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„Die reale Welt beginnt das Netz aufzusaugen“

Das Internet und andere Kommunikationsnetze wachsen unaufhaltsam. Um nützliche Informationen zu angeln, tauchen wir zunehmend in ein Meer multimedialer Daten ein. Müssen wir dabei nicht fürchten zu ertrinken? Die Berliner Kommunikations-wissenschaftler Prof. Dr. Axel Zerdick und Dr. Ulrich T. Lange sowie die Soziologin Dr. Ute Hoffmann geben Auskunft darüber, wie wir im Globalen Dorf leben werden.

Inwieweit verändert das Globale Dorf der Zukunft unser reales Bürgertum?

Prof. Dr. Axel Zerdick: Für Marshall McLuhan, der diesen Begriff prägte, war das „Globale Dorf“ immer auch eine Schreckensvision, denn „Dorf“ bedeutete für ihn soziale Kontrolle. Die heutige Bewunderung dieses Begriffs übertreibt die Bedeutung virtueller Beziehungen. Eine elektronische Brieffreundschaft per E-Mail beispielsweise ist 12-14jährigen angemessen. Viel wichtiger ist aber, daß real existierende Probleme von der globalen Gesellschaft besser gelöst werden können – natürlich auch mit Hilfe technischer Mittel wie dem Internet.

Dr. Ulrich T. Lange: Ein Stichwort in diesem Zusammenhang ist „Glocation“: Das Globale und das Lokale wachsen auf eine völlig neue Weise zusammen. Das Globale inspiriert mich, mein regionales Umfeld anders zu erleben. Mit einem Schwulen in Los Angeles verbindet einen Homosexuellen in Berlin mehr in Bezug auf Lebensart als mit einem Bauern aus Brandenburg. Statt Nationalstaaten haben wir heute weltweite Geschmacksgemeinschaften. Auf der anderen Seite steht die Re-Nationalisierung des Internets bevor: Per Internet werden bei einem größeren Nutzerkreis auch „Normalbürger“ angesprochen, die dann neue Ansprüche aus ihrem sprachlichen und kulturellen Umkreis entwickeln.

Was macht den Sozialraum Internet aus und wie verändert er sich zur Zeit?

Dr. Ute Hoffmann: In den Anfängen des Internets gab es einen bindenden sozialen Kodex – die Netiquette mit ihrer Grundüberzeugung, daß der Adressat am Ende der Datenleitung als realer Mensch zu behandeln ist. Den Sozialraum Internet zeichnete das Empfinden aus, an etwas teilzuhaben, das neu und kostbar ist. Dazu gehörte es auch, daß man der Gemeinschaft etwas kostenlos zur Verfügung stellte. Heute entwickelt sich das Internet zu einem Informationsmedium, und die Nutzungsformen nähern sich eher der Realwelt an. Doch im Internet wird es keine Instanzen geben, die den Individuen das Filtern der Wirklichkeit abnehmen. Die Menschen müssen dies selbst tun – durch das Ausblenden von Information, das Setzen von Prioritäten und durch technische Fertigkeiten.

Wozu führt die Körperlosigkeit im Internet?

Hoffmann: Dies fördert den spielerischen Umgang mit der eigenen Identität. Beispielsweise fällt die Wahrnehmung des Geschlechts weg, Frauen sind initiativer. Früher war die Bereitschaft höher, diesen Spielraum auszunutzen, man benutzte nur Tarnnamen und kommunizierte eher eine Weltanschauung. Heute geben die Menschen unter ihrer E-Mail realweltliche Adressen und Telefonnummern an. Die Realwelt saugt das Netz quasi auf.

Verdrängt die zunehmende Kommerzialisierung den Sozial- und Kulturraum Internet?

Hoffmann: Die Kommerzialisierung ist sehr lästig. Es wurden noch keine guten Wege entwickelt, um Aufmerksamkeit im Internet zu erreichen, ohne die Nutzer zu belästigen. Andererseits unterstützt die Kommerzialisierung auch neue Angebote wie die Suchmaschinen, die ohne Werbefinanzierung nicht denkbar wären.

Zerdick: Der kommerzielle Teil wächst sicher, aber die nichtkommerzielle Nutzung ebenso. Die Selbstdarstellung nichtkommerzieller Organisationen ist im Internet leichter und zielgerichteter. Das Internet ermöglicht es, daß mehr Menschen einfacher, spontaner und kreativer Texte und Informationen zur Verfügung stellen.

Lange: Die Kommerzialität des Angebotes verbindet sich ja häufig auch mit einer größeren Professionalität, und diese wird vom Anwender sogar ganz gezielt gesucht. Noch aber sind die Angebote im Internet nicht profitabel, denn wir müssen die Schwelle zwischen dem reinen Zusammenwachsen der Medien und einer qualitativ neuen Angebotskultur erst überschreiten.

Welche Normen braucht die weltweite Informationsgesellschaft?

Lange: Bei einem Vortrag auf einem Kirchentag habe ich ein Tamagotchi auf mein Rednerpult gelegt, es zum Leben erweckt, eine emotionale Bindung zum Publikum geschaffen – und es dann mit einem Hammer erschlagen. Die Menschen waren zu Recht empört, denn ich habe einen aufkeimenden Organismus zerstört. Ich wollte mit diesem provokativen Akt nur zeigen, daß wir uns, wenn Computer immer mehr zu quasi intelligenten Bestandteilen unseres Lebens werden, neue Schutzmechanismen und Regelsysteme überlegen müssen. Dann gibt es kriminelle Kriterien wie „Computernötigung“ und „Computermord“. Es muß ein globales Recht auf geschützte technische Kommunikation und Interaktion geben.

Zerdick: Der geforderte Wertekonsens existiert bereits zu großen Teilen. Es gibt ein gemeinsames kulturelles Gefühl von Anstand und Geschmack. Sanktionen können auch für das Internet funktionieren, ein gutes Beispiel sind die Anti-Spam-Gesetze in den US-Bundesstaaten Oregon und Washington. Dort kann seit kurzem jeder Schadensersatz fordern, der sich durch unerwünschte Werbe-E-Mails belästigt fühlt – der erste bekanntgewordene Fall hat zu einer Zahlung von 200 Dollar für eine einzige Belästigung geführt.

Läßt sich denn das Internet überhaupt mit nationaler Rechtsprechung reglementieren?

Hoffmann: Derzeit zeichnet sich keine Institution ab, die eine Internetgesetzgebung entwickeln und durchsetzen könnte. Die Kommunikations-Protokolle haben für mich den Status von De-facto-Gesetzen, die technischen Gegebenheiten bestimmen die Regeln: Das Internet-Protokoll sieht eben vor, daß strukturelle Dezentralität herrscht und es keine Prioritäten im Datenfluß gibt.

Welche Normen werden im Internet den Menschen in seinen Grundrechten schützen – in Bezug auf Daten- und Jugendschutz sowie den Schutz geistigen Eigentums?

Lange: In Analogie zum Begriff der Menschenrechte wird sich ein neues übergeordnetes technikorientiertes Rechtsinstitut entwickeln. Die Konsequenz: Es muß eine international verbindliche Charta der Computerrechte geben, denn Technikschutz ist Menschenschutz. Dem Mißbrauch von Kundenbeziehungen im Internet kann dadurch vorgebeugt werden, daß der Verbraucherschutz in Analogie zu konventionellen Abonnements und Ratenkäufen geregelt wird. Der Käufer im Netz muß, nach einer schriftlichen Benachrichtigung, innerhalb eines bestimmten Zeitraums von seiner Bestellung vollständig zurücktreten können. Die Lieferung von physischen Produkten, aber auch von Daten und Software, hat innerhalb dieser Frist auf eigene Gefahr durch den Verkäufer zu erfolgen. Nur für die virtuellen Produkte, die just-in-time verbraucht werden, sind neue Verfahren wie die elektronische Signatur erforderlich.

Hoffmann: Beim Thema Grundrechte ist der Zugang aller das Wichtigste, der muß gesichert sein. Daß der Mensch im Netz gläsern ist, das ist technisch bedingt. Es lassen sich aber Mechanismen entwickeln, die die Datenspuren wieder unsichtbar machen. Zum Jugendschutz: Da gibt es bereits Filter, die funktionieren und die Kontrolle bei der Empfängerseite ansetzen lassen. Ebenso haben aber auch die Provider eine Verantwortung, illegale Angebote auszuschließen.

Zerdick: Die im Internet entstehenden Datenspuren müßten eigentlich der Traum jeden Diktators sein ... Unsere eigene Bequemlichkeit führt dazu, daß Daten über uns angehäuft werden. Hier auf Selbstregulierung des Internets zu setzen, ist falsch. Zum Beispiel müssen Produktrecherche und Bestellung entflochten werden. Es wird für alle im Internet eingesetzten Computer Datenschutzregelungen geben müssen, und so etwas wie eine Gewerbepolizei im Datennetz.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1999, Seite 128
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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