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Die positiven Aspekte der Unvollkommenheit

Absolute Perfektion ist unerreichbar. Zwei Resultate aus der Quantenmechanik beziehungsweise der mathematischen Logik haben gezeigt, daß der Beherrschung der Materie und der Suche nach der abstrakten Wahrheit unüberwindliche Schranken entgegenstehen. Die folgenden Beiträge beschäftigen sich mit der Kunst, aus der Not eine Tugend zu machen – einerseits durch Interpretation des Vorhandenen: Die Welt wäre nicht entfernt so interessant, wie sie ist, wenn nicht Symmetriebrechungen eine – hypothetische – perfekt homogene Struktur des Universums gestört hätten und wenn nicht unzählige Kopierfehler die biologische Evolution vorangetrieben hätten. Andererseits bemüht man sich sehr konkret, durch gezielt gesetzte Unvollkommenheiten verschiedenen Materialien Eigenschaften zu verleihen, die sie im perfekten Zustand nicht haben – so weit, bis der Begriff des Fehlers selbst sich auflöst und dem einer neuen Ordnung Platz macht.

Warum nutzten sich die Fahrleitungen, die französische Unternehmen an die japanische Eisenbahngesellschaft geliefert hatten, erheblich schneller ab als die genau gleichen Drähte in Frankreich? Die Fachleute standen vor einem Rätsel – bis einer von ihnen Gelegenheit hatte, eine Gruppe japanischer Arbeiter beim Setzen der Oberleitungsmasten zu beobachten. Während man in Frankreich den vorgeschriebenen Mastabstand von 100 Metern nur ungefähr einzuhalten pflegte, wurde er in Japan exakt ausgemessen. Jeder Drahtabschnitt zwischen zwei Masten wirkt physikalisch wie eine schwingende Saite; wegen ihrer gleichen Längen gerieten die Saiten in Resonanz, es bildeten sich stehende Wellen großer Amplitude, und die dadurch vermehrte Reibung am Stromabnehmer hatte den erhöhten Verschleiß des Materials zur Folge. Das Problem lag also in der Perfektion und seine Lösung in einer gewissen Schlampigkeit.

Zeitliche Periodizitäten können ähnlich fatale Auswirkungen haben wie räumliche Regelmäßigkeiten. Beim Militär ist eine im Gleichschritt marschierende Kolonne Sinnbild für Präzision – allerdings muß mitunter individueller Trott befohlen werden: Die rhythmischen Tritte können nämlich Schwingungen auslösen, die selbst eine starke Brücke zum Einsturz bringen.

Die Wissenschaft lehrt uns, daß einige Unvollkommenheiten einfach in der Natur der Dinge liegen. Nach der Heisenbergschen Unschärferelation der Quantenmechanik ist es unmöglich, Geschwindigkeit und Position eines Teilchens gleichzeitig mit beliebiger Präzision zu messen. Damit müssen wir uns abfinden, selbst wenn es nicht in unser makroskopisches Weltbild paßt. Andere Unvollkommenheiten beruhen auf der geometrischen Unmöglichkeit, Teilchen so anzuordnen, daß jedes einzelne sich im Zustand minimaler Energie befindet. Die Physiker pflegen ein solches Teilchen, das von seinen Nachbarn am Erreichen des angestrebten Zustands gehindert wird, einfühlsam als "frustriert" zu bezeichnen.

Häufig ist ein physikalischer Zustand weniger symmetrisch als die ihm zugrundeliegenden Gesetze: Eine Symmetriebrechung hat stattgefunden (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1991, Seite 14, und Februar 1994, Seite 74). Der weniger perfekte Zustand ist in aller Regel nicht nur energetisch günstiger, sondern auch interessanter.

Ein weiteres Beispiel: Da wir die genauen Ausgangsbedingungen beim Wurf einer Münze nicht kennen, ist es gänzlich unsicher, auf welcher Seite sie landen wird. Diese Unvollkommenheit unseres Wissens ist zuweilen sogar nützlich – auf ihr beruhen einige Gesetzmäßigkeiten der Statistik.

Selbst in der reinsten der Wissenschaften, der Mathematik, muß man mit Unvollkommenheiten leben. Wenn der Versuch einer Berechnung oder eines Beweises in der Praxis scheitert, so weist das häufig auf tieferliegende, prinzipielle Hindernisse oder Schranken hin. Beweismethoden der Mathematik, auf sich selbst angewandt, ergeben, daß manche Berechnungen möglicherweise niemals ein Ende finden und daß eine gewisse Klasse von Behauptungen unentscheidbar ist: Es ist prinzipiell unmöglich, sie zu beweisen oder zu widerlegen (siehe den folgenden Beitrag von Jean-Paul Delahaye).

Andererseits bergen Unvollkommenheiten ein reiches Potential in sich. Ohne Fehler bei der Vervielfältigung der Erbinformation – und damit ohne die Möglichkeit einer Anpassung von Organismen an eine sich verändernde Umwelt – hätte die biologische Evolution nicht stattfinden können (siehe den Beitrag von Louis de Bonis auf Seite 100). Wäre die Materie im Universum unmittelbar nach dem Urknall vollkommen gleichmäßig verteilt gewesen, hätten sich weder Galaxien noch Sterne und Planeten bilden können. Die Ursache dieser Inhomogenitäten liegt noch im dunkeln; aber ohne sie würden wir zweifellos nicht existieren.

Auch in der Medizin ist es gelegentlich hilfreich, auf Perfektion zu verzichten. Ein natürliches Substanzgemisch kann ein wirksameres Medikament sein als dessen mit aller Perfektion synthetisierte Hauptkomponente (siehe den Beitrag von Pierre Potier auf Seite 99). Die moderne Technik nutzt ebenfalls Unvollkommenheiten, insbesondere um Werkstoffe mit spezifischen Eigenschaften zu gewinnen. Erst durch das gezielte Einbringen bestimmter Verunreinigungen, das sogenannte Dotieren, vermag man aus reinem Silicium die hochintegrierten Schaltkreise der Mikroelektronik herzustellen; desgleichen müssen Supraleiter der Klasse II (siehe den Beitrag von Jean-Philippe Bouchaud auf Seite 111) und eine Fülle von Spezialwerkstoffen in diesem Sinne schmutzig sein. Indem man Metallatome unter großem Aufwand daran hindert, den geordneten kristallinen Zustand anzunehmen, gewinnt man weitgehend amorphe Materialien, sogenannte metallische Gläser, mit interessanten technischen Eigenschaften (siehe den Beitrag von Hans-Rainer Hilzinger und Hans Warlimont auf Seite 108). Ein Polymer mit glasartiger Struktur, eingebettet zwischen zwei Metallschichten, unterdrückt eine häufig unerwünschte Eigenschaft kristalliner Strukturen: die Fähigkeit zu lautstarken Vibrationen (siehe meinen Beitrag auf Seite 113). Und echte Gläser, die eigens mit äußerst schlechter Haltbarkeit hergestellt wurden, dienen als Sensoren für den Denkmalschutz (siehe den Beitrag von Dieter Fuchs auf Seite 102).

Einer Legende zufolge pflegten die Baumeister hinduistischer Monumente deren Symmetrie durch einen absichtlich eingebauten kleinen Fehler zu stören – um die Mißgunst der Götter nicht zu erregen (Bild). Eine perfekte Symmetrie würde auch steril wirken, während bewußt eingefügte Unvollkommenheiten ein Werk gleichsam zum Leben erwecken. In der Wissenschaft wie in der Kunst entsteht die Perfektion des Ganzen aus der kontrollierten Unvollkommenheit im Kleinen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1994, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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