox-Gemisch mit 32 Prozent Sauerstoff liegt die Grenze beispielsweise bei ungefähr 37 Metern. Im schlimmsten Fall äußert sich eine solche Sauerstoffvergiftung in generalisierten Krämpfen, durch die dann ein Taucher ertrinken kann.


Berechnung sicherer Tabellen

Üblicherweise ermitteln die für Tabellen und Rechner verwendeten mathematischen Modelle den Partialdruck inerter Gase in verschiedenen Typen von Geweben nach dem Ausmaß der Durchblutung. Es wird dann angenommen, daß die Blasenbildung einsetzt, wenn das Gewebe um einen bestimmten Faktor (in der Regel etwa 2) übersättigt ist. Dieses pseudo-physiologische Modell hatte bereits Haldane vor fast einem Jahrhundert entwickelt.

Sein Ansatz ist zwar im Laufe der Zeit vielfach verfeinert worden, doch immer noch nicht gänzlich befriedigend. Der wohl wichtigste Fortschritt neuerer Konzepte ist, nicht von einer scharfen Trennlinie zwischen sicher und unsicher auszugehen, sondern von einer Wahrscheinlichkeit, mit der sich die Dekompressionskrankheit bei Einhaltung der Vorgaben vermeiden läßt.

Diese Idee unterbreiteten zuerst Paul K. Weathersby, Louis D. Homer und Flynn von der US-Marine Mitte der achtziger Jahre und entwickelten Modelle, mit denen sich diese Wahrscheinlichkeit für jeden gegebenen Tauchgang abschätzen läßt. Um sie aber gut der Realität anzupassen, braucht es detaillierte Aufzeichnungen von vielen hundert Tauchgängen mit Dekompressionsunfällen und gar vielen tausend ohne. Solche Daten sind gewöhnlich nicht leicht und nur mit großem Kostenaufwand zu sammeln; Hilfe könnten aber die Tauchcomputer sein, die inzwischen vielfach bei Unterwasserexkursionen getragen werden; sie verzeichnen das Tauchprofil recht genau und berechnen kontinuierlich den aktuellen Gewebepartialdruck des Stickstoffs (die neueren berücksichtigen auch Atemfrequenz und Temperatur). Die gespeicherten Daten können in Personal Computer an Bord oder an Land eingespeist und zentral ausgewertet und analysiert werden.

Der wahrscheinlichkeitstheoretische Ansatz wird der Wirklichkeit eher gerecht. Wie etwa auch Skilaufen und Autofahren birgt Tauchen stets Gefahren, die zwar minimiert, nicht aber eliminiert werden können. Sicherheit wäre also als jenes Risiko eines Dekompressionsunfalls (ausgedrückt als Wahrscheinlichkeit des Auftretens) zu betrachten, das ein Taucher aufgrund seiner Einschätzung einzugehen bereit ist. Eines Tages sollte man in entsprechend konzipierte Tauchcomputer den persönlich akzeptablen Wert eingeben können, um den Tauchgang demgemäß zu steuern.

Die bestehenden Modelle, wie ausgeklügelt sie auch sein mögen, gehen von einem Standardtaucher aus. Sie sind aber unter Umständen nicht mehr anwendbar, wenn besondere medizinische Verhältnisse oder andere Kriterien zu berücksichtigen wären. Selbst ansonsten gesunde Taucher können für die Dekompressionskrankheit durch Ermüdung, Stress, Infekte und andere Faktoren anfälliger werden.

Es gilt mithin, die bestehenden Modelle auch so weiterzuentwickeln, daß sie sich mehr der individuellen Situati- on anpassen können. Sie hätten dann breitere Gültigkeit. Außer Tauchern würden auch Caisson-Arbeiter, Piloten und Astronauten davon profitieren.

Literaturhinweise


– Barometric Pressure. Von Paul Bert. Undersea and Hyperbaric Medical Society, Bethesda (Maryland) 1978.

– Key Documents of the Biomedical Aspects of Deep-Sea Diving: Selected from the World's Literature, 1608 – 1982. Undersea and Hyperbaric Medical Society, Bethesda (Maryland) 1983.

– The Physiology and Medicine of Diving. Herausgegeben von Peter B. Bennett und David H. Elliott. 4. Auflage. W. B. Saunders, 1993.

– Diving and Subaquatic Medicine. Von Carl Edmonds, Christopher Lowry und John Pennefather. 3. Auflage, Butterworth-Heinemann, 1994.

– Tauchen noch sicherer! Leitfaden der Tauchmedizin für Sporttaucher, Berufstaucher und Ärzte. Von O. F. Ehm, M. Hahn und J. Wenzel. 7. Auflage, Müller Rüschlikon (in Vorbereitung).

– Tauglichkeitsuntersuchung bei Tauchern. Von O. F. Ehm. 2. Auflage, Springer, Heidelberg 1995.Tauchmedizin. Von A. A. Bühlmann. 3. Auflage, Springer, Heidelberg 1993.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1995, Seite 72
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.